Das Gefühlsleben der Tiere. Marc Bekoff
und Erhaltung tiefer, respektvoller und symmetrischer Beziehungen zwischen Menschen und anderen Tieren.
Ich hoffe, einen Paradigmenwechsel in Bezug darauf zu fördern, wie wir über Tiere denken, wie wir tierische Emotionen und tierische Empfindungsfähigkeit untersuchen und was wir mit den Informationen, den „wissenschaftlichen“ und anderen, die uns bereits vorliegen, anfangen. Dieser Paradigmenwechsel beinhaltet das Revidieren unserer Klischeevorstellungen davon, wie das Gefühlsleben von Tieren verschiedener Arten „unserer Meinung nach“ zu sein hat. Statt anzunehmen, dass Fische weniger fühlen als Mäuse und Mäuse weniger fühlen als Schimpansen oder dass Ratten nicht so emotional sind wie Hunde oder Wölfe oder, ganz allgemein, dass Tiere weniger fühlen (und weniger wissen und weniger leiden) als Menschen, lassen Sie uns annehmen, dass zahlreiche Tiere vielfältige Emotionen haben und alle Formen von Leid empfinden, möglicherweise sogar in einem größeren Ausmaß als der Mensch.
Die vorliegenden Beweise belegen solch eine Hypothese. Bei der bereits früher erwähnten Konferenz in Rio erklärte der weltbekannte Wissenschaftler Ian Duncan, dass die von ihm, seinen Studenten und weiteren Wissenschaftlern initiierten Forschungen ergaben, dass Fische Schmerz und Angst fühlen. Sie sind außerdem listig, betrügerisch und pflegen kulturelle Traditionen. Außerdem, so Donald Broom, Professor an der Universität Cambridge in England, bestehe die Möglichkeit, dass Tiere mit komplexeren Gehirnen mit Schmerz effektiver umgehen können als Tiere mit weniger komplexen Gehirnen, da Erstere über vielfältigere Reaktionen und flexiblere Verhaltensweisen verfügen, um mit unangenehmen Situationen besser fertig zu werden. Brooms interessante Hypothese lautet, dass Fische möglicherweise nicht so effektiv mit Schmerz umgehen können wie Tiere mit komplexeren Gehirnen und aus diesem Grund mehr leiden. Bei der Bestimmung, was und wie viel ein Tier fühlt, ist es am besten, für alles aufgeschlossen zu bleiben.
Wie ich schon sagte: Wenn es um die manchmal unbewusste Doppelmoral geht, die Menschen in ihrer Behandlung von Tieren häufig aufweisen, dann ist für mich die Frage „Würden Sie das mit Ihrem Hund machen?“ eine großartige Möglichkeit zur Relativierung. Wenn man etwas nicht mit seinem Hund machen würde, weshalb sollte man es dann mit einem anderen Wesen tun?
Der Paradigmenwechsel würde außerdem die Art und Weise verändern, wie wir wissenschaftliche Arbeit betreiben – er würde zu einer Verbesserung der Methoden und einem Sinneswandel führen. Die Beweislast würde künftig den Skeptikern zufallen, die ihre Behauptungen „beweisen“ müssten, dass Tiere keine Emotionen empfinden und nicht wirklich Schmerz fühlen. Es wäre nicht mehr länger akzeptabel zu sagen, „da wir nicht wirklich wissen, was Tiere fühlen, lasst uns davon ausgehen, dass, was immer sie (wenn überhaupt) fühlen, nicht von Bedeutung ist.“ Es würde die Art und Weise verändern, wie Wissenschaftler Experimente und Tests durchführen und ein humaneres Umfeld für uns alle schaffen. Tiere zu respektieren, zu schützen und zu lieben würde der Wissenschaft nicht schaden, noch würde es bedeuten, wir Menschen würden weniger respektiert, geschützt und geliebt. Wenn Sie Ihren Hund füttern, heißt das, Ihr Kind muss hungern? Nein, natürlich nicht. Mit ein wenig Überlegung und Vorausschau kann für alle gesorgt werden.
Und am Wichtigsten: Davon auszugehen, dass Tiere über ein reiches Gefühlsleben verfügen, schadet niemandem. Ein schönes Zitat aus unbekannter Quelle trifft den Kern:
„Wenn ich davon ausgehe, dass Tiere subjektive Gefühle von Schmerz, Angst, Hunger usw. verspüren und ich damit falsch liege, dann habe ich niemandem geschadet; doch wenn ich vom Gegenteil ausgehe, Tiere jedoch tatsächlich solche Gefühle haben, dann öffne ich grenzenlosen Grausamkeiten damit Tür und Tor … Es muss heißen: Im Zweifel für die Tiere – wenn denn überhaupt noch irgendwelche Zweifel bestehen.“
WAS WIR MIT UNSEREM WISSEN ANFANGEN
Als Wissenschaftler werde ich für meine ausgeprägte Einstellung für die Tiere oft kritisiert, es wird mir vorgeworfen, nicht wissenschaftlich vorzugehen. Ich bin nicht gegen die Wissenschaft. Es liegt in der besten Tradition der Wissenschaft, Fragen im Hinblick auf die Ethik zu stellen. Es ist nicht nichtwissenschaftlich zu fragen, was wir tun, wenn wir mit anderen Tieren interagieren. Ethik kann unseren Blick auf andere Tiere bereichern, wie sie in ihrer Welt sind und wie wir sie im Zusammenhang mit unserer Welt sehen. Sie hilft uns zu erkennen, dass ihre Leben es wert sind, ihnen Respekt, Bewunderung und Wertschätzung entgegenzubringen. Es geht allerdings nicht unbedingt um Respekt, Bewunderung und Wertschätzung, wenn viele Menschen die Gesellschaft von Walen, Delfinen, Eisbären und Vögeln suchen. Wir brauchen Tiere in unserem Leben genauso, wie wir die Luft zum Atmen brauchen. Wir leben in einer kranken Welt, in der viele von uns von den Tieren und der Natur entfremdet sind. Tiere sind unsere vollkommenen Gefährten, die uns Tag für Tag helfen. Ohne enge, gegenseitige Beziehungen mit anderen tierischen Wesen sind wir von der reichen, vielfältigen und großartigen Welt, in der wir leben, entfremdet. Deshalb suchen wir bei Tieren emotionale Unterstützung. Unsere altsteinzeitlichen Gehirne ziehen uns zu dem zurück, was natürlich, doch in unserer schnelllebigen Welt verloren gegangen ist: Zu den engen Beziehungen mit anderen Lebewesen, die uns dabei helfen herauszufinden, wer wir im großen Plan der Dinge sind. Tiere trösten uns und bringen uns mit dem in Berührung, was wirklich von Bedeutung ist – mit anderen empfindungsfähigen Wesen. Ein empfindungsfähiges Tier ist eines, für das Gefühle von Bedeutung sind, wie mein Kollege John Webster es ausdrückt.
Wenn wir lernen können, konsequent mit dieser Perspektive zu leben, würden sich sehr viele Dinge, in denen Tiere von der menschlichen Gesellschaft benutzt und missbraucht werden, zum Besseren wenden. Tatsächlich schulden wir es den Tieren, ihnen wie, wann und wo auch immer zu helfen. Anfangen können wir damit, dass wir unser eigenes Leben unter die Lupe nehmen und die besten und ethischsten Entscheidungen treffen. Unterstützen wir mit den Kleidern, die wir tragen, und der Nahrung, die wir zu uns nehmen, humane Industrien und Praktiken? Wenn wir Menschen sehen, von denen wir wissen, dass sie schädliche Entscheidungen treffen, können wir dabei helfen, sie zu warnen oder sie zu lehren, sich zu verändern? Gibt es Möglichkeiten, uns selbst besser zu schulen und strengere Tierschutzgesetze zu verfolgen? Tag für Tag wird weltweit viel zu vielen Tieren Schaden zugefügt. Wenn wir Herzen und Verstand und besonders aber gängige Praktiken ändern können, werden wir Fortschritte machen und es besteht Hoffnung.
In meinem eigenen Forschungsbereich ist mir bewusst, dass solide Wissenschaft mit Ethik und Anteilnahme ohne weiteres vereinbar ist. Es ist nichts falsch an mitfühlender oder gefühlvoller Wissenschaft – und auch nicht an mitfühlenden und gefühlvollen Wissenschaftlern. Untersuchungen in den Bereichen des tierischen Denkens, der Emotionen und des Ich-Bewusstseins sowie im Bereich Verhaltensökologie und Schutz der biologischen Vielfalt können sowohl mit Anteilnahme als auch wissenschaftlich gründlich durchgeführt werden. Die Wissenschaft und die Behandlung von Tieren nach ethischen Grundsätzen schließen einander nicht aus. Mit offenem Denken und einem großen Herzen können wir solide wissenschaftliche Arbeit leisten.
Ich ermutige jeden dazu, seinem Herzen mit Liebe zu folgen, nicht mit Angst. Wenn wir uns alle auf diesen Weg begeben, wird die Welt für alle Lebewesen ein besserer Ort sein. Wenn wir uns von unseren Herzen führen lassen, werden freundlichere und humanere Entscheidungen getroffen werden. Mitgefühl erzeugt Mitgefühl und die Fürsorge und Liebe für Tiere weitet sich auf Mitgefühl und Fürsorge für Menschen aus. Es ist sehr wichtig, den Schutzschirm des Mitgefühls freigebig und ohne Grenzen zu teilen.
JASPER UND PABLO: ZWEI VON VIELEN
Jeder Mensch und jedes lebendige Wesen
hat das geheiligte Anrecht auf die Freude des Frühlings.
– Leo Tolstoi –
Ich habe dieses Buch Jasper und Pablo gewidmet. Jasper ist ein Kragenbär, der früher auf einer Gallefarm in China in einem Quetschkäfig gehalten wurde [27]. Quetschkäfige werden benutzt, um den Körper des Bären so zusammenzupressen, dass sich die Menge an Gallenflüssigkeit, die das Tier produziert, maximiert (diese wird mittels eines Katheters in der Gallenblase entnommen).