Das Gefühlsleben der Tiere. Marc Bekoff
er dem Häschen so ein guter Freund war. Dies erhielt er natürlich durch ein Streicheln seines Kopfes und ein Kraulen seines Bauchs.
Als ich eine Kiste, eine Decke und Futter für Bunny zusammensuchte, wurde Jethro ganz aufgeregt. Er versuchte, sie mir aus den Händen zu schnappen, jaulte, folgte mir auf Schritt und Tritt und beobachtete jede meiner Bewegungen. Als ich den Raum mit der Kiste verlassen musste, rief ich Jethro, mitzukommen, doch er wollte die Kiste nicht alleine lassen. Ich dachte, er würde versuchen, sich Bunny oder das Futter zu schnappen, doch das tat er nie; er stand stundenlang da und beobachtete fasziniert, wie das kleine Fellbündel versuchte, sich langsam in seinem neuen Zuhause zu orientieren. Jethro schlief sogar neben Bunny und in den zwei Wochen, in denen ich sie gesundpflegte, tat Jethro ihr nicht ein Mal weh. Tatsächlich hatte Jethro Bunny adoptiert und all seine Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, dass ihr niemand etwas tat. Selbst als der Tag gekommen war, um Bunny wieder in die Freiheit zu entlassen, damit sie ihr Leben als frei lebender Hase beginnen konnte, beobachtete Jethro sie einfach nur dabei, wie sie vorsichtig herumschnupperte und schließlich langsam davon hoppelte.
Neun Jahre später kam Jethro erneut mit einem nassen Tier im Maul zu mir gerannt. Hm, fragte ich mich, ein weiteres Häschen? Dieses Mal entpuppte sich das nasse Bündel als Jungvogel, der von einem Flug gegen eine Fensterscheibe betäubt war. Ich hielt ihn einige Minuten in der Hand, bis seine Sinne zurückzukehren begannen. Jethro, seiner selbst treu, beobachtete jede Bewegung. Als ich dachte, der Vogel könne wieder fliegen, setzte ich ihn auf das Verandageländer. Jethro näherte sich ihm, schnupperte, trat zurück und beobachtete, wie er davon flog. Jethro liebte andere Tiere und er rettete zwei vor dem Tod. Er hätte beide ohne große Mühe fressen können. Doch das tut man seinen Freunden nicht an.
Wenn Tiere ihre Gefühle zum Ausdruck bringen, fließen sie aus ihnen heraus wie Wasser aus einer Quelle. Die Emotionen von Tieren sind rein, ungefiltert und unkontrolliert. Ihre Freude ist die reinste und ansteckendste Freude und ihre Trauer die tiefste und überwältigendste Trauer überhaupt. Ihre Leidenschaft zwingt uns vor Freude und Sorge in die Knie. Würden Tiere ihre Gefühle nicht zeigen, würden Menschen wahrscheinlich keine Bindungen mit ihnen eingehen. Wir entwickeln enge Beziehungen zu unseren Haustieren und dies nicht nur wegen unserer eigenen emotionalen Bedürfnisse, sondern auch, weil wir ihre erkennen. Als ein Bewohner der Ausläufer der Rocky Mountains liebe ich felsige Landschaften, Flüsse und Bäche, doch ihnen fühle ich mich nicht so nah, wie ich mich tierischen Lebewesen nahe fühle. Ich glaube, das liegt daran, dass Landschaften und Wasserläufe keine Gefühle oder Ansichten haben – sie sind, im Gegensatz zu Tieren, nicht empfindungsfähig.
Geteilte Emotionen und ihre Kraft, anzuziehen und zu verbinden [23], sind verantwortlich für die Milliarden Dollar schwere Haustier-Industrie dieses Landes [24]. Mehr als 60% aller Haushalte der Vereinigten Staaten halten mindestens ein Haustier und mehr als 55% haben einen Hund oder eine Katze. Doch die Vielfalt der Tiere, die als Haustiere gehalten werden, vor allem weltweit, ist erstaunlich. Dazu gehören Nagetiere, Vögel, Fische, Amphibien, Reptilien, Insekten, Spinnen, Wirbellose und viele mehr. Rund 20% der Haushalte haben einen Vogel und mehr als 600 Millionen Fische werden jedes Jahr an Aquarianer verkauft. Sowohl in den Vereinigten Staaten wie auch in Großbritannien wächst die Anzahl der Haustiere.
Eine besondere Beziehung gehen dabei Kinder und Haustiere ein. Im Rahmen von Jane Goodalls Roots & Shoots Programm [25] (Wurzeln & Keime) arbeite ich mit Kindern. Ziel des Programmes ist es, Kinder dazu anzuregen, Respekt gegenüber Tieren, Menschen und der Umwelt zu entwickeln. Das ist nicht schwierig; Kinder sind neugierige Naturforscher, die schnell mit allen möglichen Lebewesen Bindungen eingehen. Kinder gehören außerdem zu den besten Beispielen für den starken Einfluss tierischer Emotionen und Empathie auf das Leben von Menschen. Mehr als 75% der Kinder in den Vereinigten Staaten leben mit Haustieren und es ist wahrscheinlicher, dass Kinder mit einem Haustier aufwachsen als mit beiden Elternteilen. Amerikanische Jungs werden wahrscheinlich eher für ein Haustier als für ältere Verwandte oder jüngere Geschwister sorgen. Eine große Mehrheit von Kindern bezeichnet ihre Haustiere als „Familie“ oder „besondere Freunde“ und „Vertraute“. Und mehr als 80% bezeichnen sich selbst als Mütter oder Väter ihrer Haustiere. Sollten sie auf einer einsamen Insel stranden, würden mehr als die Hälfte der Kinder die Gesellschaft ihrer Haustiere der ihrer Familienmitglieder vorziehen und Kinder sorgen sich auch um heimatlose Haustiere.
Eine Studie, an der 194 amerikanische Universitätsstudenten teilnahmen, zeigt, dass diejenigen, die als Kind mit Hunden oder Katzen gelebt hatten, selbstbewusster sind als diejenigen, die keine Haustiere hatten. Bei einer Studie, die in Kroatien durchgeführt wurde, erwiesen sich Kinder, die mit Hunden lebten, als empathischer und sozialer eingestellt als Kinder, die nicht mit Hunden lebten. Kinder mit einer größeren Zuneigung zu ihren Haustieren schätzten das Klima in ihrer Familie als wesentlich besser ein als Kinder, die weniger Zuneigung verspürten. Die Interaktion mit Haustieren hilft Kindern außerdem dabei zu lernen, dass Tiere andere Bedürfnisse haben als sie selbst und fördert die Entwicklung einer Verstandestheorie (ihre Haustiere haben ihren eigenen Glauben und ihre eigene Weltsicht).
Haustiere können soziale Katalysatoren sein und dabei helfen, autistische und sozial zurückgezogene Kinder zugänglich zu machen (eine Intensivierung pro-sozialer Verhaltensweisen). Der Begriff „Tiergestützte Therapie“ wurde vor mehr als vier Jahrzehnten von Boris Levinson geprägt und wird heute noch verwendet. Levinson, ein amerikanischer Kinderpsychologe, fand heraus, dass viele Kinder, die zurückgezogen oder unkommunikativ waren, aus sich herausgingen und positiv interagierten, wenn sein Hund Jingles die Therapiesitzungen begleitete.
Haustiere helfen auch Missbrauchsopfern, indem sie sie vorbehaltlose Liebe lehren, Pufferung und das Überwinden des Traumas erleichtern. In einer Studie werden Haustiere für sexuell missbrauchte Kinder als größere Unterstützung eingeschätzt als Menschen. Haustiere bieten Kindern Unterstützung, über eine Scheidung, die Erkrankung oder den Verlust eines Familienmitglieds oder engen Freundes hinwegzukommen. Der Wert von Tieren für uns Menschen kann nicht übertrieben dargestellt werden und es sind ihre Emotionen, die uns zu ihnen hinziehen. Und obwohl wir Tiere brauchen, wären doch viele Tiere ohne uns besser dran.
EIN PARADIGMENWECHSEL
Überdenken unserer Annahmen und Revidieren unserer Klischeevorstellungen
Fragen zu den Gefühlen von Tieren und warum sie von Bedeutung sind können einen ganz schönen Wirbel verursachen. Unsere Beziehung zu Tieren ist komplex und wie wir Tiere behandeln, verändert sich je nach Zusammenhang oft dramatisch. Viele Menschen können ihren Haustieren eine enorme Liebe und Hingabe entgegenbringen, doch gleichzeitig, mit wenig Achtsamkeit, Sorge oder Reue, andere Tiere in verschiedenen Situationen auf unglaubliche Weise missbrauchen. Dies gilt besonders für Wissenschaftler und die Tiere, die sie zu Hause und im Labor halten. Wenn Wissenschaftler (und andere) sagen, sie lieben Tiere und sie dann, direkt oder indirekt, vorsätzlich Schmerz und Leid aussetzen, lautet meine Antwort: Ich bin froh, dass sie nicht mich lieben! Zum Leidwesen der Tiere war und ist ihre Beziehung zu Menschen äußerst asymmetrisch. Menschliche Interessen stehen fast immer über denen der Tiere.
Vor einigen Jahren las ich die prestigeträchtige Zeitschrift Science und stieß auf diesen Satz: „Mehr als jede andere Spezies sind wir die Begünstigten und Opfer einer Fülle emotionaler Erfahrungen [26].“ Der Wissenschaftler, der dies schrieb, Professor R. J. Dolan, kann unmöglich wissen, ob dies der Wahrheit entspricht. Tatsächlich mögen andere Tiere noch lebhaftere Emotionen empfinden als wir, sowohl positive als auch negative. Diese Form der menschlichen Egozentrik ist es, die das Studium der Tieremotionen behindert, und sie ist zudem einer der wichtigsten Gründe dafür, dass Tiere auf so unterschiedliche Weise behandelt werden. Was macht uns so besonders? Warum glauben wir, dass wir solch tief empfindende Tiere sind und alle anderen Tiere nicht (oder weniger) zu Emotionen fähig sind? Beim Blick auf den heutigen Zustand der Welt finde ich es schwer zu akzeptieren, dass wir den Standard darstellen sollen, an dem andere Tiere gemessen werden.
Es ist meine Hoffnung, dass das Studium der Mensch-Tier-Interaktionen den nutzlosen Dualismen von „wir“ versus „denen“, von „Labor“ (wo Tiere oftmals verfügbare Objekte darstellen) versus „Zuhause“ (wo