Vage Sehnsucht. Jens Johler
ohne rebellischen Sound, die mich faszinierten. Einer davon war The Girl from Ipanema, gesungen von Astrud Gilberto, mit einem klasse Saxofon-Solo von Stan Getz – absolut cool! Diese Bossa-Nova-Single war zwar schon ’64 erschienen, kam aber erst ein paar Jahre später bei mir an. Ich war sofort fasziniert. Später habe ich versucht, das Lied auf dem Klavier zu spielen. Very complicated. Das waren Akkorde, von denen ich noch nie gehört hatte. Lauter krumme Dinger, wie 7+9 und so was, also der große Septakkord mit ’ner None oben drauf. Von Kurt-Weill-Liedern hatte ich schon gelernt, dass die Gesangsmelodie auch mal längere Zeit über die Sexte läuft, doch hier war es auf einmal die None, das war noch einen Zacken schärfer. Wie ich später gelesen habe, hat Tom Jobim, der Komponist von The Girl from Ipanema, sich dabei von Claude Debussy inspirieren lassen, dem Hauptvertreter des musikalischen Impressionismus. Als ich im Jahre ’99 während einer Brasilien-Reise in Rio de Janeiro war, habe ich es mir nicht nehmen lassen, am Strand von Ipanema spazieren zugehen, nur um dabei an das Girl From Ipanema zu denken, das mit wiegendem Schritt vorübergeht und dessen Körper die Sonne vergoldet. Ein anders Beispiel dafür, wie verwoben die sogenannte E- und die U-Musik miteinander sind, ist der Titel A Whiter Shade of Pale von Procol Harum, der basiert auf Air, einer Komposition von Johann Sebastian Bach. Zu meinen Lieblingssongs gehört aber auch Strangers in the Night von Frank Sinatra, der Sommerhit des Jahres 1966; Sinatra war zwar kein Rebell, dafür ein Anti-Rassist und noch vor Elvis der erste große Teeniestar der westlichen Welt. Strangers in the Night ist ein Song, der sich nie abnutzt, so ähnlich wie Like A Rolling Stone, beide klingen immer wieder neu, auch wenn du sie oft hörst. Rio und ich, wir haben Strangers beide sehr gemocht und bei allen möglichen Gelegenheiten gesungen, auf der Autobahn, beim Spazierengehen oder auf einer Party.
Die Aufbruchstimmung der ’60er-Jahre hatte mich total ergriffen. Sie umfasste ja nicht nur den Ungehorsam gegen die Obrigkeit und einen Wertewandel in der Politik, sondern auch die Moralvorstellungen; ich habe damals die sogenannte sexuelle Revolution hautnah mitbekommen, obwohl ich gerne ein paar Jahre älter gewesen wäre. Sprüche wie „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ sollten die Spießer schocken, „Make love, not war“, lautete die Devise der Hippies. Hervorragend in diese Zeit passte das Chanson Je t’aime … moi non plus, gesungen, oder besser gesagt geflüstert und gestöhnt, von Jane Birkin und Serge Gainsbourg im Sommer ’69. Leicht dadamäßig, besonders der widersprüchliche Text, „Ich liebe dich – ich dich auch nicht“. Gainsbourg schuf damit eine Hymne für die sexuelle Revolution. Ich liebe dieses unvergängliche Stück heute noch, es ist in Musik gebadete Erotik. Besonders gefreut hat mich, dass Papst Paul VI. das Stück auf den Index setzen ließ, den millionenfachen Verkaufserfolg jedoch nicht verhindern konnte. Das war ein Machtkampf; auf der einen Seite die bürgerliche Sexualmoral des Establishments, vertreten durch den Papst als Sittenwächter, und auf der anderen Seite die Propheten der sexuellen Revolution, vertreten durch Serge Gainsbourg als Künstler.
Der Höhepunkt der Hippiebewegung war der sogenannte „Summer of Love“ – 1967. Ich wäre gern nach San Francisco geflogen, in die heimliche Hauptstadt der Hippies, doch für mich als sechzehnjährigen Schüler, der noch zu Hause wohnte, war das nur ein Traum. Ich spürte aber diese spezielle Energie, die in dieser Zeit in der Luft lag, vor allem die fantastische Musik. San Francisco von Scott McKenzie und All You Need Is Love der Beatles, das waren die großen ’67er-Hymnen. In diesem Sommer kaufte ich mir von meinem Taschengeld meine erste Langspielplatte, Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, das Konzept-Album der Beatles, ein wahrhaft großes Werk.
Aber es war natürlich nicht nur alles hippiemäßig easy in der Zeit. Es gab die Ermordung von Che Guevara in Bolivien, es gab den Sechstagekrieg zwischen Israel und Ägypten, und für Berlin und die BRD war der Wendepunkt mit weitreichenden Folgen definitiv der 2. Juni ’67. Friedliche Demonstranten wurden von der Polizei brutal niedergeknüppelt. Und der negative Höhepunkt war die gezielte Hinrichtung von Benno Ohnesorg durch einen Schuss in den Hinterkopf. Damit wurde eine rote Linie überschritten. An diesem Tag wurde die Saat der Gewalt gesät, und zwar ausgehend von Seiten des Staates, das war eindeutig. Das Wort Deeskalation war für die politisch Verantwortlichen damals noch ein Fremdwort. Die Obrigkeit durfte sich nun nicht wundern, dass sich als Reaktion darauf Gruppen wie Die Umherschweifenden Haschrebellen, Berliner Blues, Bewegung 2. Juni oder die RAF bildeten, die im Laufe der Zeit immer militanter wurden. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt schaukelte sich in den nächsten Jahren immer weiter hoch.
Zu den Ereignissen, die mich wie viele andere auch aufwühlten, gehörten ein Jahr später die Attentate auf Martin Luther King, Rudi Dutschke und Robert Kennedy, und nicht zuletzt der Einmarsch der Sowjetunion mit ihren Zwangsverbündeten in die Tschechoslowakei. Das alles war erschreckend. Besonders berührt haben mich damals noch zwei Ereignisse. Bei den Olympischen Sommerspielen in Mexiko kam es bei der Siegerehrung für die 200-Meter-Läufer zum Eklat. Tommie Smith hatte die Goldmedaille gewonnen und John Carlos die Bronzene. Beide waren Afroamerikaner. Während sie auf dem Siegerpodest standen und die amerikanische Nationalhymne gespielt wurde, streckten Tommie Smith und John Carlos die zur Faust geballte Hand in die Höhe, umhüllt von einem schwarzen Handschuh. Damit protestierten sie gegen den Rassismus in den USA und für die Einhaltung der Menschenrechte. Und gewollt oder ungewollt bekundeten sie damit auch ihre Solidarität mit der Black-Power-Bewegung. Wow, habe ich gedacht, endlich sind da mal zwei Typen, die den Mumm haben, ihre besondere Position zu nutzen. Ich habe mir das Foto aus der Zeitung ausgeschnitten und übers Bett gehängt.
Smith & Carlos (TV-Standbild; Bearbeitg.: Ruud Englebert)
Tommie Smith und John Carlos bewiesen Mut und Charakter, denn sie konnten sich denken, welche Reaktionen ihr Handeln auslösen würde. Sie mussten Mexiko sofort verlassen und wurden danach in den USA von vielen Menschen angefeindet. Doch irgendwann drehte sich der Wind, heute werden sie verehrt. Kürzlich sagte Carlos in einem Spiegel-Interview, „1968 ging es darum, Menschlichkeit einzufordern. Fast jeder Konflikt lässt sich darauf zurückführen, dass Menschen von oben dirigieren und andere einstecken müssen.“ Der Olympiaprotest geschah Mitte Oktober ’68. Drei Wochen später pirschte sich die Journalistin Beate Klarsfeld bei einer CDU-Versammlung in Berlin an Bundeskanzler Kiesinger heran, schlug ihm mit der Hand ins Gesicht und beschimpfte ihn als Nazi. Mit dieser Aktion wollte sie darauf aufmerksam machen, dass unser amtierender Bundeskanzler ein ehemaliger Nazi war. Ich lehne ja eigentlich Gewalt ab, aber in diesem Fall fand ich sie angebracht. Diese Aktion sorgte für weltweite Schlagzeilen und trug dazu bei, dass die Verfolgung von Naziverbrechern neuen Schwung bekam. Der Schriftsteller Heinrich Böll schickte Beate Klarsfeld nach ihrer Tat fünfzig rote Rosen. Irre gut, dachte ich. Das sprach mir genau aus dem Herzen.
Die Musikschule interessierte mich immer weniger, und mir war klar, wohin ich wollte: nach Berlin! Das war der angesagte Ort. Berlin bedeutete für mich Freiheit! Freiheit von der Schule in Lübeck. Freiheit von meinem Elternhaus und – ganz wichtig – Freiheit von der drohenden Gefahr zum Bund eingezogen zu werden, also zum Wehrdienst bei der Bundeswehr. Und die einfachste Lösung, den Wehrdienst zu umgehen, war damals, seinen ersten Wohnsitz in West-Berlin anzumelden. Für Berlin galt zu dieser Zeit der Vier-Mächte-Status – USA, England, Frankreich und UdSSR – deshalb gehörte der Westteil der Stadt streng genommen nicht zur Bundesrepublik Deutschland, und die Bundeswehr hatte keinen Zugriff auf Berliner Bürger. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass Berlin zur Hauptstadt der APO wurde, lauter Studenten, die keine Lust hatten, zur Bundeswehr zu gehen. Berlin war auch deswegen für mich mit Freiheit verbunden, weil es dort die Demos, die Hippies, die Wohngemeinschaften, die Kommunen gab – die ganze antiautoritäre Bewegung eben, man hörte davon in den Nachrichten, ich las davon in Zeitschriften wie Der Spiegel oder Konkret, und es hatte eine ungeheure Anziehungskraft. Ich träumte, wie viele andere auch, von einem selbstbestimmten Leben, ohne mich irgendwelchen Autoritäten beugen zu müssen. In den Osterferien ’69 flog ich zum ersten Mal nach Berlin, um meine Schwester Barbara zu besuchen, die dort zusammen mit ihrem Freund Jens lebte. Jens Johler hatte ich schon im Sommer ’67 kennengelernt, als die beiden, sie waren damals noch Schauspieler in Dortmund, in unserem Häuschen an der Schlei Urlaub machten. Ich weiß noch, dass sie versucht hatten, meine Begeisterung für die Beatles auszunutzen, um