Vage Sehnsucht. Jens Johler

Vage Sehnsucht - Jens Johler


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es interessierte mich trotzdem. Im August ’68 waren die beiden von Dortmund nach Berlin umgezogen, nachdem sie sich mit einem Essay Über den autoritären Geist des deutschen Theaters ihre Schauspielerkarrieren vermasselt hatten. In Berlin hatten sie sich nach alternativen Theatergruppen umgesehen und dabei auch das Hoffmanns Comic Teater kennengelernt. Als ich nach Berlin kam, hausten sie in einer kleinen Anderthalb-Zimmer-Wohnung in der Admiralstraße in Kreuzberg.

      Berlin gefiel mir auf Anhieb, das Stadtfeeling, die Schwingungen dort, das groovte für mich; auch die Berliner mit ihrer leicht prolligen Art mochte ich, „Herz mit Schnauze“, wie man so sagt. Das stand im Gegensatz zu der vornehmen Kühle der Hamburger, mit der ich nicht so richtig klar kam. Durch Barbara und Jens lernte ich auch Rio Reiser und seine Brüder kennen, Peter und Gert Möbius. Die drei Brüder waren schon ’64 zusammen mit Dietmar Roberg und Blalla Hallmann von Nürnberg aus in einem Trecker mit Anhänger über Land gezogen und hatten in den Dörfern ihre Theaterstücke aufgeführt – wie ein kleiner Wanderzirkus. 1967 hatten sie in Berlin die erste Rockoper der Welt aufgeführt, mit Musik von Ralph Möbius, wie Rio damals noch hieß. Die Aufführung fand im Theater des Westens statt, in dem ja noch heute Musicals aufgeführt werden. Es muss eine ziemlich chaotische Produktion gewesen sein, zurück blieb jedenfalls ein Defizit von 100.000 DM.

      Die Begegnung mit Rio beeindruckte mich sehr, er sah gut aus, hatte lange Haare und eine enorme Ausstrahlung. Dieser erste und leider sehr kurze Berlin-Aufenthalt bestärkte mich in meinem Entschluss, so bald wie möglich ganz nach Berlin zu ziehen. Zurück in der Heimat verbrachte ich den Sommer im Haus meines Vaters in Schulensee. Eines schönen Nachmittages lief dann im ZDF ein verrückter Film mit dem Namen Drehorgelwalzerwelthit, und in der Fernsehzeitung stand dazu, „Musik: Ralph Möbius“; wow, dachte ich, den kenne ich doch. Die Musik fand ich klasse, und meine Bewunderung für Rio wuchs. Rockmusik mit deutschen Texten in einer Art und Weise, die funktionierte, das war neu. Alles Gründe für mich, nach Berlin zu gehen; und sehr bald sollte es soweit sein. Mein Glück war, dass Barbara und Jens sich im Sommer ’69 auch für zwei, drei Wochen in Schulensee aufhielten, weil mein Vater und seine Frau verreist waren und wir somit das ganze Haus zu Verfügung hatten. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an die berühmte Mondlandung, die wir uns zusammen im Fernsehen angesehen haben. Es war am 21. Juli 3:56 MEZ, bei uns also mitten in der Nacht, als Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betrat.

      Im August schmiedeten wir dann Fluchtpläne für mich. Als mein Vater aus dem Urlaub zurückkam, eröffnete ich ihm, dass ich zusammen mit Barbara und Jens nach Berlin fahren wollte – er war alles andere als erfreut. Aber was sollte er machen? Ich war zwar erst 18 Jahre alt, volljährig war man damals erst mit 21, ich brauchte also die Erlaubnis meiner Erziehungsberechtigten, aber erziehungsberechtigt war meine Mutter, und die hatte nichts dagegen. Das Einverständnis meines Vaters war sozusagen moralischer Natur, hatte aber auch mit Geld zu tun, sprich mit finanzieller Unterstützung. Ich erinnere mich aber daran, dass er sich ausgesprochen fair verhalten hat. Das Hauptproblem für ihn war, dass ich meine Ausbildung in Lübeck abbrechen wollte, die in seinen Augen eine große Chance für mich war, weil ich keine abgeschlossene Schulausbildung hatte. „Was soll jetzt aus dir werden“, meinte er. Dem ganzen 68er-Protest stand er sowieso kritisch gegenüber. Barbara und Jens hatten ihm von der kubanischen Revolution vorgeschwärmt und von der Idee, das Geld abzuschaffen, und er sagte nur, „Gute Idee, das Geld abzuschaffen, wenn es nichts zu kaufen gibt“. Sie haben oft Skat mit ihm gespielt, zwischendurch wurde diskutiert, und er sagte einmal, „Wenn es zur Revolution kommt, stehe ich auf der einen Seite der Barrikade und ihr auf der anderen“, und dann haben sie weiter Skat gespielt. Wir alle mochten unseren Vater, auch wenn er etwas bürgerlich war. Immerhin hatte er auch Sinn für das Verrückte. Er war Mitglied im Freundeskreis Till Eulenspiegel und als Anfang der ’70er das vermeintliche Original der Eulenspiegel-Geschichten von einem gewissen Hermann Bote gefunden wurde, überarbeitete er es und veröffentlichte es neu. Diese Ausgabe gilt bei Kennern bis heute als eines der besten Till Eulenspiegel-Bücher. Als dann klar war, dass ich mit nach Berlin fahre, bestand mein Vater darauf, dass ich in Berlin eine Ausbildung mache, und sagte dann, „Wenn du keine Ausbildung machst, dann zahle ich dir auch keinen Unterhalt“. Das war seine Bedingung, und die habe ich akzeptiert. Ich weiß noch, dass er hinzufügte, „du kannst ja immer noch Straßenfeger werden, das ist auch ein ehrenwerter Beruf“. Das war so ein Spruch, den hatten damals viele Eltern drauf.

      Und dann ging’s los. Den genauen Tag weiß ich nicht mehr, aber es muss so Mitte August gewesen sein. Wir sind zu dritt in Jens’ VW-Käfer von Kiel nach Berlin gefahren – es war einer der aufregendsten und bedeutendsten Tage meines Lebens. Ich habe dann erstmal bei Barbara und Jens in der Admiralstraße gewohnt. Diese Wohnung gehörte eigentlich dem Schauspieler Heinrich Giskes, der gerade ein längeres Engagement in Westdeutschland hatte. Sie lag im Hochparterre, anderthalb Zimmer. Wenn wir die Tür zum Treppenhaus öffneten, machten wir immer ksch-ksch, damit die Ratten sich verzogen. Ich habe erst später erfahren, dass sie ihre Nester im Keller unter der Wohnung hatten, in dem Möbellager eines Trödlers. Mein Gästezimmer war ein kleiner Raum, in dem man sofort war, wenn man die Wohnungstür aufschloss, einen Flur gab es nicht. Zum Klo musste ich durch das Zimmer von Barbara und Jens hindurch, was natürlich auf Dauer kein angenehmer Zustand war, weder für sie noch für mich. Die Verabredung lautete, dass ich mir so schnell wie möglich eine eigene Bleibe suchte, was ich aber nicht tat. Ich nahm erstmal Kontakt zu Rio auf, den ich ja schon Ostern kurz getroffen hatte. Ich besuchte ihn in einer Fabriketage in der Oranienstraße, dem Hauptquartier des Hoffmanns Comic Teater. Wir verstanden uns auf Anhieb, tranken Jasmintee und rauchten – nicht nur Zigaretten. Die Musik war unser verbindendes Element. Wir hörten Platten von Johnny Cash und Bob Dylan; Pet Sounds, das tierische Album der Beach Boys, aber auch die älteren LPs der Rolling Stones, die überragende Aftermath, sowie Between The Buttons, Their Satanic Majesties Request und Beggars Banquet. Ich kannte ja nur die Single-Hits der Stones, jetzt erschlossen sich mir ganz neue musikalische Welten. Damals gab es noch keine CDs, sondern nur LPs, und die relativ große Fläche der LP-Cover konnte gut für künstlerische Zwecke genutzt werden. Ich erinnere mich an Gespräche mit Rio über das Thema Covergestaltung. Einmal zeigte er mir das Plattencover der LP Between The Buttons von dem Fotografen Gered Mankowitz. Man sieht die Band etwas unscharf am frühen Morgen in freier Natur, das Foto wirkt ungestellt und strahlt eine besondere, etwas surrealistische Stimmung aus – ein kleines Kunstwerk. Rio erklärte mir dazu, wie wichtig das Image einer Band sei. Ich war etwas verwirrt, denn ich wusste noch nicht, was das Wort genau bedeutete. Sechzehn Jahre später haben wir uns als Scherben-Band ein bisschen an der Idee von Gered Mankowitz orientiert. Wir haben für die Fotosession zum LP-Cover Scherben extra eine Nacht durchgemacht, um dann im Morgengrauen übernächtigt auszusehen.

      Ich war schwer beeindruckt von Rios Liedern, die er auf einem Revox-Tonbandgerät aufgenommen hatte und mir nach und nach vorspielte, alle mit deutschen Texten. So, wie Rio sang, das war immer authentisch, nie aufgesetzt oder peinlich – ähnlich wie bei Johnny Cash. Das hört man einfach. Durchs Musizieren und die Gespräche habe ich im Laufe der Jahre viel von Rio gelernt. Er vertrat zum Beispiel die Ansicht, dass es ein bestimmtes Qualitätsmerkmal ist, wenn sich ein Song nur auf einem einzigen Instrument spielen lässt, auf der Gitarre oder auf dem Piano.

      Bereits nach wenigen Tagen fragte Rio mich, ob ich nicht bei zwei Stücken Bassgitarre spielen wollte. Dazu gibt es eine Vorgeschichte: Rio hatte dem Schlagerproduzenten Peter Meisel ein Demoband geschickt, und der hatte sich zwei Songs ausgesucht, die er produzieren wollte: Freitagabend und Baby. Das sollten A- und B-Seite einer Vinyl-Single werden. Doch Bassist Georgie, mit dem Rio vorher gespielt hatte, hing an der Nadel und konnte oder wollte irgendwie nicht mehr spielen. Deswegen fragte Rio mich, ob ich nicht für Georgie einspringen wolle. Ich sagte, ich könne zwar ein bisschen Lagerfeuer-Gitarre, aber einen E-Bass hätte ich noch nie in der Hand gehalten. „Das macht nix“, sagte Rio, „ich zeig’s dir“. Und ehe ich mich’s versah, hatte er mir einen Bass der Marke Höfner umgehängt, den sogenannten Beatles-Bass, und zeigte mir als Einstieg den Anfang der Basslinie von I Can’t Help Myself von den Four Tops. Das war ein Basslauf von James Jamerson, dem Kult-Bassisten, der mir damals aber noch kein Begriff war. So nahm das Schicksal seinen Lauf: Ich wurde Rock’n’Roll-Bassist! James Jamerson war, wie ich später erfuhr, der Bassist einer Studioband, die sich Funk


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