Das Gefühlsleben der Tiere. Marc Bekoff
konnten, lautete, dass die anderen Elefanten sich um Babyl sorgten und aus dem Grund ihr Verhalten anpassten, damit Babyl bei der Gruppe bleiben konnte.
Freundschaft und Mitgefühl reichen weit. Babyls Freunde bilden da keine Ausnahme. In Ostindien stürmten im Oktober 2006 14 Elefanten auf der Suche nach einem Herdenmitglied, das in eine Grube gefallen und ertrunken war, durch ein kleines Dorf [2]. Anwohner hatten die 17 Jahre alte Elefantenkuh bereits beerdigt, trotzdem mussten Tausende von Menschen fluchtartig ihre Häuser verlassen, weil die anderen Elefanten mehr als drei Tage suchten und randalierten.
DAS HERZ IST DAS THEMA
Im September 2006 fand unter der Überschrift „Das Herz des Themas“ ein Meeting statt, das sich mit dem Wohl der Tiere beschäftigte. Es ist schön, Wissenschaftler zu erleben, die das Wort Herz benutzen, denn das Herz ist tatsächlich das Thema.
Ich befasse mich mit den Emotionen von Tieren und liebe, was ich tue. Im Verlauf meiner Karriere studierte ich eine Vielzahl von Tieren – Kojoten, Wölfe, Hunde, Adelie-Pinguine, Schützenfische, Abendkernbeißer und Diademhäher – und bin dabei einer Vielzahl von Fragen nachgegangen. Fragen über Sozialverhalten, Sozialordnung und soziale Entwicklung bis hin zu Kommunikation, Spiel, nichträuberisches Verhalten, Aggression, elterliches Verhalten und Moral. Ich kann die Beweise für Emotionen bei Tieren unmöglich leugnen und diese werden auf breiter Front durch unser derzeitiges Wissen in den Bereichen Verhalten, Neurobiologie und Evolutionsbiologie bei Tieren gestützt.
Tatsächlich ist das Studium der tierischen Emotionen ein dynamisches und sich rasch entwickelndes Feld der Wissenschaft und es besteht großes Interesse an diesem Thema, sowohl von Seiten der Wissenschaftler als auch bei „normalen“ Menschen. Im März 2005 trafen sich in London rund 600 Menschen aus 50 Nationen zu einem Grundlagen-Meeting, finanziert von Compassion in World Farming Trust, um mehr über das Empfindungsvermögen, Bewusstsein und Gefühlsleben von Tieren zu erfahren. Im Oktober 2006 organisierte die World Society for the Protection of Animals eine Konferenz in Rio de Janeiro, um zu diskutieren, wie das Wohl der Tiere auf Farmen und in Forschungslabors verbessert werden kann. Die Organisatoren erwarteten etwa 200 Menschen, doch es kamen rund doppelt so viele, vornehmlich aus Brasilien und den umliegenden Ländern. Die positive Reaktion auf diese Meetings in London und Rio zeigt, dass nun tatsächlich die Zeit für uns gekommen ist, das Gefühlsleben von Tieren anzuerkennen und aus dieser Erkenntnis Konsequenzen zu ziehen.
Geschichten über die Emotionen der Tiere und unsere komplexen Beziehungen zu ihnen erscheinen in wachsender Zahl in der Presse, angefangen von prestigeträchtigen wissenschaftlichen Magazinen wie Science, Nature, Trends in Ecology and Evolution und Proceedings of the National Academy of Science bis hin zu New York Times, Psychology Today, Scientific American, Time, The Economist und sogar Reader’s Digest. Das Gefühlsleben der Tiere war auch Thema eines überraschenden Film-Kassenschlagers: Der Marsch der Pinguine. Der im Sommer 2005 erstmals veröffentlichte Dokumentarfilm beschreibt in eindringlichen Bildern die Gefühle von Pinguinen und zeigt, wie sie leiden und auch wie sie bei der Versorgung ihrer Eier und ihrer Jungen extremsten Herausforderungen trotzen.
Doch trotz zunehmender wissenschaftlicher Beweise und einer breiten öffentlichen Überzeugung bleibt eine kleine Minderheit innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft skeptisch. Einige bezweifeln noch immer, dass tierische Emotionen überhaupt existieren, und viele, die glauben, dass sie existieren, neigen zu der Ansicht, tierische Emotionen müssten unbedeutender sein als menschliche. Dies scheint mir eine überholte und sogar unverantwortliche Sichtweise und mein Hauptziel in diesem Kapitel – und tatsächlich im ganzen Buch – ist es, zu zeigen, dass tierische Emotionen existieren, dass sie für die Menschen wichtig sind und dass dieses Wissen unser Verhalten gegenüber unseren tierischen Freunden beeinflussen sollte.
Bei der Erörterung tierischer Emotionen beziehe ich mich in der Hauptsache auf Datenmaterial zum Verhalten und anekdotische Berichte, um zu zeigen, wie eine Kombination aus gesundem Menschenverstand und wissenschaftlichen Daten – was ich als „wissenschaftlichen Verstand“ bezeichne – starke Argumente für die Existenz tierischer Leidenschaften liefert. Einzelne Geschichten bilden also die Basis für meine Erörterung, ich bringe jedoch auch wissenschaftliche Studien mit ein, da sie zur Untermauerung meiner Thesen notwendig sind.
Sobald wir uns jedoch darüber einig sind, dass Emotionen bei Tieren existieren und dass sie von Bedeutung sind – wovon sehr viele Menschen bereits überzeugt sind – was dann? Dann müssen wir uns über Ethik Gedanken machen. Wir müssen unsere Handlungen betrachten und überlegen, ob sie mit unserem Wissen und unserer Überzeugung übereinstimmen. Ich bin der festen Ansicht, dass Ethik die Wissenschaft durchdringen sollte. Wir sollten immer darum bemüht sein, Wissen, Handlung und Mitgefühl miteinander zu verbinden. Dies ist tatsächlich das Herz des Themas.
WAS SIND EMOTIONEN?
Diese Frage zu beantworten, ist sehr schwierig. Die meisten von uns erkennen Emotionen, wenn sie sie sehen, haben jedoch Probleme damit, sie zu erläutern. Sind sie physischen oder mentalen Ursprungs oder beides? Als Wissenschaftler kann ich sagen, dass Emotionen psychische Phänomene sind, die das Verhalten regulieren und kontrollieren; sie sind Phänomene, die uns ausdrücken und die uns bewegen. Oftmals wird zwischen „emotionalen Antworten“ auf physische Reaktionen und „Gefühlen“, die aufgrund von Gedanken entstehen, unterschieden. Emotionale Antworten zeigen, dass der Körper auf bestimmte externe Stimuli reagiert. Sehen wir zum Beispiel ein Auto auf uns zu rasen, fühlen wir Angst – was zu erhöhtem Herzschlag, Blutdruck und einem Anstieg der Körpertemperatur führt. Doch tatsächlich wird die Angst erst empfunden, wenn das Gehirn auf die physischen Veränderungen reagiert, die eine Reaktion auf das herannahende Auto sind.
Andererseits sind Gefühle psychische Phänomene, Ereignisse, die sich ausschließlich im Gehirn eines Individuums zutragen. Ein äußeres Ereignis kann eine Emotion wie Ärger oder Trauer hervorrufen, doch nach einer gewissen Reflexion mag es sein, wir entscheiden, dass wir anders fühlen. Wir können unsere Emotionen interpretieren. Gefühle drücken sich in unterschiedlichen Stimmungen aus. Sie helfen uns und haben Einfluss darauf, wie wir in einer Vielzahl von Situationen mit anderen umgehen.
Charles Darwin, der erste Wissenschaftler, der Tieremotionen systematisch untersuchte, erkannte sechs allgemein gültige Emotionen: Ärger, Glück, Traurigkeit, Ekel, Angst und Überraschung [3]. Er vertrat die Ansicht, dass diese sechs Kernemotionen uns dabei helfen, mit einer Vielzahl von Umständen und in einer komplexen sozialen Umwelt zurechtzukommen. Diese Liste wurde inzwischen ergänzt. Stuart Walton fügt in seinem Buch A Natural History of Human Emotions Eifersucht, Verachtung, Scham und Verlegenheit zu Darwins Kerngruppe hinzu, der Neurowissenschaftler Antonio Damasio (in seinem Buch Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn) stellt fest, dass zu den sozialen Emotionen außerdem Sympathie, Schuld, Stolz, Neid, Bewunderung und Entrüstung gehören. Es ist interessant, dass keiner dieser Wissenschaftler die Liebe erwähnt.
Welche dieser Emotionen, wenn überhaupt, verspüren Tiere? Und empfinden Tiere irgendwelche Emotionen, die Menschen nicht haben? Dies ist eine sehr interessante Frage. Die Ethologin Joyce Poole, die viele Jahre lang Elefanten studierte, erläutert: „Ich bin überzeugt, dass Elefanten einige Emotionen haben, die wir nicht kennen und umgekehrt [4]. Ich glaube allerdings auch, dass wir viele Emotionen miteinander gemein haben.“ Wenn Poole Recht hat, dann könnte es bei Tieren einige Emotionen geben, die wir niemals verstehen werden, andererseits gibt es aber viele, die wir verstehen. Sind Tiere, menschliche und nichtmenschliche gleichermaßen, nicht glücklich, wenn sie spielen oder wieder mit einem geliebten Wesen zusammenkommen? Sind Tiere nicht traurig, wenn sie einen geliebten Freund verloren haben? Wenn sich Wölfe wieder begegnen, heftig mit der Rute wedeln, winseln und springen, zeigen sie dann keine Freude? Was ist mit Elefanten, die beim Wiedersehen eine Begrüßungszeremonie vollführen, mit den Ohren schlagen, sich drehen und Töne von sich geben, die als „Begrüßungsgrollen“ bezeichnet werden – ist das keine Freude? Und mit welchem Wort außer Trauer sollen wir eine Emotion bezeichnen, die Tiere zeigen, wenn sie selbst ihren Sozialverband verlassen, nach dem Tod eines Freundes