Das Modell des Konsequenten Humanismus. Hans Widmer
Robert Walser,
1878–1956
Genetisch entwickelte sich der Mensch im Zeitraum der Menschheitsgeschichte nicht weiter. Davon gingen etwa Jacob Burckhardts »Weltgeschichtliche Betrachtungen« aus: »… vom einzig bleibenden … duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird.« Hingegen evolvieren die religiöse, politische und wirtschaftliche Organisation von Gesellschaften, und diese stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen das Individuum, sein Bewusstsein und seine Aspirationen heranwachsen. Die Entwicklung des Rahmens war übrigens im 20.Jahrhundert in Bezug auf Menschenrechte, Demokratie, Bildung, Gesundheit und Wohlstand substantiell – bei allen barbarischen Rückschlägen. Doch bleibt der Weg zu einer Kultur, die der menschlichen Natur angemessen ist, zu »Konsequentem Humanismus«, noch weit.
Humanismus steht, verdichtet, für das Bemühen um artgerechte Lebensinhalte und Gesellschaftsbedingungen. Von Horaz bis in den deutschen Idealismus im 18./19. Jahrhundert wurde Humanismus poetisch und emphatisch besungen, um der Realität aufs Tragischste zu unterliegen: statt der hohen Ideale dominierten Kriege, Genozide, Kommunismus, Nationalsozialismus. Allmählich verstummten die Hymnen, nach dem Zweiten Weltkrieg gar radikal. Das humanistische Ideal war nicht falsch, doch genügt es nicht, das Wünschbare zu wünschen. »In Friedenssachen spielen Talent und Instinkt eine erheblichere Rolle als die gute Absicht, die an sich etwas total Charakterloses ist.«Robert Walser
Horaz, 65–8 v.Chr.
Konsequenter Humanismus ist derjenige Idealismus, der von Erkenntnis, dem Vermögen, das den Menschen definiert, ausgeht. Tragfähig ist nur, was auf der Wirklichkeit – diejenige Vorstellung der Welt, die von der Welt bestätigt wird – baut. Von den Anschauungen a priori über Hyperstasen aufsteigend, ergibt das Modell des Konsequenten Humanismus unausweichlich, dass individuelles Glück nicht geringer ausfallen muss als das kühner Träume, vorausgesetzt, Menschen sind zweckmäßig organisiert, wissen, was gewusst werden kann, halten ihre Absichten über den Tag hinaus ein. Gesellschaften sind zweckmäßig organisiert, wenn Individuen selbst bestimmen, was sie bestimmen können; analog Gemeinde, Provinz, Staat; und Staaten damit im Dienst der Entfaltung ihrer Bürger stehen.
Da das Modell strikt der Ratio folgt, argumentiert es dann nicht am »Innersten«, am »Göttlichen« im Menschen vorbei? Nein: Die Vernunft
–hilft als Navigationsgerät dem unschuldigen, innersten Wesen durch die von Menschen geschaffene Welt; je tragfähiger die Erkenntnis, desto sicherer;
–leitet das Individuum nicht nur an, sich in dieser Welt zurechtzufinden, sondern auch das Innerste in seiner Reinheit, Weisheit und Lebensfreundlichkeit zu erkennen und zu wecken;
–legt damit das Göttliche im Menschen frei;
–weist den Weg, über alles Drängen und Sperren in Gemüt und Welt hinweg, zum eigentlichen, unveräußerbaren Besitz: der verständigen, beständigen, bejahenden Persönlichkeit.
Unbequem daran ist: Die Erkenntnis muss erworben werden. Wäre in der Welt die Liebe zu Erkenntnis so groß wie in religiösen Bekenntnissen die Liebe zu Gott – die Menschheit wäre weiter. Um mit Horaz zu sprechen: »Sapere aude.«
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Unerschütterliches
Fundament aller Erkenntnis:
Anschauungen a priori
Wirklichkeit und Abbildung
Johann Wolfgang von
Goethe, 1749–1832
Die Vorstellungen im menschlichen Gehirn werden aktiv hervorgebracht und sind nicht bloß Spiegelungen der Außenwelt. Visuelle Bilder etwa sind das Produkt der Verarbeitung einfallender elektromagnetischer Strahlung. Wie synthetisch das Bild ist, illustriert die Vertauschung durch eine Operation der Sehnerven eines Chamäleons: danach wirft es seine Zunge exakt in die Gegenrichtung der Beute. Die Illusion ist perfekt: Das Subjekt hält sich für einen unbeteiligten Zeugen der Anwesenheit der Gegenstände und verlässt sich auf das konstruierte Bild in unbeschränkter Selbstverständlichkeit. Goethe hingegen hat sich »beim Betrachten der Natur … unausgesetzt die Frage gestellt: ist es der Gegenstand, oder bist du es, der sich hier ausspricht?«
Für eine Fotografie braucht es Fotopapier, dessen Moleküle auf Wellenlängen von einfallender elektromagnetischer Strahlung spezifisch reagieren, zum Beispiel auf 400 Nanometer so, dass violettes Licht reflektiert wird. Aber Mona Lisa kann auch durch geeignete Gräser auf einem Feld dargestellt, oder ein Straßenverlauf mit der großen Zehe in den Sand gezeichnet werden. Für ein Bild braucht es ein Substrat, und es kommt nicht drauf an, was dieses selbst ist; im Bild braucht es eine Ordnung unter den Bildpunkten. Auf einer Fotografie beispielsweise gibt es keine räumlichen, sondern bloß zweidimensionale Relationen, die das Auge mit Hilfe der Gesetze der Perspektive zu räumlichen Gegenständen rekonstruiert. Eine Zeichnung im Sand, »da ist Rom und da Paris«, impliziert Maßstab und NordSüdAchse; bei der Bildfolge eines Films braucht es zusätzlich eine zeitliche Ordnung.
Thomas von Aquin,
1225–1274
Dies gilt nicht nur für visuelle Bilder, sondern für alle Vorstellungen: Wie immer das menschliche Gehirn Bilder konstruiert, sie müssen verlässlich durch die vorgestellte Welt helfen. Thomas von Aquin bringt es auf den Punkt: »Das Ding im Verstand wird nach der Weise des Verstandes – und nicht nach der Weise des Dinges aufgenommen.«
Wenn eingesehen wird, dass
–Raum nur durch Bewegung – also in der Zeit, Zeit ebenfalls nur durch Bewegung – also im Raum erfahren werden können,
–nur Körper solche »Erfahrungen« machen können,
–Körper dadurch gekennzeichnet sind, dass sie permanent (in der Zeit) und undurchdringbar (im Raum) sind,
so ist das kein Zirkelschluss, bei dem das Vorausgesetzte schon das zu Beweisende enthält, sondern es drückt sich die Natur des Darstellungsvorgangs aus, in der es bloß um die Übereinstimmung von Relationen geht. Körper, Raum und Zeit sind nicht die Wirklichkeit, sondern die phylogenetisch bereitgestellten Mittel, um die Vorstellung der Wirklichkeit hervorzubringen.
Die grundsätzliche und buchstäbliche Unbegreifbarkeit von Raum und Zeit führte Kant 1781 in die Philosophie als »Anschauungen a priori« ein: »Raum ist keine Erfahrung, da alle räumliche Erfahrung die Vorstellung von Raum voraussetzt.« Und: »Zeit ist nichts als die subjektive Bedingung, unter der alle Anschauungen in uns stattfinden können.«
Mit »Körper«, in seinem Sprachgebrauch »Substanz«, tat sich Kant schwer. Er stellte zwar einen »Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz« auf: »Alle Erscheinungen sind in der Zeit … in [ihnen] muss das Substrat anzutreffen sein … [welches das] Beharrliche ist … Also ist in allen Erscheinungen das Beharrliche der Gegenstand selbst …« Die dieser SubstanzZeitBeziehung (Permanenz) analoge Verbindung zwischen Substanz und Raum (Undurchdringbarkeit) stellte er jedoch nicht her. Ihm fehlte dazu die AtomismusIdee, die alle Materie als aus kleinsten Einheiten zusammengesetzt deutet. Deshalb konnte er Substanz in ihrer »Mannigfaltigkeit der Erscheinung« nicht als Anschauung a priori einstufen, sprach aber darüber, als ob.
Kants Mühe mit dem Substanzbegriff ist kein Zufall, denn die Physik kann auch nicht sagen, was Substanz, in ihrem Fall »Masse«, ist. Wie »schwer« im Sinn von substantiell eine Masse ist, erkennt man an der Kraft, mit der sie die Erde anzieht: Masse mal Erdanziehung; und wie »träg« am Widerstand gegen Beschleunigung: Masse mal Beschleunigung. Gleichgesetzt