Greifen und BeGreifen. Sally Goddard Blythe

Greifen und BeGreifen - Sally Goddard Blythe


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Informationen nicht zu der Hirnregion weitergeleitet werden, die für die Ausführung einer Tätigkeit die leistungsfähigste ist. So kann ein Konflikt, eine Konkurrenz zwischen zwei Zentren entstehen – als ob auf dem Fahrersitz eines Autos zwei Menschen sitzen, die beide das Auto steuern und Gas geben wollen.

      Ein sechs Monate altes Baby, das nach wie vor über diesen Reflex verfügt, wird Schwierigkeiten beim Übergang zu der Fertigkeit haben, einen Gegenstand von einer Hand in die andere zu befördern, wenn es dabei den Kopf dreht. Diese Fertigkeit wird normalerweise mit ungefähr 28 Wochen erworben. Der Asymmetrische Tonische Nackenreflex entwickelt sich hier zu einer unsichtbaren Barriere, die es daran hindert, die Mittellinie des Körpers zu überkreuzen. Der ganze Körper wird Tätigkeiten nach wie vor so ausführen wollen, dass jeweils nur eine Körperhälfte gebraucht wird, wodurch ein fließender Wechsel beidseitiger Bewegung beeinträchtigt wird.

      Auch die Bewegung der Augen wird betroffen sein, da das Kind im Bereich der Mittellinie stimulusgebunden bleibt. Fordert man ein solches Kind auf, einem Gegenstand mit den Augen zu folgen, der auf einer waagerechten Linie langsam vor ihm herbewegt wird, wird es ein leichtes Zögern zeigen. Das gleiche Zögern wird später auch ein flüssiges Lesen verhindern.

      Erst in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres beginnt das Kind eine gute Weitsicht zu entwickeln, und ein beibehaltener Asymmetrischer Tonischer Nackenreflex kann die Entfernung für müheloses scharfes Sehen auf Armeslänge begrenzen und somit die nachfolgende visuelle Entwicklung beeinträchtigen. Die Fertigkeit, ein anvisiertes bewegliches Ziel mit den Augen zu verfolgen, wird ebenfalls beeinträchtigt, was später auch Auswirkungen auf das Lesen, Schreiben und Rechtschreiben haben wird.

      In der Schule zeigt sich dann, dass die Handschrift ein eindeutiges Opfer eines beibehaltenen Asymmetrischen Tonischen Nackenreflexes ist. Jedes Mal wenn das Kind den Kopf wendet, um auf die Heftseite zu schauen, auf der es gerade schreibt, wird sein Arm sich ausstrecken und die Hand sich öffnen wollen. So wird es einen enormen Aufwand bedeuten, wenn das Kind ein Schreibgerät über eine bestimmte Zeitdauer halten und benutzen will. Es ist, als wäre ein Gummiband mit dem einen Ende am Stift und mit dem anderen an der Ecke des Tisches befestigt. Das Kind kämpft permanent gegen eine unsichtbare Kraft. Mit der Zeit mag es lernen, dieses dadurch zu kompensieren, dass es einen unreifen Bleistiftgriff benutzt und übermäßigen Druck auf das Schreibgerät ausübt. Der physische Akt des Schreibens wird jedoch immer starke Konzentration erfordern, die auf Kosten der kognitiven Verarbeitung geht. Sowohl die Qualität als auch die Quantität sind davon betroffen. Die Handschrift wird vielleicht auf ein und derselben Heftseite in verschiedene Richtungen geneigt sein. Eventuell dreht das Kind das Heft bis zu neunzig Grad beim Versuch, sich mit den Auswirkungen des Reflexes quasi einzurichten. Im Vergleich mit der Fertigkeit des Kindes, sich mündlich auszudrücken, kann die flüssige Darstellung von Gedanken in geschriebener Form deutliche Diskrepanzen zeigen.

      Wer mit einem ATNR versucht zu schreiben und gleichzeitig zu denken (kognitiver Prozess), ist mit jemandem vergleichbar, der für immer in der dritten oder vierten Fahrschulstunde stecken geblieben ist: Er kennt zwar die genaue Vorgehensweise, aber wenn er versucht, zu viele Dinge auf einmal zu tun, oder wenn seine Aufmerksamkeit vom eigentlichen Fahren abgelenkt ist, würgt er den Motor ab.

      Bei Kindern mit einem fortbestehenden ATNR wird das Schreiben nie zu einem automatisierten Prozess, weswegen sie häufig Schwierigkeiten dabei haben, mehrere Dinge auf einmal zu tun (multi-tasking).

      Mögliche Symptome eines beibehaltenen oder rudimentär fortbestehenden Asymmetrischen Tonischen Nackenreflexes

      1. Durch die Bewegung des Kopfes nach rechts oder links kann das Gleichgewicht beeinträchtigt werden.

      2. Homolaterale (einseitige) anstelle von normalen Kreuzmusterbewegungen, zum Beispiel beim Gehen, Marschieren oder Seilspringen usw.

      3. Schwierigkeiten beim Überkreuzen der Körpermittellinie.

      4. Schlechte Fertigkeit, einen sich bewegenden Gegenstand mit dem Blick zu verfolgen, vor allem über die Körpermittellinie hinweg.

      5. Wechselnde Lateralität. (Das Kind benutzt eventuell den linken Fuß, die rechte Hand und das rechte Ohr, oder es gebraucht abwechselnd die linke oder die rechte Hand für dieselbe Aufgabe.)

      6. Schlechte Handschrift und mangelnde Fertigkeit, Gedanken schriftlich auf dem Papier auszudrücken.

      7. Schwierigkeiten bei der visuellen Wahrnehmung, vor allem bei der Darstellung symmetrischer Figuren.

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      Entstehung: 24.–28. Schwangerschaftswoche.

      Bei der Geburt: Vollständig vorhanden.

      Hemmung: Etwa 3–4 Monate nach der Geburt.

      Der Such-, der Saug- und der Schluckreflex sollten bei allen Babys vorhanden sein. Diese Reflexe gehören zu der Gruppe der Greifreflexe, die sich im Mutterleib entwickeln.

      Eine leichte Reizung der Wangen oder die Reizung des Mundwinkels wird dazu führen, dass das Baby seinen Kopf in die Richtung drehen wird, aus der der Reiz kommt; es wird den Mund öffnen und die Zunge – als Vorbereitung des Saugens – herausstrecken. Dieser Reflex kann an allen Bereichen des Mundes ausgelöst werden, weshalb er manchmal auch der Kardinalpunkt-Reflex genannt wird. Die Kombination von Such- und Saugreflex stellt sicher, dass das Baby sich einer Nahrungsquelle zuwendet und seinen Mund weit genug öffnet, damit es ihn um die Brust oder die Öffnung des Fläschchens schließen kann. Die anschließenden Saug- und Schluckbewegungen sind grundlegend für das früheste Stadium des Fütterns.

      Odent (1991) stellte fest, dass der Suchreflex in den ersten Stunden nach der Geburt am stärksten ist. Er stellte ebenfalls fest, dass dieser Reflex sich abschwächt, falls das Baby in den ersten Stunden nach der Geburt keine Befriedigung bei seinem „Suchen“, erfährt. Bei zu früh geborenen Babys, die ihre erste Lebenszeit im Brutkasten verbringen, kann häufig beobachtet werden, wie sie in den ersten Lebenstagen spezifische Suchbewegungen ausführen; da sie aber die entsprechende Reaktion nicht erfahren, beginnt der Suchreflex sich zurückzubilden. Bei einigen dieser Kinder kann dieser Reflex noch lange Zeit, nachdem er eigentlich gehemmt sein sollte, in abgeschwächter Form ausgelöst werden. Hier verhält es sich genau wie mit anderen Reflexen: Wenn er nicht zum richtigen Zeitpunkt angewandt wird, bleibt er unerfüllt, quasi frustriert, und das Kind ist nicht in der Lage, ihn loszulassen.

      Die Stärke des Suchreflexes kann variieren, je nachdem, wann die letzte Mahlzeit gegeben wurde. Er kann vorübergehend verschwinden, wenn das Kind gesättigt ist, um nach kurzer Zeit wiederzukehren. Umgekehrt kann er beim hungrigen Baby als „Vakuum“-Aktivität auftreten: Ohne äußere Berührungsreize wendet das Baby seinen Kopf auf der Suche nach Nahrung in alle Richtungen.

      Peiper (1963) vertrat die Auffassung, dass primitive Reflexaktivität ein Kind auf die nächste Stufe eines konditionierten Reflexes vorbereitet, und führt den Suchreflex als Beispiel dafür an. „Wenn wir die Mundregion des Kindes berühren, werden Reflexe ausgelöst, die den Kopf drehen und die Lippen so bewegen, dass der berührende Gegenstand in den Mund hineingezogen wird. Diese lebenserhaltende Funktion ist angeboren, nicht jedoch die Fähigkeit, sich zur Brust oder Flasche zu drehen, wenn diese ins Blickfeld geraten. Dies wird sehr schnell gelernt. Aus dem Suchreflex entwickelt sich ein konditionierter Reflex, der beim Anblick der Brust oder der Flasche den Kopf in die richtige Position dreht.“

      Voll oder teilweise erhaltene orale Reflexe haben eine fortgesetzte Sensibilität und unreife Reaktionen auf Berührungen in der Mundregion zur Folge – dies gilt vor allem für den Lippenbereich. Das Kind hat dann häufig Schwierigkeiten, wenn es zum ersten Mal feste Nahrung zu sich nehmen soll: Ein persistierender Saugreflex hindert die Zunge daran, die für das Schlucken erforderlichen reifen Bewegungskombinationen zu entwickeln; sie bleibt zu weit vorn im Mund, um wirkungsvolle Kaubewegungen zu ermöglichen. Eine mögliche Folge ist heftiger Speichelfluss, der bis ins Schulalter anhält, da beide Reflexe verhindern, dass das Kind angemessene


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