Das Gefühlsleben der Tiere. Marc Bekoff
dies ein Merkmal zur Definition des Menschseins sei. Nicht einmal die Skeptiker gegenüber Emotionen bei Tieren, die ich kenne, würden so etwas jemals behaupten. Es existieren buchstäblich Bände voller Daten, die beweisen, dass Individuen vieler Arten über die Zukunft nachdenken, von mexikanischen Blauhähern, Rotfüchsen und Wölfen, die Futtervorräte anlegen, bis hin zu rangniederen Schimpansen oder Wölfen, die in Anwesenheit eines dominanten Individuums vorgeben, ein bevorzugtes Futter nicht zu sehen und später wiederkehren, um es zu fressen, wenn das ranghöhere Tier nicht mehr in der Nähe ist. Außerdem erzählt uns Gerald Hüther in seinem Buch Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn entgegen aller wissenschaftlichen Beweise, dass die Fähigkeit zur Empathie das menschliche Gehirn von allen anderen Nervensystemen abhebt.
Die einfache Wahrheit lautet letzten Endes, dass ein Hund über eine Reihe emotionaler und kognitiver Fähigkeiten nach Hundeart verfügt. Ethologische Untersuchungen und Forschungen im Bereich der sozialen Neurowissenschaften zeigen, dass Menschen nicht die einzigen Bewohner des Gefühlsuniversums sind. Hunde und viele andere Tiere können glücklich, traurig und sauer sein. Sie lassen ihre Ruten sprechen. Tiere sprechen zu uns über eine unendliche Vielzahl von Verhaltensmustern – Posen, Gesten und Gangarten – sowie mit ihren Schnauzen, Schwänzen, Augen, Ohren und Nasen [16].
TIERE UND MENSCHEN
Geteilte Gefühle, geteilte Leben
Tierische Emotionen sind für sich genommen von großer Wichtigkeit, doch allein schon die Anwesenheit von Tieren – mit ihren frei geäußerten Emotionen und ihrer Empathie – ist für das menschliche Wohlbefinden von großer Bedeutung. Die Gefühle von Tieren sollten uns wichtig sein, denn wir brauchen sie in unserem Leben. Sie helfen uns. Wir werden deshalb so von ihnen angezogen, weil sie Emotionen haben; in Ermangelung einer gemeinsamen Sprache stellen Emotionen wahrscheinlich sogar unser effektivstes Mittel zur Kommunikation über die Artengrenzen hinweg dar. Wir können unsere Emotionen mit anderen Lebewesen teilen, wir können die Sprache der Gefühle verstehen und das ist der Grund, weshalb wir tiefe und dauerhafte Bindungen mit anderen Lebewesen eingehen. Emotionen sind der Kitt, der uns aneinander bindet. Sie katalysieren und regulieren soziale Handlungen bei Tieren und Menschen.
Das Buch Heilende Haustiere des Tierarztes Marty Becker zeigt, auf welche Art und Weise Haustiere Menschen gesund und glücklich machen können – sie unterstützen die Heilung einsamer Menschen in Pflegeheimen, Krankenhäusern und Schulen. In dem Buch Kindred Spirits zeigt der holistische Veterinärmediziner Allen Schoen 14 konkrete Beispiele auf, in denen die Beziehung zwischen tierischen Gefährten und Menschen eine Stressreduzierung ermöglichte. Dazu gehören die Senkung des Blutdrucks, die Steigerung der Selbstachtung bei Kindern und Erwachsenen, das Erhöhen der Überlebensrate von Patienten nach Herzinfarkt, die Verbesserung des Lebens von Senioren, die Hilfe bei der Entwicklung einer humanen Einstellung bei Kindern, das Bieten einer gewissen emotionalen Stabilität für Pflegekinder, die Reduzierung der Arztbesuche wegen kleinerer Probleme bei Medicare-Patienten sowie die Verringerung der Einsamkeit bei Vorpubertierenden. Und Michelle Rivera erzählt in ihrem Buch Hospice Hounds zahlreiche Geschichten, wie Hunde und Katzen Menschen helfen können, die im Sterben liegen.
Eine kürzlich durchgeführte Studie zeigt, dass der Besuch eines freundlichen Welpen eine gute Medizin für ein krankes Herz darstellen kann [17]. Bei einer Zufallsstudie an 76 stationär behandelten Herzpatienten fanden Forscher der UCLA heraus, dass die Angstgefühle bei Patienten, die mit Hunden gleich welcher Rasse interagierten, um durchschnittlich 24% abnahmen. Die Hunde lagen für 12 Minuten auf den Betten der Patienten, während diese die Hunde einfach streichelten und hinter den Ohren kraulten. „Diese Studie demonstriert, dass bereits die kurzzeitige Anwesenheit eines Hundes vorteilhafte physiologische und psychologische Auswirkungen auf den Patienten hat, der diesen Kontakt wünscht“, sagte Kathie Cole, eine Krankenschwester am UCLA Medical Center.
Ähnliches zeigt sich in meinem Heimatstaat. Im Frauengefängnis von Colorado leben die Insassinnen mit Hunden, die ansonsten im örtlichen Tierheim eingeschläfert worden wären, und sorgen für sie. Die gemeinsamen Spaziergänge, das Kämmen und Umsorgen, ja selbst das zusätzliche Saubermachen ist für jeden der Beteiligten unglaublich lohnend und vorteilhaft – für die Insassinnen, die Hunde und die Gefängnisangestellten.
Berichte von Begegnungen zwischen wild lebenden Tieren und Menschen – und andere artübergreifende Beziehungen – bestätigen die Ergebnisse dieser Studien. Löwen sind herrliche und kraftvolle Raubtiere, und doch zeigen sie auf unerwartete Weise Mitgefühl, Sympathie und Empathie. Zum Beispiel retteten drei Löwen in Äthiopien ein zwölf Jahre altes Mädchen vor einer Bande, die sie entführt hatte [18]. Sergeant Wondimu Wedajo sagte: „Sie standen Wache, bis wir sie gefunden hatten, ließen sie dann einfach wie ein Geschenk an uns zurück und verschwanden wieder im Wald.“ Stuart Williams, ein Wildtier-Experte des Ministeriums für Landentwicklung in Äthiopien, meinte, dass das junge Mädchen gerettet worden war, weil es wegen des Traumas, das es erlebt hatte, weinte. Williams erklärte: „Das Wimmern eines jungen Mädchens könnte mit dem miauenden Geräusch eines Löwenwelpen verwechselt werden, was wiederum erklärt, weshalb [die Löwen] sie nicht gefressen haben. Andernfalls hätten sie es wahrscheinlich getan.“ Drei der vier Kidnapper wurden schließlich gefasst.
In einem von vielen Berichten über Delfine, die Menschen auf See helfen, kreiste in Neuseeland eine Gruppe Delfine schützend um eine Gruppe von Schwimmern, um den Angriff eines großen weißen Hais abzuwehren [19]. „Sie begannen, uns zusammenzutreiben. Sie drückten uns alle vier zusammen, indem sie enge Kreise um uns zogen“, erzählte Rob Howes, einer der Schwimmer. Anhand solcher Berichte erkennen wir, dass die empathische Präsenz von Tieren eine direkte Auswirkung auf unser Wohlergehen und sogar auf unser Überleben haben kann.
Wenn es auch seltsam scheint, dass Tiere von ihrem üblichen Verhalten abweichen, um sich um uns zu kümmern, so ist das nur die halbe Geschichte. Manche der Beziehungen, die Tiere eingehen, sind sagenhaft unwahrscheinlich – zum Beispiel adoptierte im Samburu Reservat im Norden Kenias eine Löwin in fünf verschiedenen Fällen Oryx-Antilopenbabys [20], üblicherweise eine beliebte Mahlzeit von Löwen. Und im Mutsugoro Okoku Zoo in Tokio freundete sich Aochan, die Schwarze Erdnatter, mit dem Zwerghamster Gohan an. Der Hamster wurde ihr eigentlich als Mahlzeit angeboten [21]; Aochan hatte gefrorene Mäuse als Futter abgelehnt und die Zoowärter waren davon ausgegangen, der Hamster würde appetitlicher sein. Aochan weigerte sich jedoch, das Tier zu fressen, und schien es vorzuziehen, den Käfig mit der Hamsterdame zu teilen. Nun macht Gohan sogar ein Nickerchen auf dem Rücken der Schlange. Und obwohl Aochan begonnen hat, gefrorene Nager zu fressen, zeigt er noch immer keine Neigung, seine Freundin zu verspeisen. Kazuya Yamamoto, ein Zoowärter, sagte: „Aochan scheint Gohans Gesellschaft sehr zu genießen.“
Und was machen wir aus der folgenden Fisch-Geschichte? Mary und Dan Heath behaupten, ihre erwachsene Golden Retriever-Hündin Chino sei eng mit dem knapp 40 cm langen Koi Falstaff befreundet [22]. Seit sechs Jahren trifft sich das Pärchen regelmäßig am Rand des Teiches, in dem Falstaff lebt. Jeden Tag, wenn Chino dort hinkommt, schwimmt Falstaff zur Begrüßung an die Oberfläche und knabbert an Chinos Pfoten. Wenn Falstaff dies tut, starrt Chino mit einem neugierigen und verwunderten Ausdruck im Gesicht nach unten. Ihre enge Freundschaft ist außergewöhnlich und bezaubernd – und eine machtvolle Demonstration dessen, wie wichtig der Kontakt mit anderen Wesen wirklich ist.
Ich kann selbst viele Geschichten erzählen, die dies ebenfalls veranschaulichen. Zwei davon, die mit meinem langjährigen Hundegefährten Jethro zu tun haben, möchte ich mit Ihnen teilen. Eines Tages, als Jethro ungefähr zwei Jahre alt war, rannte er nach dem Spielen im Hof zur Vordertür und wartete darauf, hineingelassen zu werden. Als er da saß, bemerkte ich ein kleines, pelziges Etwas in seinem Maul. Meine erste Reaktion war: „Oh nein, er hat einen Vogel getötet.“ Doch als ich die Tür öffnete, ließ Jethro ein sehr junges, sehr lebendiges Häschen vor meine Füße fallen – klatschnass von seinem Speichel. Ich konnte zwar keinerlei Verletzungen entdecken, doch ich beschloss, das Häschen bei mir zu behalten, bis ich sicher sein konnte, dass es in der Lage war, eigenständig zu überleben. Ich nannte die Kleine Bunny und nahm an, ihre Mutter war abhanden gekommen, vermutlich von einem Kojoten,