Vage Sehnsucht. Jens Johler
„Nein“, sagt der Kokser, „wir nehmen jeder eine dicke Line, überwältigen die Wärter und brechen durch“; daraufhin meldet sich der Kiffer und sagt, „Die Ideen sind gut, aber können wir das nicht morgen machen? Lasst uns doch erst mal einen Joint rauchen.“ In der Anfangszeit meines Kifferdaseins bekam ich immer Appetit auf Süßes, habe mir Vanillepudding gekocht oder bin nachts zu einem Automaten gestiefelt, in dem es Schokolade gab. Manchmal wird man auch albern, bekommt einen Lachanfall und weiß gar nicht, warum. Aber das Wichtigste war, glaube ich, ein Gefühl von Grenzüberschreitung, ein gewisser Rausch, das Gefühl, etwas völlig Neues zu erleben. Allerdings hatte das Kiffen auch Nachteile, jedenfalls bei mir. Die Libido wurde geweckt, aber die Potenz ließ nach; das war alles andere als „herausragend“. Ich habe einige Monate gebraucht, um dahinterzukommen. Das war aber noch harmlos im Vergleich zu den Depressionen, die ich bekam. Regelmäßiges Kiffen führte bei mir zu immer stärkeren Irritationen. Beim Fahren auf der Autobahn, wenn ich unter einer Brücke oder Unterführung hindurchfuhr, hatte ich Angst, mit meinem Kopf dort oben anzuschlagen. Irgendwann kam noch Paranoia dazu. Eines Tages bin ich beim Trampen auf der Autobahn von der Polizei aufgegriffen worden und war noch froh darüber. Ich war total durch’n Wind. Einmal bin ich in so einer typischen Kifferhöhle in Kreuzberg gelandet, mit Matratzenlager auf dem Fußboden, lauter langhaarige Freaks, von denen ich niemanden kannte. Rolli hatte mich dorthin mitgenommen. Es kreisten mehrere Joints, und auf einmal wurde mir ganz schwindelig, richtig schwarz vor Augen. Ich hatte wohl zu viel intus und bekam Angstzustände. Ich stand auf, um an die frische Luft zu gehen, machte zwei, drei Schritte und fiel ohnmächtig zu Boden. Als ich nach ein paar Minuten wieder zu mir kam, war ich mit Rolli allein. Sie sagte, die anderen hätten gedacht, ich wäre tot, und seien getürmt. Aber dann, als ich nach draußen ging, war ich baff. Alles war irgendwie neu, ich befand mich in einem noch nie zuvor erlebten Bewusstseinszustand, fast paradiesisch. Ich fühlte mich einfach super, mit einem tiefen inneren Frieden. Leider hielt dieser Zustand nur ein paar Stunden an, aber ich kann ihn bis heute nicht vergessen, so wunderschön war es. Ein anderes Ereignis war dramatischer. Es war Anfang der ’80er-Jahre, ich war mit den Scherben auf Tour und hatte schon Jahre nicht mehr gekifft. Nach einem Gig trafen wir uns noch im Hotelzimmer unseres Tour-Gitarristen Dirk Schlömer, als ein Marihuana-Joint kreiste. Da ich gut drauf war und auch schon etwas angetrunken, wurde ich leichtsinnig, zog zwei oder drei Mal und merkte ziemlich schnell eine negative Wirkung. Ich ging sofort auf mein Zimmer, und spürte auf einmal einen unwiderstehlichen Sog, mich aus dem Fenster zu stürzen. Es war die nackte Todesangst, urplötzlich war sie da. Das klingt unwahrscheinlich, ich weiß, aber es war so, als ob sich ein Geist meiner bemächtigt hätte, und dieser Geist befahl mir, aus dem Fenster zu springen. Das Hotel war ein Hochhaus, ich wohnte so weit oben, dass ich einen Sturz nicht überlebt hätte. In meiner Not lief ich ohne nachzudenken ins Bad, drehte die kalte Dusche auf, setzte mich angezogen darunter und fing an zu beten. In dieser Stellung, betend unter der Dusche, verharrte ich einige Zeit – vielleicht zehn Minuten oder so -, und allmählich ließ der schreckliche Sog nach. Und es blieb dabei: Je länger ich kiffte, desto mieser fühlte ich mich, und trotzdem hörte ich nicht auf damit, völlig absurd. Ich glaube, ich habe immer gehofft, die allerersten Zustände, die ja positiv waren, noch einmal wiederzuerleben. Doch dann, nach circa zwei bis drei Jahren, so gegen Ende ’72, habe ich konsequent aufgehört und stattdessen angefangen, Whiskey zu trinken. War deutlich bekömmlicher! Meine Lieblingsmarke war Jim Beam, ein Bourbon aus Kentucky. Der wurde zu meinem kleinen Helferlein, immer und überall gegenwärtig, so wie der kleine Glühbirnenroboter von Daniel Düsentrieb. Aber richtig betrunken habe ich mich, abgesehen von einigen Reisen nach Kentucky, selten. Hier muss ich wieder an den Trinkspruch von Werner Rieger denken: „Rein Gottes Wort“; es war fast so, als würde Jim Beam mir dabei helfen, den Anschluss nach „oben“ nicht zu verlieren.
Meine ach so geliebten ’60er-Jahre endeten – musikalisch gesehen – mit einer Überraschung. Der Gospelsong Oh Happy Day von den Edwin Hawkins Singers wurde im August ’69 zum internationalen Sommerhit! Das hat mich umgehauen. Gospels sind ja aus den Spirituals der schwarzen Sklaven in den USA hervorgegangen, und diese Musik findet den Weg in den kommerziellen Mainstream. Nicht zu fassen! Gesungen wurde über den „glücklichen Tag, als Jesus meine Sünden wegwusch“; ob das in Deutschland alle verstanden haben? Aber unbewusst hat wohl jeder irgendwie gefühlt, was gemeint war. Im selben Monat gab es das denkwürdige Woodstock-Festival in den USA, das hatte für mich zwei Höhepunkte: den Urschrei von Joe Cocker bei With A Little Help From My Friends und das Gitarrensolo von Pete Townshend bei See Me, Feel Me von den Who. Beide zusammen, Schrei und Solo, verschmolzen für mich zu einer musikalischen Essenz, die sowohl den bitteren Schmerz als auch die schönen Sehnsüchte einer rebellischen Jugend- und Studentenbewegung zum Ausdruck brachten, die über ein Jahrzehnt lang versucht hatte, die Welt positiv zu verändern.
Kai bei den Aufnahmen zu „Macht kaputt …“, 1970 (© Archiv Scherben)
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