Das Öl, die Macht und Zeichen der Hoffnung. Klaus Stieglitz
wurden von den beiden Führenden bereits überrundet. Sinnvoll ist das Duell zu diesem Zeitpunkt noch nicht: Das 24-Stunden-Rennen dauert noch keine zweieinhalb Stunden.
Auch auf der Geraden liegen wieder langsamere Wagen vor ihnen. Rechts fährt mit einer Geschwindigkeit von 190 Stundenkilometern der Brite Lance Macklin in einem Austin Healey. Von hinten kommt der auch schon überrundete zweite Silberpfeil mit Pierre Levegh am Steuer, der ebenfalls am langsameren Austin vorbeiziehen will.
Mercedes hat einen PR-Coup gelandet mit der Verpflichtung des in Frankreich überaus populären Amateurfahrers Levegh. Es soll ein Zeichen der Versöhnung sein, dass ein Franzose neben Stars wie Fangio und Stirling Moss beim bedeutendsten Rennen in Frankreich für das sieggewohnte Team aus Deutschland fahren wird.18 Zugleich holt man sich mit dem fast 50-jährigen Pariser Juwelier einen in Le Mans schon überaus erfahrenen und erfolgreichen Piloten ins Team. Levegh war 1952 allein die volle Rennzeit durchgefahren und hatte bis kurz vor dem Ziel wie der überlegene Sieger der 24 Stunden von Le Mans ausgesehen. Fünfzehn Minuten vor dem Ende des Rennens hat ihn ein Getriebeschaden um den sicheren Sieg gebracht. Moralisch war Levegh seither der Held von Le Mans und ein Publikumsliebling.
Mit derselben Geschwindigkeit wie der führende Hawthorn im Jaguar prescht der Franzose ganz links heran. Macklin hält sich rechts. Kurz vor der Boxengasse überholt Hawthorn seinen Landsmann Macklin auf der mittleren Spur, schert dann nach rechts aus und setzt sich vor den Austin Healey. Doch statt weiter davonzuziehen, bremst er scharf ab, um nach rechts zum Tanken vor die Boxen zu fahren. Mit dem Bremsmanöver löst er eine entsetzliche Kettenreaktion aus. Nur der Jaguar verfügt schon über Scheibenbremsen, der Austin mit seinen Trommelbremsen hat einen viel längeren Bremsweg. Macklin wird zu einem abrupten Ausweichmanöver gezwungen, um einer Kollision zu entgehen. Er zieht seinen Wagen nach links und gerät in die Fahrspur des von hinten mit einem Tempo von 240 Stundenkilometern heranrasenden Silberpfeils von Pierre Levegh. Levegh touchiert den linken hinteren Kotflügel des Austins. Wie von einer Abschussrampe abgefeuert, schießt der Mercedes schräg nach links oben, prallt auf eine Betonmauer und wird von da auf die Absperrung katapultiert, die Zuschauer und Fahrbahn trennt. Levegh wird herausgeschleudert und stirbt noch am Unfallort. Der Wagen zerschellt und fängt sofort Feuer. Achsen, Räder, Bremsen- und Karosserieteile schießen mit ungeheurer Beschleunigung in die dicht gedrängte Menschenmenge. Die Zuschauer auf den Stehplätzen in diesem Bereich werden von den herumfliegenden Trümmerteilen umgemäht, Köpfe, Arme, ganze Rümpfe abgetrennt: Bilder des Grauens.
Macklins Austin gerät durch die Kollision mit dem Silberpfeil ins Schleudern und schlittert zunächst auf die Boxen zu, wo drei Menschen überfahren werden, und wird dann quer über die Fahrbahn gegen die Absperrung vor der Tribüne geschleudert, wo er zum Stehen kommt. Macklin kann sich selbst aus dem Wrack befreien.
Vier Sekunden dauert der bis heute schlimmste Unfall, den es im Automobilrennsport je gab. Den deutschen und französischen Fernsehzuschauern bleiben Live-Bilder der entsetzlichen Katastrophe nur erspart, weil die Sender am späten Nachmittag die Direktübertragung des Rennens programmgemäß für andere Sendungen unterbrachen.19 Aufgenommen wird das Grauen dennoch in allen Einzelheiten: Zwei Reporter des französischen Fernsehens drehten mit einer 16-Millimeter-Schmalfilmkamera gerade »Schnitte« für die spätere Berichterstattung. Als der Unfall geschieht, fangen die französischen Kameraleute gerade Szenen vor den Boxen20 ein, die die Rennatmosphäre vermitteln sollen. Sie richten ihre Kamera nach dem Aufprall von Leveghs Silberpfeil sofort auf das Unfallgeschehen. Die Bilder, die sie aufnehmen, sind so grauenvoll, dass später nur einige Ausschnitte gezeigt werden.
84 Menschen starben, hundert wurden verletzt, Hunderte, wenn nicht Tausende traumatisiert. Dennoch: Die Tausende Zuschauer an anderen Stellen der Rennstrecke bekamen von der Katastrophe so gut wie nichts mit. Unfälle gehörten zum Alltag der Autorennen. Die Gefahr für die Fahrer, die bei den waghalsigen Manövern und technischen Grenzen der Fahrzeuge ständig gegenwärtig war, hatte einen besonderen Reiz für die Zuschauer. Erst das machte wohl einen Großteil des Prickelns des Geschwindigkeitsrausches aus. Verunfallte Fahrzeuge, tote Fahrer, Rauchsäulen brennender Wagen zählten und zählen zum besonderen »Flair« des Automobilsports. Nach dem Unfall werden in Le Mans zwar langsame Runden verfügt, das Rennen aber nicht angehalten. Nach kurzer Zeit wird der Kurs wieder freigegeben. Das Rennen geht weiter. Vom Ausmaß der Katastrophe erfahren die meisten Menschen erst am folgenden Tag aus der Zeitung.
Juan Manuel Fangio entkam dem Inferno unbeschadet. Pierre Levegh habe ihn noch mit einem Handzeichen auf die Gefahrensituation aufmerksam gemacht, wird Fangio später berichten – der Franzose sei sein Lebensretter. Der mit Heldengeschichten von Wagemut und Kameradschaft reich gesegnete Automobilsport erhielt eine weitere Legende.
Und noch eine Legende entsteht: Jahrzehntelang wird in der öffentlichen Wahrnehmung der Unfall von Le Mans mit dem Ende der Silberpfeile verbunden. Alle anderen Teams setzten in Le Mans das Rennen fort. Nur Mercedes entschied noch in der Nacht zum 12. Juni 1955, sein Team zurückzuziehen. Wenige Tage nach der Katastrophe verkündet Mercedes-Boss Fritz Könecke den kompletten Rückzug von Mercedes aus dem Rennsport. Menschenleben seien den sportlichen Erfolg und das damit verbundene Prestige nicht wert, kann daraus als Botschaft verstanden werden. Abgetreten war ein Gigant, der – kaum wieder angetreten – den Rennsport dominiert hatte. Die hochgesteckten Ziele des Vorstands wurden quasi im Handumdrehen erreicht. Der in der Vorkriegszeit erlangte Nimbus der Silberpfeile wirkte ungebrochen fort. Er überdauerte auch die Rennsport-Abstinenz seit 1955. Seither fehlte den Autorenn-Aficionados ihr Silberpfeil, fast so, als seien die Ergebnisse aller folgenden Rennen immer nur relativ, weil ja kein Silberpfeil dabei war.
Die Entscheidung, sich aus dem Rennsport zurückzuziehen, beruhte jedoch vorwiegend auf wirtschaftlichen Erwägungen. Tatsächlich hatte Mercedes schon vor Beginn der Rennsaison 1955 beschlossen, die Rennsport-Aktivitäten einzustellen. Man wollte die finanziellen Mittel, die der Rennsport verschlang, nun für die Entwicklung der Serienfahrzeuge einsetzen.21
Mercedes hatte sein Engagement im Rennsport selbst finanziert. Sponsoren gab es im Autorennsport erst, seit 1968 das Verbot von Werbung auf den Wagen abgeschafft wurde22
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Einen Monat nach dem Unglück von Le Mans kommt es im Süden des Sudans zu einem gewaltsamen Aufstand. Am 18. August 1955 beginnen in der kleinen Garnisonstadt Torit nahe der Grenze zu Uganda südsudanesische Soldaten des dort stationierten Equatorial Corps der britischen Kolonialarmee Sudan Defence Army eine Meuterei. Die südsudanesischen Soldaten weigerten sich, den Standort den nordsudanesischen Soldaten zu überlassen. Der Aufstand richtete sich gegen die befürchtete Unterdrückung südsudanesischer Interessen bei der bevorstehenden Entlassung der noch unter britisch-ägyptischer Herrschaft stehenden Gebiete Nordsudan und Südsudan in die staatliche Unabhängigkeit am 1. Januar 1956.
Seit Bestehen des britisch-ägyptischen Kondominiums unter Einschluss des Sudans wurde der Nordsudan von einer britisch-ägyptischen Administration gemeinsam verwaltet, der südliche Sudan hatte eine britische Kolonialverwaltung.23
Als 1922 die Ägypter zum Verlassen des Landes gezwungen wurden, führten die Briten im Nordsudan eine Form der indirekten Herrschaft ein.24 Unter Aufsicht britischer Verwalter bedeutete das auf lokaler Ebene Selbstverwaltung.25 Hintergrund war, dass die Briten Verwaltungskosten sparen wollten.26 Die Briten sprachen von Modernisierung.27 Den Süden beurteilten die Briten als noch nicht reif genug für eine Modernisierung und richteten eine eigene Verwaltung ein.28 Damit betrieben sie de facto eine Abschottungspolitik, die den Süden isolierte.29 Im Ergebnis wurde die kulturelle, ethnische und sprachliche Aufspaltung des Gesamtsudan verfestigt.30
Wirtschaftlich hatte es der Nordsudan durch den Baumwollhandel zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Unter britischem Einfluss wurden Bildungssystem, Infrastruktur und Gesundheitswesen ausgebaut. Die arabisch geprägte Bevölkerung entwickelte Vorstellungen von politischer Teilhabe und deren staatlicher Ausprägung. Seit dem Ende des 1.Weltkriegs wuchs im Nordsudan der Nationalismus.31 Hier – wie auch in den arabischen Regionen, die erst im 1.Weltkrieg als Verbündete der Franzosen, Briten und Amerikaner die 500-jährige Herrschaft der Osmanen beendet hatten – erhielten muslimische Sekten großen Zulauf. Und auch hier war das Ziel die staatliche Unabhängigkeit. Ganz klar war, dass aus Sicht der Nordsudanesen der zukünftige Staat islamisch bleiben sollte.32Aber