Das Öl, die Macht und Zeichen der Hoffnung. Klaus Stieglitz
Beschreibung dieses Sumpfs dokumentierte der römische Geschichtsschreiber Seneca. Es ist die früheste bekannte Erwähnung des Sudd (stammt vom Arabischen Sadet = Barrie-re, Staudamm) im Südsudan, der bis heute bei einer Größe von knapp sechs Millionen Hektar zu den größten zusammenhängenden tropischen Feuchtgebieten der Erde zählt.
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Seit Mai 1847 befindet sich der 18-jährige Ornithologensohn Alfred Brehm als Sekretär und Gehilfe des schwäbischen Naturforschers Johannes von Müller auf einer Expedition durch Afrika. Von Ägypten aus wollen sie den gesamten Kontinent durchqueren und dessen Tierwelt erforschen. Im Januar 1848 kommen die Forscher im Sudan an. Seit zehn Jahren beherrscht von Ägypten aus das osmanische Reich die Region. Für seine Reiseaufzeichnungen beobachtet Brehm auch die Menschen, denen er auf seinen Reisen begegnet. Besonders bewegt ihn der im Sudan weit verbreitete Sklavenhandel. Das harte und skrupellose Vorgehen der im Sudan lebenden Europäer gegen die sudanesischen Sklaven findet er unerträglich. Einmal sieht er einen Transport von Sklaven aus dem Süden des Landes ankommen. Der Zustand der dunkelhäutigen Menschen aus der Volksgruppe der Dinka bewegt den jungen Brehm tief: »Der Anblick war schauderhaft. Keine Feder kann ihn beschreiben. Mir hat er wochenlang wie ein Bild des Schreckens vor der Seele gestanden. Es war der 12.Januar 1848.«1 – »Das unglückliche Los, als verkäufliche Ware betrachtet zu werden, trifft die Völkerstämme Abessiniens, die Galla, Schoa, Makate, Amhara (…) die Schilluk, Dinka, Takhallaui, Darfuri, Scheibuni, Kik und Nuer.«2
Brehm schildert Gewalt und Gegengewalt. Er erklärt, mit welcher Rücksichtslosigkeit weiße Menschen die Völker Schwarzafrikas auch mit dem Mittel der Sklaverei unterjochen. Es wundert ihn nicht, dass diese Völker mit ausgeprägter Feindseligkeit reagieren. Diese Feindseligkeit, für die der junge Brehm vollstes Verständnis hat, macht dem Forscher die Weiterreise in den Süden des Landes praktisch unmöglich. So konstatiert er geradezu resigniert: »Die Sklavenjagd ist es, die dem Forscher den Weg ins Innere Afrikas verschließt.«3
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1857 bereist der katholische Geistliche Daniele Comboni mit fünf weiteren Missionaren erstmals Afrika und gelangt in den südlichen Sudan. Das Elend und die Versklavung der schwarzen Afrikaner veranlassen ihn zur Gründung eines Missionswerks. Sein Hauptziel ist der Kampf gegen die Sklaverei, sein missionarischer Ansatz kann moderner kaum sein: »Afrika durch Afrika retten.«4 Gegen große Widerstände der eigenen Kirche beteiligt er Laien und Frauen an der Missionsarbeit.5 Der größte Unterschied zu bisherigen Missionsansätzen ist jedoch, dass Comboni die Afrikaner als mündige und selbstverantwortliche Partner respektiert, die ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen vermögen. Die Europäer dürfen unterstützen und lehren, aber nicht bevormunden und nach europäischem Vorbild formen, lautet einer seiner Grundsätze.6
Das Missionswerk wird ein großer Erfolg. Die Kulturen der im Südsudan lebenden Völker sind aufgeschlossen für die Gottesvorstellungen der Christen. Bis heute ist der südliche Sudan von Naturreligionen und dem Christentum geprägt, im Gegensatz zum überwiegend islamischen Nordsudan.
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Am 11. Juni 1955 wird um 16 Uhr in Le Mans das berühmte 24Stunden-Rennen gestartet. Die Witterung ist sommerlich schwül, ein Gewitter liegt in der Luft. Am Horizont ziehen dunkle Wolken auf, doch noch scheint die Sonne.
Über 200 000 Zuschauer säumen die 13 Kilometer lange Rennstrecke, deren Piste an normalen Tagen dem ganz gewöhnlichen Straßenverkehr dient. Die lange Gerade etwa ist Teilstück der Verbindungsstraße zwischen Le Mans und Tours. Hier erreichen die schnellsten Fahrzeuge Geschwindigkeiten von fast 300 Stundenkilometern. Während der Rennen sind diese Plätze am beliebtesten. Von den »Populaires« aus, den billigen Stehplätzen vor den teuren Tribünen, haben die Fans den besten Blick auf die Startplätze und die Boxen. Das Gebrüll der Rennleiter und Mechaniker dringt zur Menge herüber, der Geruch von Treibstoffen, Kupplungs- und Bremsabrieb schwängert die Luft. Dicht gedrängt stehen hier Tausende von Menschen, direkt an der Rennstrecke und nur durch eine knapp ein Meter hohe Einfriedung aus Stroh und Holzlatten von der Fahrbahn getrennt. Es herrscht Volksfeststimmung. Das Rennen ist ein weltweites Medienereignis, zahllose Medien sind vor Ort, viele Sender berichten live. Für die Wochenschauen der Kinos wird in Farbe und Cinemascope gedreht.
147 Minuten nach dem Start nähern sich mehrere Wagen dem schmalen Streckenabschnitt vor den Tribünen. Das Publikum reckt die Hälse, denn die in Führung liegenden Fahrer sind dabei. Der Brite Mike Hawthorn im Jaguar und die beiden Silberpfeile liefern sich ein packendes Rennen. Jaguar und Mercedes kämpfen um den Sieg bei der WM der Fahrer und der Marken. Mercedes muss in Le Mans gewinnen, um sich noch Chancen auf den Titel zu erhalten.7 Vordergründig geht es um Prestige und zukünftige Kaufanreize für die Kunden der Serienfahrzeuge. Ein Sieg in Le Mans zeigt die technische Überlegenheit der eigenen Produkte im beginnenden Boom der Automobilindustrie. Eine unschätzbare Werbung.
Es ist aber auch, zehn Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs, ein Stellvertreterkrieg zweier Nationen.8 Mike Hawthorn ist für seinen Nationalismus berüchtigt. Im Vorfeld des Rennens kündigte er an, sich niemals Deutschen geschlagen geben zu wollen. Sein Jaguar D-Type ist an der Seite mit dem Hoheitszeichen der britischen Armee bemalt. Ganz vergessen ist noch nicht, dass die Mercedes-Silberpfeile einst bis zum Beginn des Krieges zu Propagandazwecken für die Nationalsozialisten unterwegs waren.9 Die Nazis waren Hauptgeldgeber der Silberpfeile.10 Millionen Subventionen flossen an die Rennsportabteilung des Stuttgarter Autoherstellers.11 Der Automobilrennsport diente als »eine Art mentales Rüstungsprojekt zur Vorbereitung des Krieges«.12 Das Team um den Rennleiter Albert Neumann, das schon vor dem Krieg so erfolgreich war, hat nach dem Krieg mit demselben Personal dort angeknüpft, wo man kriegsbedingt aufhören musste, nun allerdings »demokratisch gewendet«, wie der ZDF-Historiker Guido Knopp Jahrzehnte später formuliert.13
Der Mercedes-Vorstand hatte dazu klare Zielvorgaben gemacht. Fokus der Bemühungen war die Doppelweltmeisterschaft in der Formel 1. Für das ambitionierte Programm wurden umfangreiche Mittel zur Verfügung gestellt. Das Personal der neuen Rennsportabteilung wuchs auf über 200 Leute an. Darüber hinaus standen weitere 300 Spezialisten aus anderen Abteilungen von Mercedes als Berater zur Verfügung.
Innerhalb von vier Jahren entwickelte das Mercedes-Team aus veralteten Vorkriegsmodellen neue Rennwagen. 1954 starteten die neuen Silberpfeile in ihre erste Grand-Prix-Saison; gleich beim ersten Start, dem Grand Prix von Frankreich, schrieben sie Geschichte. Am 4. Juli 1954, dem Tag, an dem in Bern die deutsche Fußballmannschaft Weltmeister wurde, errang das Mercedes-Team auf der Rennstrecke von Reims einen sensationellen Doppelsieg. Mitten in der Saison war Mercedes in die WM eingestiegen, Reims war der erste Start. Für manche Deutsche wurde der Tag zu einem Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Zeit der Schande und der Bedeutungslosigkeit war vorbei: Endlich war man wieder wer.14 Eine englische Zeitung titelte: »Der Tag for Germans«.15
Auch bei der Sportwagenweltmeisterschaft reüssierte das Mercedes-Team seit 1954. In einem Mercedes-Werbefilm von 1954/55, der im angelsächsischen Raum unter dem Titel »Pioneers of Progress« gezeigt wurde, symbolisierte das Aufziehen der schwarz-rot-goldenen Flagge für den Sieger nach dem großen Sieg in Frankreich das verbindende Element aller Bemühungen der beteiligten Mercedes-Mitarbeiter.16
Die britische Presse wird noch bis weit in die 1980er-Jahre hinein kriegsbedingt anti-deutsche Ressentiments pflegen. Nicht nur Mike Hawthorn verstand das Duell auf der Rennpiste als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.17 Wie er das »no surrender« am Steuer umsetzt, konnten die Zuschauer in Le Mans an diesem 11.Juni 1955 schon seit Rennbeginn beobachten. Zweimal ignorierte der junge Brite die Zeichen seines Teams, zum Tanken an die Box zu kommen. Er will offenbar um keinen Preis seine Führung verlieren.
Ein solches Spektakel gab es auf der Rennstrecke zu so einem frühen Zeitpunkt noch nie. Dichtauf hinter Hawthorn liegt Juan Manuel Fangio. Der legendäre Argentinier hat schon eine unglaubliche Aufholjagd hinter sich. Nach einem miserablen Start ist es ihm in einer halsbrecherischen Vollgasfahrt gelungen, zwei Runden Rückstand aufzuholen. Nun sitzt er mit seinem Mercedes-Boliden dem Briten im Nacken. Die durchschnittlichen Rundenzeiten