Das Modell des Konsequenten Humanismus. Hans Widmer

Das Modell des Konsequenten Humanismus - Hans Widmer


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nämlich die Wechselwirkung von Massen – nicht was Masse ist.

      Physik nimmt Masse einfach als gegeben hin, leitet aus ihrem Verhalten Kraftfelder ab und kleidet diese mathematisch in Feldtheorien. In allen Feldtheorien verborgen ist ein Kontinuum, bei Einstein das »Raum-Zeit-Kontinuum«. Konventionelle Physik geht demnach induktiv vor: Sie schließt von der Erscheinung auf ein Kontinuum.

      Die deduktive Physik geht den umgekehrten Weg: von Kontinuum zu Masse als Dynamik davon. Die Konstituenten dieses Kontinuums sind reine Körper, definiert als permanente, undurchdringbare Volumina, Gegenstücke zu leerem Raum und durch nichts Weiteres gekennzeichnet, weshalb die deduktive Physik »Körper« als dritte Anschauung a priori zu »Raum« und »Zeit« hinzufügt. Damit benötigt sie für die Darstellung der materiellen Welt nur das Koordinatensystem, das durch Raum und Zeit aufgespannt wird, sowie Körper darin und leitet daraus alle materiellen Erscheinungen ab.

      Die drei Anschauungen a priori haben eine Entsprechung in den drei Fundamentalkonstanten der Physik, was Philosophie wie Wissenschaft darin bestärken würde, dass sie die Basis für alle Erkenntnis bilden – wenn nicht vor hundert Jahren die Relativitätstheorie (RT) mit Vorstellungen gekommen wäre, die die Anschauungen a priori für nichtig erklärte: mit sich dehnender Zeit, sich dehnendem und krümmendem Raum und mit Masse, die mit eigener Geschwindigkeit anwächst – bei Lichtgeschwindigkeit ins Unendliche.

      Die triumphale experimentelle Bestätigung der Voraussagen Einsteins entzog der Philosophie den sicheren Boden. Um diesen wiederzugewinnen, ist eine Auseinandersetzung mit der RT vonnöten. Da das Bewusstsein von Raum und Zeit als vom eigenen Dasein unabhängigen Dimensionen bei Kindern nicht von Anfang an ausgebildet ist, ist zuvor zu betrachten, wie dieses sich als Abstraktions und Objektivierungsleistung einstellt.

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      Deduktive Physik

      Was hat der davon, der weiß, wie Materie gedacht werden kann? Einmal wird sein natürlicher Reflex, der alles erklärt haben muss, beruhigt. Er kann darauf aufbauen und sich über wenige Stufen »Leben« erklären. Er kann »Geist« verstehen, dessen Essenz zwar das Materielle überschreitet, jedoch Struktur von Materie ist. Er ist schließlich von aller Spekulation befreit und frei, mit auf unerschütterlichem Grund erkannten Gesetzmäßigkeiten seine Vorstellung der Welt aufzubauen.

      Erwerb der Raum-Zeit-Begriffe

      Mit der Freiheit der Bewegung entsteht das Bedürfnis, den Freiraum dafür zu erkunden. Dabei kommt es nur auf die Unterscheidung »Freiraum« oder »Undurchdringbarkeit« an, nicht darauf, was das undurchdringbare Hindernis ist.

      Die ersten Tast-Erfahrungen des Säuglings konstatieren Undurchdringbarkeit: Ist ein Körper im Weg der Händchen oder nicht? Seine Spiele mit Klötzchen lehren ihn einzusehen, dass nicht zwei denselben Raum einnehmen können, wie umgekehrt, dass eines nicht an zwei Orten zugleich sein kann. Mit acht Monaten hat er die Permanenz verinnerlicht: Versteckt man Gegenstände unter einer Decke, sucht er sie; zuvor noch hatte er sich einfach etwas anderem zugewandt.

      Raum manifestiert sich zunächst nur als Distanz vom Kind zu einem Gegenstand, später erweitert sich die Perspektive über die Einsicht in Längenunterschiede. Bezüglich Zeit gibt es zunächst früher und später, schneller und langsamer, länger und kürzer. Wenn eine von zwei parallellaufenden Spielzeugeisenbahnen schneller fährt, sagt das Kleinkind, diese komme weiter – was es sieht; es kann aber nicht ausdrücken, diese käme früher ans Ziel.

      Eine objektive Zeit und einen objektiven Raum, je von seiner Anwesenheit unabhängig, rechnet ein Kind erst mit sieben, acht Jahren hoch – und kann fortan Raum und Zeit nie mehr wegdenken. Sie sind unentrinnbar, und doch war die Philosophie schachmatt, als das Experiment von 1919 während der Sonnenfinsternis in England die Mathematik Einsteins bestätigte, die er als Folge von Dehnung und Krümmung von Raum und Zeit auslegte, was aus der Sicht der deduktiven Physik unnötig ist.

      Fundamentalkonstanten

      Induktive Physik stellt die materielle Welt wohl in Raum und Zeit dar, aber statt der Dimension »Körper« behilft sie sich mit »Masse«.

      Sie definiert Masse über ein bestimmtes Volumen einer bestimmten Substanz: ein Liter Wasser sei ein Kilogramm, und alle Substanz, die so träg und so schwer ist, auch.

      Alles, was Physik aussagt, sagt sie in den drei Dimensionen Länge (für Raum) in Meter m; Zeit in Sekunden s; Masse in Kilogramm kg. Elektrizität ist mit Masse über die dimensionslose Feinstrukturkonstante α verbunden und repräsentiert keine zusätzliche Dimension. Ebenso, wie sie sich in drei Dimensionen ausdrückt, findet sie drei Fundamentalkonstanten1:

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      Meter, Sekunde und Kilogramm sind arbiträre Maßstäbe: ein 40’000’000stel des Äquatorumfanges, ein 86’400stel eines Tages, Trägheit und Schwere von einem Liter Wasser – hingegen sind die Fundamentalkonstanten c, G, ħ Tatsachen, die unabhängig von den Maßstäben der Physik sind, was sie sind. Hätten sie andere Werte, sähe die Welt anders aus: Elementarmassen wären größer oder kleiner, oder es gäbe gar keine. Die Gravitation wäre so stark, dass alle Himmelskörper zu einem Klumpen zusammengezogen würden, oder so schwach, dass keiner zusammenhielte. Die quantenmechanischen Interferenzen wären so schwach, dass die Elektronen in die Atomkerne stürzten und somit keine Moleküle und schon gar nicht Leben entstünde etc.

      Da in der deduktiven Physik die Fundamentalkonstanten die Eigenschaften sind, die das Kontinuum in Raum und Zeit kennzeichnen, und da sie alle Materie aus der Dynamik dieses Kontinuums herleitet, sind alle Erscheinungen auf Anschauungen a priori zurückgeführt und werden damit »auf die Weise des Verstandes«von Aquin aufgenommen.

      Raum und Zeitkoordinaten laufen ins Unendliche, was ihre Natur als Anschauungen hervortreten lässt. Das Universum hingegen, das in diesen Koordinaten abgebildet wird, erweist sich als endlich. Im Nachhinein können die beiden Giganten versöhnt werden: Newtons »absoluter Raum« und »absolute Zeit« beziehen sich auf das Koordinatensystem aller Vorstellung – Einsteins »absolute Lichtgeschwindigkeit« auf das darin vorgestellte Kontinuum.

      Irritation durch die Relativitätstheorie

      Kants Anschauungen a priori sind die grundlegendsten Einsichten in Denken, die Philosophie hervorgebracht hat, zugleich sind sie die am hartnäckigsten verweigerten: Denker legen immer von neuem Spekulationen vor, insbesondere darüber, was Zeit sein könnte.

      1905 führte Einstein die Begriffe »Raumdehnung«, »Zeitdilatation« und »Raum-Zeit-Kontinuum«, zehn Jahre später auch noch »Raumkrümmung« ein und stiftete damit Verwirrung und Erlösung zugleich: Verwirrung für diejenigen, die die Anschauungen a priori begriffen glaubten; Erlösung für die anderen, denn nun gab es etwas weit Unbegreiflicheres, also musste dies die Wahrheit sein.

      Schon die Spezielle Relativitätstheorie (Spezielle RT) übersteigt alle Anschauung gleich zu Beginn der Herleitung: Erst wird für Abstände ein »Vierervektor« eingeführt, dann um einen imaginären Winkel gedreht, später aus formalen Gründen geschlossen, Impuls sei auch ein Vierervektor (mit Zeit in der vierten Dimension) – und nach einer Kette abstrakter Operationen ist E = mc2 da. Ein ETH-Professor* zu seinen Studenten: »Ihr geht da Schritt für Schritt durch, akzeptiert, was rauskommt, und versteht nichts. Niemand versteht das.«

      In seinen Vorlesungen in Princeton im Mai 1921 mokierte sich Einstein darüber, dass die Physiker die »Begriffe über Raum und Zeit ... aus dem Olymp des a priori herunterholen mussten ...« Dabei verwechselte er augenfällig »a priori« mit »absolutum« und verkannte, dass Kants Anschauungen a priori eine ungleich einschneidendere Relativität feststellten als seine Relativitätstheorie, nämlich jene zwischen Denken und Wirklichkeit – nicht bloß zwischen relativ zueinander bewegten (Spezielle RT) oder in Wechselwirkung stehenden Körpern (Allgemeine RT).2

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      Albert


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