Greifen und BeGreifen. Sally Goddard Blythe
Langzeitwirkungen eines beibehaltenen Moro-Reflexes
1. Vestibuläre (Gleichgewichts-) Probleme wie Reiseübelkeit, schlechte Balance und Koordination, was sich vor allem bei Ballspielen zeigt.
2. Körperliche Furchtsamkeit.
3. Okulomotorische Probleme und Probleme mit der visuellen Wahrnehmung, wie zum Beispiel Stimulusgebundenheit (das Kind ist nicht in der Lage, irrelevante visuelle Informationen innerhalb eines bestimmten visuellen Feldes zu ignorieren, so dass der Blick immer wieder zur Peripherie einer Form oder Gestalt gezogen wird – dies geschieht auf Kosten der Wahrnehmung innerer Merkmale).
4. Mangelhafte Reaktion der Pupillen auf Licht; Lichtempfindlichkeit; Schwierigkeiten bei schwarzer Schrift auf weißem Papier. Das Kind ermüdet leicht bei Neonlicht.
Bei sehr hellem Licht sollten sich die Pupillen automatisch zusammenziehen, um die Lichtmenge, die auf das Auge trifft, zu verringern. Bei gedämpftem Licht sollten sie sich sehr schnell erweitern, damit so viel Licht wie möglich auf die Netzhaut trifft. Ein Versagen dieser Funktionen kann Lichtempfindlichkeit und/ oder schlechte Nachtsicht zum Ergebnis haben.
5. Mögliche auditive Verwirrung, bedingt durch Überempfindlichkeit für spezifische Geräusche. Das Kind ist eventuell nur schlecht in der Lage, akustische Reize auseinander zu halten und voneinander zu unterscheiden (auditive Diskriminierungsprobleme); ebenso kann es Schwierigkeiten damit haben Hintergrundgeräusche auszublenden.
6. Allergien und Immunschwächen (zum Beispiel Asthma, Ekzeme) oder eine Krankengeschichte häufiger Infektionen im Hals-, Nasen-, Ohrenbereich.
7. Ungünstige Reaktionen auf Medikamente.
8. Schlechtes Durchhaltevermögen, mangelnde Ausdauer.
9. Abneigung gegen Veränderungen oder Überraschungen – schlechte Anpassungsfähigkeit.
10. Schlecht entwickelter CO2-Reflex.
11. Reaktive Hypoglykämie.
Während andere fortbestehende Reflexe dazu neigen, sich auf spezifische Fertigkeiten auszuwirken, hat der Moro-Reflex Auswirkungen auf das gesamte emotionale Profil des Kindes.
Mögliche sekundäre psychologische Symptome
• Zustand ständiger Ängstlichkeit, die anscheinend keinen Realitätsbezug hat.
• Überschießende Reaktionen auf Reize:
– Stimmungsschwankungen; emotionale Labilität.
– Fester Muskeltonus (Körper-„Panzer“).
– Schwierigkeiten Kritik zu akzeptieren, da ein solches Kind große Schwierigkeiten damit hat sich zu verändern.
• Phasen von Hyperaktivität, gefolgt von übermäßiger Ermüdung.
• Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen.
• Schwaches Ego, geringes Selbstwertgefühl:
– Gefühl der Unsicherheit/Abhängigkeit.
– Das Bedürfnis, Situationen zu „kontrollieren“ oder zu „manipulieren“.
Der Moro-Reflex ist der einzige der primitiven Reflexe, der auf die eine oder andere Weise mit allen Sinnessystemen verbunden ist. Da der Moro-Reflex als erster frühkindlicher Reflex auftaucht, bildet er einen Eckstein im Fundament des Lebens. Er ist unbedingt notwendig für das Überleben des Neugeborenen, aber es wird tiefgreifende Folgen haben, wenn er nicht zur richtigen Zeit gehemmt und in eine erwachsene Schreckreaktion umgewandelt wird.
Die erwachsene Schreckreaktion besteht aus einem schnellen Hochziehen der Schultern, gefolgt von einer Drehung des Kopfes, um die Störquelle herauszufinden; sobald diese identifiziert ist, fährt das Kind mit dem fort, was es gerade getan hat.
Der Palmar-Reflex
Entstehung: 11. Schwangerschaftswoche.
Bei der Geburt: Vollständig vorhanden.
Hemmung: 2.–3. Lebensmonat.
Umwandlung: Schrittweise Entwicklung vom unwillkürlichen Greifen über loslassen zur verfeinerten Kontrolle über die Finger. Wird mit 36 Wochen vom Pinzettengriff abgelöst.
Der Palmar-Reflex gehört zu der Gruppe von Reflexen, die sich im Mutterleib bilden und zu deren gemeinsamen Merkmalen das Greifen gehört. Eine leichte Berührung oder ein leichter Druck auf die Handinnenfläche führt zum Schließen der Finger. Etwa 18 Wochen nach der Empfängnis hat sich diese Reaktion so weit entwickelt, dass ein Greifreflex ausgelöst wird, als Antwort auf ein Ziehen der Fingersehnen. Diese beiden Reaktionen sollten sich während der Zeit im Mutterleib verstärken und bei der Geburt voll entwickelt sein. Während der ersten zwölf Lebenswochen sollten sie deutlich aktiv sein; mit vier bis sechs Monaten sollten sie allerdings umgewandelt werden, so dass das Kind einen Gegenstand zwischen Daumen und Zeigefinger in einem Pinzettengriff halten kann. Die Fähigkeit, einen Gegenstand loszulassen, entwickelt sich einige Wochen später, das Loslassen muss oft wiederholt werden, bevor das Kind eine gute manuelle Geschicklichkeit erreichen kann.
Sowohl der Palmar- (in der Hand) als auch der Plantar-Reflex (am Fuß, der hier nicht weiter behandelt werden soll; Anm. d. Vlg.) werden als Rest einer früheren Stufe der menschlichen Evolution angesehen, als es für das Neugeborene noch notwendig war sich an der Mutter festzuklammern, da ihm dieses Sicherheit bot. Es besteht auch eine direkte Verbindung zwischen dem Palmar-Reflex und dem Stillen in den ersten Lebensmonaten. Der Palmar-Reflex kann durch Saugbewegungen ausgelöst werden; diese Saugbewegungen können dazu führen, dass das Neugeborene im Rhythmus des Saugens knetende Bewegungen mit den Händen macht (Babkin-Reaktion). Sowohl der Mund als auch die Hände sind für das Neugeborene die wichtigsten Mittel sich auszudrücken und seine Umwelt zu erforschen. Eine fortgesetzte Aktivität dieser Reflexe kann bleibende negative Auswirkungen auf die feinmotorische Koordination, Sprache und Artikulation haben, sofern sie nicht zum richtigen Zeitpunkt gehemmt werden.
Die Auswirkungen der neurologischen Zusammenhänge von Handflächen und Mund des Neugeborenen können häufig beobachtet werden, wenn das Kind beginnt, schreiben oder zeichnen zu lernen. Bis ihm diese Aufgabe wirklich leicht fällt, wird das Kind sich die Lippen lecken oder auf die eine oder andere Weise den Mund verziehen. Von Lehrern mag dann oft die Ermahnung „Du schreibst doch nicht mit der Zunge!“ zu hören sein. Optometristen, die entwicklungsbezogen arbeiten, bezeichnen dies als „Overflow“; sie werten es als Fortschritt in der Sehfähigkeit des Kindes, wenn dieser Overflow schwindet.
Bleibt der Palmar-Reflex erhalten, kann das Kind die nachfolgenden Stadien des Loslassens und der Fingerbeweglichkeit nicht durchlaufen. Gesell (1939) beschrieb diesen Prozess so:
„Willkürliches Greifen (zum Beispiel um einen Gegenstand zu erreichen) bezeichnet einen proximo-distalen Entwicklungsverlauf. Frühes Greifen geschieht in groben Bewegungen der Handflächen, bei denen die drei Ulnar-Finger dominieren, während der Daumen praktisch inaktiv bleibt. Diese Form des Greifens wird später von einem verfeinerten Greifen mit den Fingerspitzen abgelöst, die vor allem durch die Opposition des Daumens, der Dominanz des Zeigefingers, Aktionsbereitschaft und die Anpassung des Fingerdrucks an das Gewicht des zu greifenden Gegenstandes charakterisiert wird.“
Dieses kann nur geschehen, wenn der Palmar-Reflex gehemmt wird.
Proximo-distal bezeichnet die Entwicklung der kindlichen Muskelkontrolle vom Zentrum nach außen.
Ulnar-Finger sind die ersten drei Finger (vom kleinen Finger aus gezählt).
Langzeitwirkungen eines beibehaltenen palmaren Greifreflexes
1. Geringe manuelle Geschicklichkeit. Der Palmar-Reflex wird unabhängige Bewegungen von Daumen und Fingern