Das Modell des Konsequenten Humanismus. Hans Widmer

Das Modell des Konsequenten Humanismus - Hans Widmer


Скачать книгу
zu wählen, die Denken für die Welt hervorbringt, in der Instinkte allein nicht ausreichen. Im Raum, den Freier Wille eröffnet, tut sich die Möglichkeit gelingenden Lebens auf: »Glück«.

a00_Ontologischer_Kreis.jpg

      Ontologischer Kreis

      Das Modell begründet, was gelingendes individuelles Leben ist, und was dazu führt; ebenso, welches seine Voraussetzung ist: der »Zweckmäßige Staat«, und dessen Voraussetzung: »mündige Bürger«. Beides bedingt einander, beides leitet sich aus den vorangegangenen Stufen her und bildet das Fundament dafür, dass »alle Menschen gleich glücklich sein könnten«.Lichtenberg

image006.jpg

      Georg Christoph

       Lichtenberg, 1742–1799

      Jede wissenschaftliche Erkenntnis beruht auf einem Entwurf, der die »Probe am Probierstein der Wirklichkeit«Kant bestanden hat. Im Modell des Konsequenten Humanismus ist das Ganze der Entwurf. Dieser besteht die Probe, da jede seiner Stufen als Wissenschaft belegt ist und jede Stufe aus der vorangehenden stringent hervorgeht. Dabei wird deutlich: Erkenntnis ist das, was das Bewusstsein aufbaut, und nicht wie bei Platon: Stücke eines vor den Menschen bestehenden Erkenntnisinventars, dem sie allmählich auf die Spur kommen.

      Hyperstasen

      Das vorgelegte Modell ist mit zwei didaktischen Herausforderungen konfrontiert:

      –mit einer Art von Unschärferelation: die für Schlüssigkeit notwendige Fülle von Erkenntnissen ist unüberblickbar, umgekehrt ist die Argumentation mit unvollständigen Erkenntnissen nicht schlüssig;

      –mit der Überführung von einer Stufe zur andern.

      Um der Unschärferelation beizukommen, braucht es Verdichtung, Veranschaulichung und Begriffe wie »Selbstorganisation«, »Evolution«, »Datenverarbeitung«, die weitläufige Tatbestände umfassen und zugleich deren Essenz nicht verfehlen. Dabei ist die Fülle an Einzelerkenntnissen kein Hindernis für ein Gesamtbild, sondern dessen Voraussetzung, wie beim Erstellen eines Puzzles.

      Für das schwierige Verständnis der Sprünge von einer Stufe zur nächsten sei an Folgendes erinnert:

      –die Burg im Sandkasten ist zwar aus Sand, aber sie ist nicht Sand, sondern Burg, sie ist etwas Neues und im Sand nicht schon enthalten;

      –eine Melodie besteht aus ihren Tönen, aber ihre Essenz sind nicht die Töne;

      –Leben besteht aus Molekülen, aber dessen Essenz sind nicht die Moleküle.

      Hinzu kommt das Phänomen der Selbst-Organisation: Wird eine Ladung Kies auf den Bauplatz gekippt, entsteht ein Schüttkegel; dieser organisiert sich selbst, er wurde nicht vorausgedacht; oder werden gleiche Kugeln aneinandergeschoben, organisieren sie sich ohne jedes Dazutun zu gleichseitigen Dreiecken. Das selbstorganisierte Aus-einanderhervorgehen der Stufen erfasst das Modell mit dem neuen Begriff »Hyperstase«1: Hyperstase = Produkt der Selbstorganisation eines Substrats.

      Unerklärbare Basis – sechs Hyperstasen

      Der Mensch hat nicht die Welt im Kopf, sondern Vorstellungen davon, und das Koordinatensystem für jegliches Abbilden sind Raum und Zeit. Wer sich, ohne jede philosophische Absicht, fragt, was Raum und Zeit seien, muss bald einsehen, dass es unmöglich ist, diese auf andere Begriffe zurückzuführen oder sie wegzudenken; sie bilden das nicht überschreitbare Koordinatensystem für die Vorstellung der Welt. Mit dieser Einsicht entfällt ein Komplex philosophischer Fragen, etwa, was Zeit sei oder Ewigkeit, warum überhaupt etwas sei und was der Zweck davon. Deduktive Physik hebt die Unverträglichkeit von Einsteins Relativitätstheorie mit den Anschauungen a priori auf.

image007.jpg

      Selbstorganisation

      I. Hyperstase: So wie ein Hurrikan aus Ungleichgewichten entsteht und aus Luft und Wasser besteht, aber nicht Luft und Wasser ist, sondern Dynamik davon, so ist Masse Dynamik des Kontinuums. Dieses ist spezifiziert, während Anaximanders Apeiron, Plotins Ureines, Descartes’ Äther, Einsteins Raum-Zeit-Kontinuum bloße Ideen waren. Die Mathematik, um das Verhalten eines Kontinuums zu erfassen, sind Feldtheorien. Alle großen Theorien induktiver (konventioneller) Physik sind Feldtheorien; mit diesen kann sie das Verhalten von Elementarteilchen bis Galaxien berechnen, nicht aber begründen.

      II. Hyperstase: Das Zusammenwirken von elementaren Massendynamiken führt wieder zu etwas gänzlich Neuem: Strukturen. Der Grund dafür liegt darin, dass die der Massendynamik inhärente Rotation im Raum eine Achse definiert (Spin), also eine Ausrichtung, was Raum als Anschauung nicht hat. Die unterste Hierarchiestufe stabiler Strukturen sind Protonen und Neutronen, daraus bilden sich zusammen mit ebenfalls stabilen Elektronen Atome, daraus Moleküle, unter geeigneten Umständen komplexe organische Moleküle (die noch kein Leben sind). Die Wissenschaft, die Zustandekommen und Zusammenhalt der Strukturen beschreibt, heißt Quantenmechanik. Sie wurde im Wesentlichen erraten, geht in der deduktiven Physik zwingend aus der Massendynamik hervor und steigt damit vom Olymp des Unbegreiflichen ebenso herunter wie die Relativitätstheorie.

image008.jpg

      Plotin, 205–270 ; René Descartes, 1596–1650

      III. Hyperstase: Die Essenz des Sprungs zu Leben liegt in einem Zyklus von Strukturen, worin das Positiv der DNA der Bauplan für das Negativ ist und umgekehrt (Hyperzyklus). Damit tritt das Phänomen Information ins Universum. Auf der Erde naturgesetzlich, im Universum offenbar selten.

      IV. Hyperstase: Das Zusammenwirken von biologischen Molekülen in Zellen und von Zellen miteinander wird durch Konzentrationen und Abgrenzungen gelenkt: Was aufeinander wirken soll, ist in Berührung, und was nicht, ist getrennt. Der nächste große Sprung ist jener zu Stellvertretern für die von Molekülen ausgehenden Kräfte, zu bloßen Signalen. Es ist der Sprung zu biologischer Datenverarbeitung – dem Urgrund von allem Geistigen.

      V. Hyperstase: Das Wesentliche des Sprungs von biologischer Datenverarbeitung zu Denken liegt in Entkopplung und Verselbständigung gewisser Datenverarbeitung von reflex- und instinktgetriebenen Zwängen. Diese entkoppelte Datenverarbeitung baut eine Vorstellung der Welt auf, die beim Kleinkind bald so umfassend wird, dass sie das Subjekt selbst enthält. Wieder liegt ein Zyklus vor: Das Subjekt denkt – Denken bringt das Subjekt hervor.

      Der Mensch ist durch die Gesetzmäßigkeiten von Leben allein nicht zu erklären. Was ihn ausmacht, Denken oder gleichbedeutend: Bewusstsein, unterscheidet ihn von andern Primaten nicht bloß graduell, sondern kategorisch. Mit Bewusstsein tritt ein ebenso neues Phänomen ins Universum wie Leben selbst. Bewusstsein ist die Horizonterweiterung, der alle Lust, alles Leid, alle Furcht, alle Zuversicht, alles Menschliche entspringt.

      Bewusstsein impliziert Freien Willen als Begleiterscheinung, nicht als weitere Hyperstase. Der Mensch ist nicht frei, als was und in welche Welt er »geworfen« sein wolle. Seine Freiheit liegt im jeweils nächsten Schritt und ist doch die Freiheit, die er empfindet. Ebenso ist »Glück« eine Begleiterscheinung, nämlich der physiologischen Natur von Lernen: Lebensförderliche Absichten und Erfahrungen führen zur Ausschüttung von Hormonen, die bejahende Stimmung hervorrufen.

      VI. Hyperstase: Über zahllosem menschlichen Leben entfaltet sich als letzte Hyperstase Kultur, die mehr ist als Summierungen von individuellem Verhalten: Es entstehen Sprache, Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Religion. Dies alles organisiert sich in historischen Zeiträumen selbst und entwickelt sich aus gering unterschiedlichen Anfängen zu ausgeprägten, eigenständigen Kulturen, obschon deren Substrat immer dasselbe ist: die menschliche Natur.

Скачать книгу