Greifen und BeGreifen. Sally Goddard Blythe
zu den Vestibularkernen und werden zu den Augen weitergeleitet. Informationen von den Augen wiederum passieren die Vestibularkerne und gelangen dann zu den Propriozeptoren im Körper, um die angemessenen Anpassungen vorzunehmen.
Ein erhaltener Tonischer Labyrinthreflex verzerrt den Informationsfluss zwischen den Vestibularkernen und den Propriozeptoren des Körpers, was wiederum Auswirkungen auf die Augen hat. Daraus entwickelt sich dann in dreierlei Hinsicht ein nicht aufeinander abgestimmtes System.
Der Tonische Labyrinthreflex kann auch verhindern, dass das Kind auf Händen und Knien krabbelt, da die Bewegung des Kopfes zum Ausstrecken der Beine führt. Der Symmetrische Tonische Nackenreflex wird ebenfalls im System „eingeschlossen“ bleiben in seinem vergeblichen Versuch, den Tonischen Labyrinthreflex außer Kraft zu setzen, der das Kriechen und Krabbeln verhindert. Kriechen und Krabbeln dienen einerseits als Training, andererseits unterstützen sie den Prozess der Reflexhemmung. Beide erleichtern die Integration sensorischer Information, da das Gleichgewichtssystem, das visuelle System und das propriozeptive System zum ersten Mal in einer neuen Beziehung (Position und Orientierung) zur Schwerkraft zusammenarbeiten. Während dieser Phase der Bewegungsentwicklung verfeinert das Kind weiterhin sein Gefühl für Balance, Raum und Tiefe. Beim Kriechen und Krabbeln wird das „Rohmaterial“ des Sehens, Fühlens und der Bewegung zum ersten Mal synchronisiert, um dem Kind ein vollständigeres Bild der Umwelt zu liefern.
Der fortgesetzte Einfluss des Tonischen Labyrinthreflexes kann sich noch auf viele andere Funktionsgebiete auswirken: Balance und Bewegung werden beeinträchtigt. Längeres Stehen kann ermüden, denn eventuell muss die Haltung beim Versuch, sich mit dem Reflex einzurichten, immer wieder verändert und angepasst werden. Das kann sich in einer allgemeinen Neigung zum Vorbeugen äußern oder durch die Neigung mit vorgestrecktem Kopf dazustehen. Es kann auch sein, dass das Kind einen sehr schlaffen Muskeltonus hat und einen trägen Eindruck macht oder dass seine Bewegungen (vor allem, wenn es geht, rennt oder springt) ruckartig und steif sind. Solche Kinder entwickeln manchmal Höhenangst, da sie sich ihrer schlechten Balance bewusst sind. Aus Erfahrung wissen sie auch, dass eine Bewegung des Kopfes nach vorn dazu führt, dass die Knie sich beugen und so im Ganzen die Empfindung entsteht, vorwärts und in die Tiefe zu fallen. Auch kann das Hochhalten der Arme schnell sehr anstrengend werden. Diese Kinder registrieren Veränderungen der Beschaffenheit des Bodens unter ihren Füßen mit großer Empfindlichkeit, da sie versuchen, den Boden mit den Füßen zu „greifen“ um das Gleichgewicht zu halten.
Die daraus resultierende okulomotorische Fehlfunktion bringt es mit sich, dass die Augen dem Kind Streiche spielen, so dass es sich nicht immer auf das verlassen kann, was es sieht. Die Wahrnehmung von Tiefe ist unter Umständen gestört.
Betroffene Kinder können ebenfalls unter einem „figure-ground effect“ leiden (= Problem mit der Figur-Grund-Unterscheidung): Dem Kind fällt es schwer, sich widersprechende visuelle Informationen zu trennen und zu ordnen, zum Beispiel beim Gehen auf einer offenen Treppe oder auf einer Holzbrücke, durch deren Bohlen man das Wasser sehen kann. Es ist auch möglich, dass ein Kind Schwierigkeiten hat, die Augen von Weit- auf Nahsicht umzustellen, so dass es in der visuellen Information, die es empfängt, einen „blinden Fleck“ gibt. Hierdurch sind nicht nur diejenigen Fertigkeiten betroffen, die räumliche Wahrnehmung erfordern. Diesen Kindern fällt es häufig auch schwer, Geräusche zu lokalisieren. Hinzu kommt, dass sie leicht die Orientierung verlieren.
Die Kontrolle über den Kopf und eine gute Balance sind essentiell für das automatische Funktionieren aller anderen Körpersysteme – ein anhaltender Tonischer Labyrinthreflex verhindert sowohl die vollständige Entwicklung der Kopfkontrolle als auch der automatischen Balance.
Symptome, die auf einen stark fortbestehenden Tonischen Labyrinthreflex (vorwärts) hindeuten:
1. Schlechte Haltung – krummer Rücken.
2. Hypotonie (schwacher Muskeltonus).
3. Probleme, die mit dem Gleichgewichtsorgan zusammenhängen:
– Schwach entwickelter Gleichgewichtssinn
– Neigung zu Reiseübelkeit (besonders im Auto)
4. Abneigung gegen sportliche Aktivitäten, Sportunterricht, Laufen etc.
5. Okulomotorische Dysfunktionen:
– Visuelle Wahrnehmungsprobleme.
– Räumliche Wahrnehmungsprobleme.
6. Schwächen im Erkennen und Einhalten von Abfolgen.
7. Schwach ausgebildetes Zeitgefühl.
Symptome, die auf einen stark fortbestehenden Tonischen Labyrinthreflex (rückwärts) hindeuten:
1. Schlechte Haltung – Neigung, auf Zehenspitzen zu gehen.
2. Schlechte Balance und Koordination.
3. Hypertonie: steife, ruckartige Bewegungen, da die Streckmuskeln größeren Einfluss ausüben als die Beugemuskeln.
4. Probleme, die mit dem Gleichgewichtsorgan zusammenhängen:
– Schwach entwickelter Gleichgewichtssinn.
– Neigung zu Reiseübelkeit.
5. Okulomotorische Dysfunktionen:
– Schwierigkeiten bei der visuellen Wahrnehmung.
– Räumliche Wahrnehmungsprobleme.
6. Schwächen im Erkennen und Einhalten von Abfolgen.
7. Schwach ausgebildete Organisationsfähigkeit.
Der Symmetrische Tonische Nackenreflex
Beugung
Entstehung: bei der Geburt präsent.
Hemmung: 8–11 Monate nach der Geburt.
Wenn das Kind sich in der Vierfüßlerposition befindet, führt das Beugen des Kopfes zu einer Beugung der Arme und zur Streckung der Beine.
Streckung
Entstehung: bei der Geburt präsent.
Hemmung: 8–11 Monate nach der Geburt.
Das Heben des Kopfes führt zu einer Beugung der Beine und zur Streckung der Arme.
Der Symmetrische Tonische Nackenreflex ist nur eine sehr kurze Zeitspanne nach der Geburt präsent, um dann zwischen dem 8. und 11. Lebensmonat vorübergehend erneut aufzutreten. Möglicherweise soll er, ähnlich wie der Schreitreflex, durch seine kurzzeitige Präsenz das Neugeborene dazu befähigen, sich gleich nach seiner Geburt über den Bauch der Mutter zur Brust hoch zu bewegen. Videoaufnahmen wacher neugeborener Babys, deren Mütter während der Geburtswehen keine Schmerzmittel erhielten, zeigen, wie diese Babys zur Brust „kriechen“ und dabei offenbar eine Kombination des Schreitreflexes (mit den Füßen stoßen) und des Symmetrisch Tonischen Nackenreflexes nutzen (Anbeugen der Beine, um den Körper vorwärts zu stoßen). Dasselbe Video zeigt, wie Babys, deren Mütter während der Geburt Schmerzmittel erhielten, einfach zu müde waren, um diese Reise aus eigener Kraft zu bewältigen.
Später dann hilft dieser Reflex dem Baby die Schwerkraft zu bewältigen, wenn es sich zwischen dem 8. und 11. Lebensmonat aus der Bauchlage auf Hände und Knie aufrichtet.
Capute (1981) hat darauf hingewiesen, dass wir es hier eventuell nicht mit einem echten Reflex zu tun haben, sondern mit einer entscheidenden Phase des Tonischen Labyrinthreflexes. Ganz sicher erleichtert er die Hemmung des Tonischen Labyrinthreflexes und bildet eine Brücke auf dem Weg zur nächsten Stufe der Fortbewegung: dem Krabbeln auf Händen und Knien. Während er allerdings dem Kind erlaubt, eine Vierfüßlerhaltung einzunehmen, verhindert er eine Vorwärtsbewegung in dieser