Die Mistel. Annette Bopp
von Walhall auf einem Baume wächst, erschien der Baldur-Mutter zu jung für diese Pflicht. Ohne Zögern macht sich Loki auf den Weg, reißt den Mistelzweig aus dem Baum und begibt sich zurück zum Fest der Asen. Dort steht, ein wenig abseits, der blinde Hödur. Er nimmt nicht teil am bunten und fröhlichen Treiben, weil er nicht sieht, wohin zu zielen, und nichts hat, womit zu werfen. Loki bedrängt ihn, sich auch in das ausgelassene Treiben zu mischen, und mahnt ihn, dem Baldur die gebührende Ehre zu erweisen. Er, Loki, werde ihm eine Waffe reichen und die Richtung weisen, in die er zu zielen habe. Spricht’s, drückt Hödur den Mistelzweig in die Rechte, lenkt den Arm des Blinden in die Richtung, wo Baldur steht und heißt ihn werfen. Hödur folgt, und augenblicklich fällt Baldur, tödlich getroffen, um.«4
Im späten Mittelalter vereinnahmte die christliche Mythologie die Mistel, welcher der (Aber-)Glaube magische Kräfte nachsagte. Schmuckstücke aus Mistelholz fanden Eingang in die christlichen Bräuche: Amulette, Brustkreuze, Rosenkränze wurden aus Mistelholz geschnitzt. Vielerorts wurden Mistelzweige am Palmsonntag unter die Weidenkätzchen gebunden und von Priestern geweiht.
Zaubertrank und Fruchtbarkeitssymbol
Druiden, keltische Priester mit dem Vorrecht auf Ausübung der Heilkunde, verehrten die Mistel, insbesondere die auf Eichen wachsende, als »omnia sanans«, die »alles Heilende«. Sie schnitten Eichenmistelzweige am sechsten Tag nach Neumond mit goldenen Sicheln und brauten daraus kräftigende und heilsame Tinkturen und Tränke. Dieser Mistelkult findet in den »Asterix«-Geschichten mit der Figur des Miraculix und seinem Zaubertrank, der den Galliern übermenschliche Kräfte verleiht, seinen Niederschlag. »Drudenfuß«, »Hexenbesen« und »Donnerbesen« sind alte Bezeichnungen für die Mistel – und deutliche Hinweise auf die geheimnisvollen, magischen Eigenschaften, die ihr zugeschrieben wurden. Auch heute noch hängen in vielen Wohnungen um die Weihnachtszeit Misteln über dem Türrahmen. Sie sollen Gesundheit, Fruchtbarkeit und Wohlergehen im neuen Jahr sichern. Wenn sich ein Paar darunter küßt, sei ihm ein reicher Kindersegen sicher, heißt es.
In der Volksmedizin galt die Mistel als heilsam bei Menstruationsstörungen, Epilepsie und Bluthochdruck. Ihre krebsbekämpfenden Eigenschaften wurden erst Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt.
Heilpflanze gegen Krebs
Als Heilpflanze in der Krebstherapie wurde die Mistel vom Begründer der anthroposophischen Geisteswissenschaft, dem Philosophen und Wissenschaftler Dr. Rudolf Steiner [1861–1925] entdeckt. Er äußerte sich Ende 1916 erstmals zu den Möglichkeiten einer Behandlung von Krebs mit Mistelextrakten. Die Ärztin Dr. Ita Wegman [1876–1943] griff seine Anregungen auf und entwickelte 1917 gemeinsam mit einem Zürcher Apotheker das erste Mistelpräparat Iscar, das 1926 in Iscador umbenannt wurde. Bis zu seinem Tod gab Rudolf Steiner zahlreiche Empfehlungen und Anregungen zur Misteltherapie, auf die sich anthroposophische Ärzte heute noch beziehen.
Daß Steiner gerade die Mistel als Heilmittel gegen Krebs empfahl, geht auf Parallelen zurück, die er zwischen dieser Pflanze und dem Wesen der Krankheit sah. Bei der Mistel »ist die wirksame Natur irrsinnig geworden, sie macht alles zur Unzeit«, sagte er am 2. April 1920 im 13. Vortrag zu Geisteswissenschaft und Medizin und riet: »Das ist gerade dasjenige, was man (…) benützen muß, wenn auf der anderen Seite der menschliche Organismus physisch irrsinnig wird, und das wird er ja zum Beispiel gerade in der Karzinombildung.«
Bösartige Tumore sind nach anthroposophischer Auffassung Fehlbildungen, die zur falschen Zeit im falschen Maß am falschen Ort im menschlichen Körper wachsen. Ebenso ist die Mistel eine Pflanze, die – gemessen an den üblichen Gesetzmäßigkeiten der Botanik – am falschen Ort wächst, nämlich auf Bäumen, nicht in der Erde, und zur falschen Zeit blüht und fruchtet, nämlich im Winter, nicht in der warmen Jahreszeit. Sie ernährt sich nicht selbst, sondern bezieht einen Großteil ihrer Nährstoffe von dem Baum, auf dem sie wächst. Auch ein Tumor ernährt sich von dem Körper, in dem er sich gebildet hat. Die Mistel spiegelt also gewissermaßen das Krebsgeschehen im Pflanzenreich.
Andererseits, so Steiner, ist die Mistel eine Art Gegenbild zum Krebsgeschehen. All das, was die normalen Gestaltungskräfte im Organismus wollen, will sie nicht – und umgekehrt will sie all das, was diese Kräfte überhaupt nicht interessiert. Konkret:
→Normalerweise bilden Pflanzen Wurzeln, um sich damit in der Erde zu verankern, und diese Wurzeln haben meist die Tendenz, relativ schnell abzusterben. Die Mistel dagegen bildet keine Wurzeln, sondern einen Senker, den sie in das junge Holz des Wirtsbaumes einsinken läßt und mit dem sie sich im Baum festhält. Dieser Senker bleibt jahrelang grün und hat keinerlei Tendenz, abzusterben.
→Jede Pflanze ist bemüht, eine möglichst große Blattoberfläche auszubilden und diese auf der Oberseite für die Aufnahme von Licht beziehungsweise an der Unterseite für die Abgabe von Kohlendioxid zu optimieren. Die Mistel dagegen läßt jährlich an jedem Zweig gerade mal zwei kleine, schmale Blättchen wachsen und gibt sich gar nicht erst die Mühe, zweierlei Schichten zu bilden – die Blätter sind oben und unten gleich.
Diese »Antitendenz« sowie ihre zeitlich und räumlich hochgradig organisierte Struktur prädestinieren die Mistel dazu, dem chaotisch wachsenden Tumor einen Kontrapunkt entgegenzusetzen. Zum Arzneimittel aufbereitet, stellt sie dem Organismus Kräfte zur Verfügung, die diesem verlorengegangen sind, was das Tumorwachstum überhaupt erst ermöglicht hat.
3.
Botanische Merkmale der Mistel
Es gibt rund 1400 Pflanzen, die im weitesten Sinn als Mistel bezeichnet werden. Gemeinsam ist allen, daß sie nicht in der Erde, sondern auf Bäumen wachsen. Nur aus einer von ihnen – der Weißbeerigen Mistel (Viscum album) – werden die Medikamente hergestellt, die heute gegen Krebs eingesetzt werden. Sie wächst in Europa in drei Unterarten (subspezies = ssp.): auf Laubbäumen (Viscum album ssp. album), auf Kiefern (Viscum album ssp. austriacum) undauf Tannen (Viscum album ssp. abietis). Die Laubbaummistel bevorzugt Apfelbaum und Pappel, sie wächst aber auch auf Ahorn, Birke, Linde, Robinie, Weide, Weißdorn und Mandel. Auf Eiche, Esche, Ulme, Nuß-und Birnbaum, Hasel, Rose und Platane gedeiht sie nur selten. Auf Buchen wachsen Misteln überhaupt nicht. Warum, hat bisher noch niemand herausgefunden.
Die Weißbeerige Mistel kommt in ganz Europa vor, aber auch in Nordafrika, im vorderen Orient, in Zentralasien und Japan. Sie gedeiht überall, wo es feucht und hell genug ist. Extremen Frost übersteht sie nicht, deshalb wächst sie in Nordeuropa nur vereinzelt. Im Süden beschränken starke Sonneneinstrahlung und Trokkenheit ihr Vorkommen. Die seltenen Eichenmisteln wachsenvor allem in Frankreich, wo sie günstige Bedingungen vorfinden.
Die deutsche Bezeichnung »Mistel« geht zurück auf einen altgermanischen Wortstamm, der zum Beispiel in der altnordischen Dichtung »Edda« als »Mistilteinn« (Mistelzweig) erscheint.
Die erste umfangreiche Darstellung von Wachstum und Biologie der Mistel verfaßte Anfang des 20. Jahrhunderts der Botaniker Karl von Tubeuf [1862–1941]. Seine Mistel-Monographie ist nach wie vor eine wichtige Quelle für jeden Forscher. Von ihm stammt der vielzitierte Satz: »Nichts an dieser Pflanze ist normal.« 5
Bei der Mistel ist alles anders
Die Mistel unterscheidet sich in fast allen Merkmalen von einer normalen Pflanze:
→Sie wächst nicht in der Erde, sondern auf Bäumen.
→Sie hat keine Wurzeln, sondern nur einen »Senker«, mit dem sie sich im Holz ihres Wirtsbaums verankert. Der Senker breitet sich nicht im Baum aus wie Wurzeln in der Erde, sondern wächst mit der Lebensschicht des Wirtsbaumes unterhalb der Rinde nach außen, in die Peripherie. Über den Senker wird die Mistel von ihrem Wirtsbaum mit Wasser und mineralischen Nährstoffen versorgt.
→Die Mistel betreibt – wie alle Pflanzen – über den grünen Farbstoff (Chlorophyll) in Blättern und Stengeln mit Hilfe des Sonnenlichts selbst Photosynthese und gilt somit als Halbschmarotzer. Sie wäre also durchaus in der Lage, die nötigen organischen Nährstoffe eigenständig herzustellen. Trotzdem bezieht