Das Gefühlsleben der Tiere. Marc Bekoff
zu akzeptieren, doch das war wohl zu erwarten; denn eine wichtige Funktion der Wissenschaft ist es, direkte, subjektive Erfahrungen „objektiv“ zu werten.
Die sekundäre Emotion der Empathie oder des Mitgefühls bei Tieren festzustellen ist wichtig, denn sie weist auf selbstlose Fürsorge für andere hin. Erinnern Sie sich an Babyl und ihre fürsorglichen Freunde. Während meines Aufenthalts in Homer, Alaska, las ich eine ähnliche Geschichte über zwei Grizzlybären-Jungen, die fest zusammenhielten, nachdem sie zu Waisen geworden waren, weil ihre Mutter in der Nähe des Russian River erschossen worden war. Das weibliche Jungtier blieb bei seinem verwundeten Bruder, obwohl dieser humpelte, nur sehr langsam schwamm und Hilfe bei der Futtersuche benötigte. Ein Beobachter notierte: „Sie kam mit einem Fisch aus dem Wasser, schleppte ihn zurück und ließ den anderen fressen [8].“ Das junge Weibchen sorgte offensichtlich für den Bruder und ihre Unterstützung war für sein Überleben entscheidend.
Es gibt außerdem einen Bericht über eine Gruppe von ungefähr Hundert Rhesusaffen in Tezpur, Indien, die den Verkehr zum Erliegen brachten, nachdem ein Affenbaby von einem Auto angefahren worden war [9]. Die Affen bildeten einen Kreis um das verletzte Baby, dessen Hinterbeine gebrochen waren und das auf der Straße lag und sich nicht bewegen konnte. Sie blockierten den gesamten Verkehr. Ein Regierungsbeamter berichtete, dass die Affen wütend waren und ein Ladenbesitzer sagte: „Es war sehr emotional… Einige von ihnen massierten seine Beine [10]. Schließlich verließen sie den Ort und trugen das verletzte Baby mit sich [11].“
In einer klassischen Studie nimmt ein hungriger Rhesusaffe kein Futter, wenn das für einen anderen Affen bedeutet, dass er dann einen Stromstoß erhalten würde. Es existiert noch eine jüngere wissenschaftliche Studie zur Empathie bei Mäusen. In dieser Studie wird einem oder beiden Mitgliedern eines Paares erwachsener Mäuse Essigsäure injiziert, wodurch sie sich vor Schmerzen winden. Auf diese Weise können die Forscher beobachten, ob diese Nagetiere die Fähigkeit besitzen, Mitgefühl für andere zu haben, die Schmerzen leiden, oder nicht. Die Forscher entdeckten, dass Mäuse, die ihre Partner unter Schmerzen leiden sehen, selbst sehr empfindlich sind und dass eine Maus mit Schmerzen sich mehr windet, wenn ihr Partner ebenfalls unter Schmerzen leidet. Die Mäuse nutzten visuelle Hinweise, um die empathische Reaktion zu entwickeln, obwohl sie bei vielen ihrer sozialen Begegnungen gewöhnlich den Geruchssinn nutzen. Wie wir also an den Geschichten zu Beginn dieses Kapitels sehen, verfügen Tiere (auch Mäuse) über Empathie. Zudem ist bekannt, dass die empathische Reaktion bei Mäusen durch dieselben Hirnmechanismen wie beim Menschen herbeigeführt wird.
Natürlich ist diese Studie verstörend. Mussten die Forscher solche Schmerzen verursachen, um zu ihren Schlüssen zu kommen? Mäuse (und Ratten) sind derzeit nicht durch die Tierschutzverordnung geschützt, doch vielleicht führen diese und andere Ergebnisse dazu, dass ihr Status dem von Hunden, Katzen und nichtmenschlichen Primaten angeglichen wird, wenn es um invasive Experimente an Tieren geht. Wie wir in Kapitel 6 sehen werden, ist die Tierschutzverordnung weit davon entfernt, einen angemessenen Schutz zu bieten, doch das wäre immerhin ein Anfang.
Nachdem diese Studie zur Empathie erschienen war, erhielt ich zahlreiche Berichte über Empathie bei einer Vielzahl von Tieren, darunter auch Nagetiere [12]. Menschen, die mit Tieren leben, waren von den Ergebnissen nicht überrascht. CeAnn Lambert, die das Indiana Coyote Rescue Center leitet, erzählte mir, dass sie eines heißen Sommermorgens zwei Mäusebabys in einem tiefen Waschbecken in ihrer Garage entdeckte. Sie versuchten, aus dem Waschbecken zu klettern, kamen aber nicht an den steilen, glatten Seiten hinauf. Eines der Mäusebabys schien weniger erschöpft als das andere. CeAnn ließ etwas Wasser in einen Deckel laufen und stellte ihn in das Waschbecken und sofort lief das fittere Jungtier hin, um zu trinken. Auf dem Weg zum Wasser fand die Maus ein Stück Futter, nahm es auf und brachte es zu seinem Wurfgeschwisterchen. Die geschwächte Maus versuchte, ein Stück von dem Futter abzubeißen, während die andere es langsam weiter in Richtung des Wassers bewegte. Schließlich konnte auch die schwächere Maus etwas trinken. Beide erholten sich und kletterten über ein Brett hinaus, das CeAnn in das Waschbecken gestellt hatte.
Es gibt noch viele Beispiele mehr, doch der Punkt ist: Selbst wenn tierische Emotionen nicht genau mit unseren eigenen oder mit denen anderer Spezies übereinstimmen, bedeutet das nicht, dass Tiere nicht fühlen. Tatsächlich sind tierische Emotionen, wie die letzten Berichte zeigen, nicht auf „instinktive Reaktionen“ beschränkt, sondern sind mit etwas, was als guter Teil bewussten Denkens erscheint, verbunden.
WENN TIERE FÜHLEN, WAS WISSEN SIE DANN?
Tiere haben ihre Geheimnisse, doch ihre Gefühle sind erkennbar
Die Abneigung zeitgenössischer Philosophen und Wissenschaftler, die Sichtweise anzunehmen, dass Tiere Verstand haben, sagt in erster Linie etwas über ihre Philosophie und ihre Wissenschaft aus, denn über die Tiere.
– Dale Jamieson, „Science, Knowledge and Animal Minds“ –
Wenn Tiere bellen, heulen, schnurren, winseln, grunzen, lachen oder quieken, hat das für sie etwas zu bedeuten. Was sie sagen, sollte auch uns etwas bedeuten, denn ihre Gefühle sind von Bedeutung. Lynne Sharpe weist in ihrem wundervollen Buch Creatures Like Us? darauf hin, dass die Interessen und Sorgen von Tieren für diese ebenso wichtig sind, wie unsere es für uns sind. Ruten teilen uns mit, was Tiere fühlen, und das gleiche tun verschiedene Posen, Gangarten, Gesichtsausdrücke, Geräusche und Gerüche. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte eine Rute und bewegliche Ohren, damit ich besser mit Hunden und anderen Tieren kommunizieren könnte, deren Ruten und Ohren uns viel darüber erzählen, was sie denken und fühlen. Wildes Wedeln oder die Rute, die zwischen den Beinen herunterhängt, schenken uns den Einblick in ihre eigene Form von Empfindungsvermögen.
Was Tiere wissen – und wie viel Ich-Bewusstsein sie besitzen – ist ein Thema weit verbreiteter und oftmals hitziger Debatten. Die sich sammelnden wissenschaftlichen Beweise besagen, dass sie ganz schön viel wissen, doch die Schwierigkeit der Kommunikation über Artengrenzen hinweg mag es unmöglich machen, jemals genau zu wissen, wie viel. Mein Grundsatz tierische Emotionen und Empfindungsfähigkeit betreffend ist ziemlich einfach – Tiere werden immer ihre Geheimnisse haben, doch ihre emotionalen Erfahrungen sind erkennbar. Mit anderen Worten: Wir wissen, dass zahlreiche Tiere ein reiches Spektrum an Emotionen haben, von denen einige, wie die Empathie, einen bestimmten Grad an bewusstem Denken erfordern. Viele Tiere zeigen Sinn für Humor. Einige wenige Tiere, darunter Schimpansen, Delfine und Elefanten, haben Tests absolviert, die Ich-Bewusstsein erkennen lassen [14]. Manche mögen einen Sinn für Ehrfurcht haben und manche mögen moralische Wesen sein, die „Richtig“ von „Falsch“ unterscheiden können.
Selbstverständlich bestehen Unterschiede zwischen den Arten. Wir würden Variationen auf der Basis sozialer, ökologischer und physikalischer Faktoren erwarten. Trotz der manches Mal extremen Unterschiede bestehen jedoch auch bezwingende Ähnlichkeiten. Ein allgemein gebräuchlicher Maßstab nennt sich die „relative Gehirngröße [15]“ (die Größe des Gehirns im Verhältnis zur Körpergröße) und tatsächlich stimmen fast alle Forscher darin überein, dass beim Vergleich von Arten die relative Hirngröße in Bezug auf verschiedene Verhaltensaspekte einen Unterschied macht, wozu nichträuberische Lebensweise und Fütterungsstrategien gehören. Nur, was diese Differenzen zu bedeuten haben, bleibt größtenteils ein Geheimnis. Es gibt jedoch keinen Nachweis dafür, dass es bedeutet, Tiere mit einem geringeren Größenverhältnis hätten kein reiches Gefühlsleben. Da wir alte Gehirnbereiche mit ihnen teilen, die für die menschlichen Emotionen wichtig sind, namentlich das limbische System mit der mandelförmigen Struktur, die Amygdala genannt wird, ist der reine Fokus auf die relative Hirngröße irreführend. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, was wir mit anderen Tieren teilen und nicht darauf, wie viel wir mit ihnen teilen. Die Gehirne von Mäusen, Hunden, Elefanten und Menschen unterscheiden sich stark in ihrer Größe, doch alle diese Arten empfinden Freude und Empathie.
Leider werden gerade in sehr populären Büchern noch immer falsche Vorstellungen über die ungestützten Verallgemeinerungen der kognitiven, emotionalen und empathischen Fähigkeiten von Tieren verbreitet. Zum Beispiel behauptet der Harvard-Psychologe Daniel Gilbert