Die Mistel. Annette Bopp

Die Mistel - Annette Bopp


Скачать книгу
Mistel trägt dazu bei, den Menschen in eine gewisse Autonomie von seiner Krankheit zu bringen, ihm Abstand zu verschaffen – auf der zellulären Ebene ebenso wie auf der geistigen«, sagt Prof. Dr. Volker Fintelmann, der als Arzt über eine mehr als 35jährige Erfahrung mit Mistelpräparaten verfügt. Die Mistel, so Fintelmann, kann bewirken, daß die Krankheit in gewissem Maß als »Partner« gesehen wird, mit dem man sich auseinandersetzen muß, und nicht als Gegner, den es niederzuknüppeln gilt. Zum Vergleich erinnert er an eine Szene aus »Der kleine Prinz« von Antoine de Saint-Exupéry. Darin begegnet der kleine Prinz dem Fuchs und wird von ihm aufgefordert, ihn zu zähmen. Der kleine Prinz kann damit nichts anfangen, er weiß nicht, was er tun soll – was bedeutet »zähmen«? Schließlich erklärt ihm der Fuchs: Zähmen bedeutet, sich vertraut machen.

      Genau darum geht es bei einer Krebserkrankung. Es gilt, sich mit ihr vertraut zu machen, sie zu zähmen. Sie anzuschauen und herauszufinden: Was will sie von mir? Warum kommt sie gerade jetzt? Und: Was lasse ich wachsen anstelle eines neuen Tumors oder anstelle von Metastasen?

      Dabei werden Fragen aufgeworfen wie: Wer bin ich? Was will ich – vom Leben, vom Partner, von Freunden, im Beruf ? Welche Wünsche habe ich mir nie erfüllt? Wo bin ich mir selbst und anderen gegenüber nicht wahrhaftig? Wo handle ich anders, als ich denke und fühle? Wo verleugne ich mich selbst?

      Die Ohnmacht überwinden | Sich diesen Fragen zu stellen, kann weitreichende Konsequenzen haben und ist nicht selten äußerst schmerzlich: kein Theater mehr spielen, nicht über die Erwartungen anderer nachdenken, sondern die eigenen Werte in den Vordergrund stellen und akzeptieren. Es bedeutet auch, herauszufinden aus der Opferrolle, in die die Krankheit so verführerisch schnell und leicht drängt. Die Ohnmacht zu überwinden, die der Schock der Diagnose bedeutet. Das Selbstmitleid zu beenden, das Gefühl des Ausgeliefertseins an ein Schicksal, in dem sich vermeintlich die ganze Welt gegen die eigene Person verschworen hat. Handlungsunfähig zu sein oder sich als handlungsunfähig zu betrachten, ist der größte Streß, dem ein Mensch ausgesetzt sein kann. Ein Streß, der die Krankheit höchstens verschlimmert, aber nie zurückdrängt. Deshalb ist es so wichtig, sich aus dieser Ohnmacht zu befreien.

      Es gilt, eigene Möglichkeiten und Wege in der Krankheitsbewältigung zu erkennen, wieder selbstbestimmt und handlungsfähig zu werden; Mittel zu finden, die die herkömmlichen Methoden – Operation, Chemo-/Hormontherapie, Bestrahlung – ergänzen. Eines dieser Mittel ist die Mistel. Sie kann helfen eine seelische Erstarrung aufzulösen, die innere Wärme zu schüren und zu erhalten, seelische Verletzungen zu heilen und Wunden vernarben zu lassen. Und nicht zuletzt kann sie dabei helfen, Frieden zu schließen mit der Krankheit.

      »Die Mistel wirkt entängstigend«, so Volker Fintelmann. Deshalb ist es auch so sinnvoll, sie schon vor einer Operation einzusetzen. Fast immer gibt es eine bis zwei Wochen Spielraum, in denen eine Krebsbehandlung mit Mistelpräparaten beginnen kann. In dieser Zeit besteht auch die Möglichkeit, sich eingehend mit den Operationsmöglichkeiten näher zu befassen, deren Konsequenzen zum Beispiel bei Brustkrebs für die betroffenen Frauen sehr einschneidend sein können.

      Die Misteltherapie vermag eine Krebserkrankung nicht unbedingt dauerhaft aufzuhalten, wohl aber dazu beizutragen, daß der noch zu vollendende Weg in Würde gegangen werden kann. Daß Frieden einkehrt, wo Verzweiflung war, und daß Abschied genommen werden kann, in Ruhe und Übereinstimmung mit sich selbst.

      Innere Stärke entwickeln | »Krebs entsteht häufig dann, wenn das Leben keinen Sinn mehr zu machen scheint«, sagt Volker Fintelmann. Oft macht Krebs auf drastische Weise einen Zustand deutlich, der im Inneren schon jahrelang bestand, aber stets verleugnet wurde. Bei vielen Krebskranken wurde die seelische und menschliche Integrität jahrelang nachhaltig verletzt – durch Kränkungen und Entwertungen, durch Unterdrücken von Kreativität, durch ständige Aufopferung für andere, durch ungeliebte Berufe, durch Liebesentzug und Nichtachtung, durch Entfremdung vom eigenen Selbst.

      Vielen Krebskranken war das vor der Diagnose nicht oder nur unterschwellig bewußt. Sie glaubten, zufrieden und ausgeglichen zu sein – in Wahrheit waren sie es keineswegs. Sie hatten nur lange genug trainiert, sich in den Kulissen, die sie um sich herum aufgebaut hatten, einzurichten, mit ihnen zu leben. Diese Kulissen bildeten eine schützende Szenerie, die sie davor bewahrte, die lange und tief verdrängten Wünsche und Sehnsüchte zu erkennen, zuzulassen und danach zu handeln.

      Die Misteltherapie kann dazu beitragen, diese verschütteten Wahrheiten ans Licht zu holen, sich ihnen zu stellen, die Kreativität in sich selbst auszugraben und zu entfalten. Denn gerade ein lang anhaltender Mangel an schöpferischer Entfaltung kann Krebs fördern. Nicht ohne Grund äußern viele Krebskranke den Wunsch, kreativ zu werden. Sie beginnen zu malen, zu photographieren, zu schreiben, zu musizieren, mit Ton, Holz oder Stein zu arbeiten, Stoffe zu bedrucken, zu nähen, Kleider zu entwerfen und was es an kreativen Tätigkeiten noch so gibt.

      Wer sich auf eine solche kreative Auseinandersetzung mit der Krankheit und mit den eigenen Ressourcen einläßt, wird auch Antworten auf Fragen finden wie: Wo will ich noch hin in meinem Leben? Was sind meine Ziele? Worin sehe ich einen Sinn? Und auf diese Weise in und mit der Krankheit gesunden.

      2.

       Eine heilkräftige Pflanze mit langer Tradition

      Um die Mistel ranken sich vielerlei Mythen. Der Glaube an ihre Zauberkraft reicht bis in die Antike zurück. So verhilft in der »Aeneis«, dem berühmten Heldenepos des altrömischen Dichters Vergil [70 –19 v. Chr.], ein Mistelzweig Aeneas, dem letzten Sohn der untergegangenen Stadt Troja, sich Zugang zur Unterwelt zu verschaffen, um seinen verstorbenen Vater wiederzusehen:

      »Als Aeneas bei der kumäischen Sibylle nach dem Weg fragt, weist diese ihn an, zunächst einen Zweig zu suchen, dessen Laub hoch oben im Geäst golden leuchtet wie die Mistel im finsteren winterlichen Wald. Ohne diesen Zweig – so die weise Frau – könne er wohl den Weg hinab antreten, doch erst dessen Besitz sichere ihm auch wieder den Weg hinauf, aus der Unterwelt zurück in die Welt des Lebens und des Lichtes. Von zwei plötzlich auftauchenden Tauben geführt, findet Aeneas auf einer Eiche den Zweig, dessen Blätter im Wind klirren und wie jene der Mistel golden blinken. Er trägt den Zweig zur Sibylle, und gemeinsam begeben sie sich auf die gefahrvolle, Aeneas’ ganzen Mut fordernde Reise in die Unterwelt. Als die Reisenden an den breiten Strom gelangen, der in der Unterwelt das Reich der Unbestatteten vom Reich der Begrabenen trennt, zürnt der dort tätige Fährmann heftig. Er brüllt Aeneas an und weigert sich zunächst, ihn an das andere Ufer zu fahren, da er ein Lebender sei. Da jedoch holt die Sibylle unter ihrem Gewand den mitgeführten goldenen Zweig hervor, und dessen lang gemißter Anblick erweicht und beglückt den Fährmann so sehr, daß er, ohne zu zögern, seinen Kahn freimacht und die Wanderer an das jenseitige Ufer des Stromes übersetzt. Aeneas und die Sibylle gelangen schließlich an eine Gabelung des Weges, von wo der linke Pfad hinab in die Hölle, der rechte aber in das Reich der Seligen, das Elysium, führt. Den rechten Weg weiterschreitend, kommen sie bald darauf an das ersehnte Ziel, und ganz vorn an die Schwelle des Tores, das den Weg in das Reich der Seligen freigibt, heftet Aeneas auf Geheiß der Sibylle den goldenen Zweig. Dieser Zweig ist das Opfer, das er der in die Unterwelt gebannten Göttin Proserpina darbringt. Nun darf Aeneas das Elysium betreten und dort voller Glück seinen seligen Vater Anchises in die Arme schließen. Anchises belehrt seinen Sohn ausführlich über das Wesen des Menschen, über dessen Schicksal und die himmlischen Gesetze seines Werdens. Reich beschenkt nimmt Aeneas Abschied und begibt sich wieder hinauf in die Erdenwelt, wo seine Gefährten ihn erwarten, um zu neuen, herrlichen Taten aufzubrechen.« 3

      Vom Mordwerkzeug zum Amulett

      Im frühen Mittelalter spielt die Mistel in der »Edda«, einer Sage isländischen Ursprungs, eine zentrale Rolle. Darin wird ein Mistelzweig zum Mordwerkzeug:

      »Baldur ist der lichte Gott des Asenvolkes, und ihn träumt, daß sein Tod bevorstehe. Voller Sorge nimmt Frigg, seine Mutter, darauf alle Wesen der Welt in Eid, dem Baldur kein Leid zuzufügen. Die Asen feiern auf diese gute Nachricht hin ein ausgelassenes Fest. Sie versuchen, Baldur zu schlagen und zu treffen, doch kein Hieb, keine Waffe vermag ihrem Liebling zu schaden. Das ergrimmt den


Скачать книгу