Das Modell des Konsequenten Humanismus. Hans Widmer

Das Modell des Konsequenten Humanismus - Hans Widmer


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aus der Lösung von Widersprüchen, und der Widerspruch, den Einstein zuerst löste, war dieser: Wenn sich eine Lichtquelle auf einen Beobachter mit Geschwindigkeit v zubewegt, und das Licht mit Lichtgeschwindigkeit c von der Quelle weggeht, dann erwartet der Beobachter intuitiv eine Ankunftsgeschwindigkeit von c + v. Aber gemessen wurde in den 1880er Jahren bekanntlich nur c (Michelson und Morley). Wie löste Einstein den Widerspruch? Sein erster Schritt enthält schon alle Irritation der späteren Resultate: Er sagte sich, wenn doch das Verhältnis von Weg zu Zeit für Licht immer c ergebe, müssten halt Weg und Zeit »relativiert« werden. Statt, wie Newton Raum und Zeit, setzte er also c absolut. Dann probierte er aus, wie sich ein Koordinatensystem K’ mit Ursprung in der Lichtquelle zum Koordinatensystem K des Beobachters verhalten müsse, damit Licht sowohl mit c von dort ausgesandt als auch mit c hier empfangen würde.

      Seine Folgerung war, dass Raum und Zeit um die Lichtquelle kontrahiert seien; die Konsequenzen gehen jedoch noch viel weiter: Masse nehme mit v zu und damit auch der Impuls (Impuls = Masse mal Geschwindigkeit). Zu einem Impuls3 gehört eine Energie, und ein Dreisatz liefert unmittelbar das Jahrhundertergebnis: nämlich dass diese Energie auch in Ruhe nicht null ist, sondern das berühmte ERuh= mc2 .4

      Einsteins Verblüffung müsste groß gewesen sein, wenn er eingesehen hätte, dass sein Resultat von Newtons Formulierung des Impulssatzes stammt: Hätte Newton bloß »Kraft gleich Masse mal Beschleunigung« geschrieben, wäre Einstein nicht weit gesprungen. Er hatte also Glück, denn einen experimentellen Nachweis, dass die intuitive Formulierung Newtons gilt, gab es 1905 nicht.5 Die Verblüffung war allerdings auch so schon groß, weil nun kinetische Energie als reine Zunahme von etwas zu verstehen war, das man in keiner Weise auf der Rechnung hatte: Ruhenergie mc2. Sie ist ein Fingerzeig dafür, dass Masse Dynamik ist, nicht Korpuskel.

      Der einfache Grund dafür, dass Licht von jeder Quelle mit c ausgestrahlt und von jeder Masse mit c empfangen wird, gleichgültig, ob sie sich gegeneinander bewegen, liegt aus Sicht der deduktiven Physik darin, dass

      –das Kontinuum unmittelbar an der Oberfläche einer Masse ruht (so ruht auch die Luft an der Ohrmuschel trotz stärkstem Wind – er bläst nicht in die Ohrmuschel hinein und hindurch),

      –die Ausbreitungsgeschwindigkeit von jeglichen Störungen (wie Wellen es sind) im ruhenden Kontinuum c ist.

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      Hendrik Antoon Lorentz,

       1853–1928

      Dennoch darf für die Frequenz der Lichtwellen, wenn sie beim Beobachter eintreffen, nicht einfach die lineare Addition erwartet werden (der Originalmenge an Signalen je Sekunde plus die durch das Heranrücken gewonnenen6), denn das in Ruhe kugelförmige Feld einer Masse wird kontrahiert, wenn sie sich mit v relativ zum Kontinuum bewegt – wie eine Quelle im Gegenstrom. Dadurch wird die Wellenlänge der Strahlung verkürzt, nämlich um den Faktor der Lorentz-Kontraktion, und die Frequenz wird umgekehrt proportional erhöht, was zum Dopplereffekt7 führt, bei dem die Frequenz rascher als linear ansteigt und für v → c unendlich wird (entsprechend einem Überschallknall). Damit lassen sich alle Ergebnisse der Speziellen Relativitätstheorie verstehen und ebenso einige der Allgemeinen, wenn in den Formeln das kinetische Potential durch das Gravitationspotential ersetzt wird. Es reicht also die Annahme eines Kontinuums und die Darstellung einer Massendynamik darin, um die mit Denken inkompatible Idee zu vermeiden, Raum und Zeit würden sich dehnen und krümmen.

      Die Voraussagen der Relativitätstheorie treffen zu, aber Einsteins Deutungen der korrekten mathematischen Ergebnisse als Dehnung von Raum und Zeit sind zu ersetzen:

      –nicht die Zeit der bewegten Masse läuft langsamer, sondern ihre Signale zum Beobachter sind länger unterwegs;

      –nicht der Raum dehnt oder kontrahiert sich, sondern das Kontinuum im Raum, analog der Luft, die einen Körper umströmt;

      –nicht die Masse nimmt mit Geschwindigkeit zu, sondern ihre Wirkung – etwa das Prasseln des Regens bei hoher Geschwindigkeit auf der Windschutzscheibe;

      –Masse ist als Dynamik zu denken, wozu E= mc2 geradezu zwingt, und die Vorstellung von buchstäblich undenkbaren Korpuskeln ist aufzugeben.

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      Lorentz-Kontraktion

      Letztlich formalisiert die Relativitätstheorie nur die Relativität von Wechselwirkungen: Nähert sich ein Motorrad einem Beobachter, registriert er höhere Töne, entfernt es sich, tiefere. Mehr gibt die RT für die Philosophie nicht her, hingegen läutete sie in der Physik eine neue Epoche ein.

      Irritation durch die Quantenmechanik

      Am Anfang der Bewusstseinsentwicklung eines Säuglings steht ungerichtetes Bewegen der Glieder, bis eine Wirkung erzielt wird, die nach einigem Wiederholen als Aktion-Wirkung-Schema gespeichert wird. Die Aktion entspringt keinem physiologischen Bedürfnis, sondern einem Reflex, der das Gehirn trainiert. Das Schema enthält die Vorstellung vor der Auslösung der Aktion, so wie sich der Vogel die Landung »vorstellt«, bevor er sich auf einem Ast niederlässt.

      Auf diese Weise registriert das Kind eigene Absichten, und mit neun Monaten erkennt es seine Intentionen in einem solchen Grad, dass es anderen Menschen ebensolche unterstellt. Ja, es versteht sie als die seinen Intentionen analogen intentionalen Wesen schlechthin. Dies manifestiert sich im Zeigen auf Dinge und Personen, also im Mobilisieren der Aufmerksamkeit dieser Wesen, was selbst bei den aufmerksamsten andern Primaten nicht zu beobachten ist.Tomasello Im Analogieschluss unterstellt es später allen Vorgängen Absichten, wird einmal sagen: »Der Ball will zu mir«; es sucht Intentionalität überall: »Warum will der Kirschbaum blühen?« Und es bringt beständig UrsachenHypothesen hervor: »Der Mond scheint, damit wir den Weg nach Hause finden.« Entsprechend beginnt die Geistesgeschichte: Mythologien erfinden intentionale Wesen als Antwort auf alle Fragen nach Ursachen und Zwecken, Religionen antworten mit Schöpfungsgeschichten.

      Das Kind der westlichen Zivilisation lernt allmählich, Intentionalität in Kausalität zu transponieren und die Wirklichkeit aus der Wirklichkeit zu erklären. Dies ist der gewaltige Schritt, den die Vorsokratiker mit Kausalitätsprinzip: »Alles hat eine Ursache« und Kausalitätsgesetz: »Gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen« machten.

      Eine der ersten experimentellen Erfahrungen des Kindes von Kausalität ist, dass der Körper, der zuerst ist, weggebracht werden muss, wenn ein anderer seinen Platz einnehmen soll. Kant hielt Kausalität für a priori; sie ist es jedoch insofern nicht, als sie in letzter Regression darauf zurückzuführen ist, dass Raum nur durch einen Körper eingenommen werden kann, weshalb sie in den drei Anschauungen a priori Raum, Zeit, Körper schon enthalten ist. Kausalität beschreibt Abfolgen von Zuständen, also von stehenden Bildern, deren frühere als Ursachen und die späteren als Wirkungen bezeichnet werden. Die stehenden Bilder sind subjektive Konstrukte – objektiv betrachtet »fließt alles«, wird eines aus dem andern, und in diesem Sinn ist alles, was geschieht, von vornherein »kausal«.

      Anfang des 20.Jahrhunderts drangen physikalische Experimente in atomare Dimensionen vor und entdeckten eine a-kausale, unerklärliche Welt. In den 1920er Jahren entwickelte eine Handvoll genialer Physiker die Quantenmechanik (QM), mit der all die Wahrscheinlichkeiten und unerklärlichen Zustände berechnet werden können – nicht aber begründet, weshalb die Unbestimmtheiten für objektiv erklärt und die Wahrscheinlichkeitsrechnungen in den Rang von fundamentalen Naturgesetzen gehoben wurden. Damit wurde die Erwartung von Kausalität an der Basis aller Erscheinungen schachmatt gesetzt. Die Philosophie war baff, und die herkömmliche Physik wurde zusätzlich zur RT um eine weitere kolossale Dimension erweitert.

      In der deduktiven Physik gehen alle quantenmechanischen Tatbestände aus Interferenzen der Wellen hervor, die von Massen abgestrahlt werden, und die das Kontinuum überträgt. Die bestimmten Werte stellen sich als Resonanzen heraus – wie Schwingungen in Musikinstrumenten –, und die Unbestimmtheiten als Folge davon, dass Wechselwirkungen


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