Die Mistel. Annette Bopp

Die Mistel - Annette Bopp


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zu wachsen. Dabei vernichteten sie das Vermögen und manchmal sogar die Existenz derjenigen, die sie »ernährt« haben! Wenn wir auf die Wirtschaftsnachrichten blicken, dann lesen wir ständig von Firmen, die sich ohne Rücksicht auf Verluste durchsetzen, die Verdrängungswettbewerb um jeden Preis betreiben, sich um keine sozialen Zusammenhänge mehr kümmern, sondern nur noch um ihren Ertrag und um den »shareholder value«. Auch sonst haben wir Isolationsphänomene: Die Menschen sind immer weniger bereit, sich Gemeinschaften anzuschließen, ob das nun die Kirche ist oder die Gewerkschaften, die Parteien oder ein Verein – der größere Zusammenhang wird nicht mehr gesucht. Auch im Privaten ist das so: Singles, Paare oder maximal die Kleinfamilie sind der moderne Lebensstil, Großfamilien haben ausgedient.

      Warum ist es überhaupt möglich, daß eine Krebszelle entsteht, daß sich also eine Zelle aus dem Gesamtzusammenhang löst und sich nicht mehr in ihn einfügt?

      JS: Weil die Kräfte, die die Zellen differenzieren und in ihrem biologischen Verhalten integrieren, zu schwach sind. Die konventionelle Medizin lehrt, daß genetische Schäden, krebserregende Schadstoffe oder Viren Fehlregulationen in der Zelle auslösen. Aber: Wenn beispielsweise bei Frauen genetisch die Veranlagung für Brustkrebs gegeben ist, erkrankt nur ein Drittel von ihnen wirklich daran, und drei Viertel der Kettenraucher bekommen keinen Lungenkrebs. Es müssen also noch weitere Faktoren eine Rolle spielen, die Krebs entstehen lassen. In der Anthroposophischen Medizin fragen wir uns deshalb: Welche Kräfte gibt es denn sonst noch, die differenzieren und integrieren? Und die Antwort lautet: Seelisches differenziert, Geistiges integriert. Wenn diese Kräfte über Jahre hinweg zu schwach sind, dann ist – ob mit oder ohne äußere Faktoren – der Boden für Krebs bereitet.

      Was heißt das konkret? Worin zeigen sich seelische und geistige Kräfte?

      JS: Seelisch differenziert ist ein Mensch, wenn er sich für vieles in der Welt interessiert, vieles erlebt und Impulse daraus aufnimmt. Diese Erlebnisse muß er geistig integrieren, indem er sie innerlich verarbeitet. Dazu ist es notwendig, daß er sich mit Hilfe seiner Ich-Kräfte mit den Dingen aktiv verbindet, sie im Verstehen durchdringt, sie bewertet und Einzelnes in einen sinnvollen größeren Zusammenhang bringt. Differenzieren und Integrieren sind Aktivitäten, die in unserem Leben ständig vorhanden sein müssen – körperlich ebenso wie sozial und gesellschaftlich. Und wenn diese Aktivität über Jahre hinweg nachläßt oder nicht (aus)geübt wird, dann entstehen Inseln der Vereinzelung und Isolation. Für die Integration auf körperlicher Ebene ist vor allem Wärme nötig. Warum? Weil sie Gasförmiges (Luft), Flüssiges (Wasser, Blut, Lymphe) und Festes (Knochen, Muskeln, Sehnen) gleichermaßen durchdringt und alle auf eine Temperatur bringt. Sie kann also ganz unterschiedliche Materien miteinander verbinden mit dem Ziel, daß daraus eine Ganzheit wird. Wärme hält den ganzen Menschen zusammen! Warme Organe sind gut durchblutet und haben einen gesunden Stoffwechsel. Wenn die Wärme von Kälteinseln durchsetzt ist, sind die Vorgänge nicht mehr physiologisch homogen. In unserer Zeit gibt es viele Kälteinseln – gesellschaftlich und physisch. Viele Menschen sind heute nicht mehr von Kopf bis Fuß durchwärmt. Die bauchfreie Mode – so nett sie aussieht! – ist dafür nur ein kleines Beispiel. Und jeder will möglichst »cool« sein! Im Zwischenmenschlichen gibt es aber keine Nähe ohne Wärme. Wärme ist also eine elementare Notwendigkeit. Alles, was an Signalen vom Organismus für die Zelle ausgeht, braucht Wärme, um von ihr verstanden zu werden. Wenn ich seelisch jahrelang immer wieder verletzt und gekränkt werde, besteht die Tendenz, innerlich zu erkalten. Ein chronischer Mangel an Wärme kann das Entstehen von Krebs also durchaus fördern.

      Warum wird eine Krebserkrankung immer gleich als Todesurteil empfunden, ein Herzinfarkt aber nicht?

      JS: Im Tierreich ist der Krebs ein Lebewesen, das sich irgendwo am Grunde des Wassers versteckt. Plötzlich greift es aus diesem Versteck auf etwas anderes Lebendes zu, um es zu töten und sich einzuverleiben. Das heißt: Den Krebs umgibt die Angst, der kann auch mich packen, aber ich merke das nicht oder zu spät. Plötzlich ist er da. Ein Herzinfarkt ereignet sich oft auch sehr plötzlich, aber da entscheidet sich schnell, ob ich ihn überlebe oder nicht. Die Angst bei einem Herzinfarkt ist eine Lebensangst: Ich habe Angst, daß ich mein Leben verliere. Beim Krebs habe ich Todesangst – Angst, daß der Tod mich holt. Ich habe Angst, dem Sterben von jetzt an auf Dauer ausgesetzt zu sein. Diese Angst nährt sich daraus, daß man in sich etwas Fremdes beherbergt, das man nicht wahrnimmt und nicht kennt und das einem den Tod bringt. Man kann diese Angst bei Krebs nur langsam abbauen – nicht sofort. Wenn jemand erfährt, daß er Krebs hat, gerät er erst einmal in Panik, dann ist er erschüttert und voller Angst. Aber wenn er aus dieser direkten Angstphase ein Stück weit raus ist und die Angst auf einzelne Fragen reduzieren kann, schwindet sie langsam immer mehr. Angst ist ja ein Gefühl, das sich auf etwas Unbestimmtes bezieht. Es geht darum, das nicht Faßbare einzugrenzen, um es faßbar zu machen und somit bearbeiten zu können. Also: Wovor fürchtet man sich? Vor der Operation, vor der Chemotherapie und ihren Folgen, vor dem Leiden? Davor, nicht richtig behandelt zu werden? Vor der sozialen Isolation, daß man verlassen wird, daß der Partner die Krankheit nicht mitträgt? Sobald ich die allgemeine Angst, die diese Krankheit zweifellos umgibt, durch Fragen gezielt auf bestimmte Themenreduziere, kann ich die Krebsangst ein gutes Stück besiegen. Die Angst muß in Befürchtungen verwandelt werden, an denen man arbeiten kann, damit sie sich erledigen können.

      Ist Krebs nicht sogar eher eine chronische Krankheit, mit der man sogar gut alt werden kann? Dann stirbt man nicht am Krebs, sondern mit ihm.

      JS: Ja natürlich! Aber nur, wenn ich das so überhaupt denken kann und wenn ich das bis »ins Lebensgefühl« kriege. Von 100 Leuten auf der Straße werden 98 sagen, daß Krebs und Sterbenmüssen unmittelbar zusammenhängen. Daß man, wenn man die Diagnose Krebs bekommt, sehr bald sterben muß. Und diese Grundangst wird gesellschaftlich massiv gefördert und verbreitet. Das Entscheidende ist aber doch: Wie werde oder bleibe ich trotz der Belastung mit Krebs gesund? Und wer dieser Frage nachgeht, wird meist erkennen: Mit Krebs kann ich durchaus weiterleben! Die Krankheit zwingt mich aber, die Weichen für mein Leben neu zu stellen. Wenn ich mit Krebs konfrontiert werde, dann bekomme ich plötzlich einen Sinn für das Wesentliche. Wenn ich weiß, ich habe nur noch eine begrenzte Zeit zu leben – wir alle wissen, daß wir sterben müssen, aber wir verhalten uns so, als würden wir endlos leben! –, wenn ich also das Ende in greifbare Nähe gerückt sehe, fange ich an, mich wesentlich zu verhalten. Dann sortiere ich mein soziales Umfeld. Und Menschen, die mir bisher wichtig waren, sind vielleicht gar nicht mehr so wichtig, sondern andere, mit denen ich die Fragen, die ich jetzt habe, bewegen kann. Da ändert sich also grundsätzlich etwas: in der Lebenseinstellung und sozial. Ich darf das Böse, den bösartigen Tumor, nicht negieren, ich muß es in etwas Gutes verwandeln. Und zwar indem ich eine Sehnsucht nach der Wahrheit entwickle, nach Klarheit, nach Entscheidungen, nach Ordnung auf allen Ebenen. Aus dem Chaos, das mit dem Wachstum des Krebses verbunden ist, erwächst die Sehnsucht nach Ordnung und Struktur. Das werden viele Krebskranke bestätigen können. Das Negative fordert mich auf, das Positive zu tun. Wenn mir das bewußt wird, bin ich weniger Sklave meines Leibes. Man kann lernen, leiblich, seelisch und geistig mit dem Krebs zu leben. Auch leiblich. Das machen uns viele Patienten vor! Der urnaive Wunsch, alles Kranke rückgängig zu machen, zu sehen, daß »alles raus« und »alles weg« ist, denn dann bin ich es los – der läßt sich ja nicht immer verwirklichen. Das heißt: Wenn Reste bleiben, bleibt auch das Risiko. Es stellt sich also die Frage: Wie lerne ich, damit zu leben? Und es gibt tatsächlich Menschen, die leben damit besser als Gesunde! Nicht wenige sagen: »Ich möchte die Krankheit nicht mehr missen.« Weil sie durch diese existentielle Krankheit zu sich selbst gefunden haben. Und plötzlich merken, was alles in ihnen steckt.

      Aber es gibt doch auch Krebskranke, für die sich diese Frage nicht stellt, was ist mit denen?

      JS: Man kann nicht in Abrede stellen, daß Krebs auch eine schreckliche Seite hat, die viel Leid bedeutet. Es gibt Menschen, die dem Krebsleiden innerhalb weniger Monate erliegen, und es fällt schwer, darin einen Sinn zu erkennen. Aber das darf nicht dazu führen, diese Krankheit nur unter diesem Aspekt zu sehen. Und die Angst vor dem Tod darf nicht dazu verleiten, den Patienten jede Möglichkeit zur Mitgestaltung der letzten Lebenszeit zu nehmen, wie es bei uns so häufig geschieht. Es geht doch darum, diese letzte Zeit


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