Vage Sehnsucht. Jens Johler

Vage Sehnsucht - Jens Johler


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ich schließlich hingegangen bin und gestammelt habe „ich will hier rein“; das hat mich große Überwindung gekostet. Wir haben ’64 und ’65 jeweils im Sommer große Rucksackreisen unternommen, einmal an den Edersee in Hessen, das andere Mal nach Südnorwegen. Bei dem Norwegen-Trip sind wir mit einer Fähre über den Skagerrak gefahren, es war sehr windig und dementsprechend gab es hohen Seegang; fast alle Passagiere wurden seekrank und haben gekotzt wie die Reiher, ich eingeschlossen. Ich fühlte mich so elend, dass ich sterben wollte. Als wir endlich an Land waren, hätte ich am liebsten den Boden geküsst, so dankbar war ich. Bei beiden Fahrten haben wir immer im Zelt geschlafen und am Lagerfeuer gekocht, es wurde viel gesungen, Spirituals, Gospels und Lieder aus dem kleinen Liederbuch Die Mundorgel, mit dem genialen Untertitel „Der Globus quietscht und eiert“. Und wir haben viel Zeit in der Natur verbracht und solche Sachen gemacht wie Räuber und Gendarm zu spielen. Für mich war das fast schon so etwas wie eine Initiation. Da wurden auch bestimmte moralische Werte vermittelt, wie zum Beispiel einmal am Tag eine „gute Tat“, oder das berühmte Pfadfinder-Ehrenwort. Aber es wurde auch gesagt, wenn meine Eltern mir Vorschriften machten, die sich nicht richtig anfühlten, dann sollte ich das hinterfragen; das fand ich sehr in Ordnung. Und – es waren ja christliche Pfadfinder – die Werte, die Jesus im Neuen Testament der Bibel in seiner programmatischen Rede, der Bergpredigt, zum Ausdruck bringt, haben mich umgehauen und begleiten mich bis zum heutigen Tage: die Feindesliebe, wohl eine bis dahin in der Menschheitsgeschichte noch nie dagewesene Ansage, „der Verzicht auf das eigene Recht“, zum Beispiel Rache zu üben, und die Goldene Regel: „Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun, so tut ihr ihnen“.

      Zu dieser Zeit war ich sehr berührt von dem Chanson Dominique, geschrieben, gespielt und gesungen von Soeur Sourire. Eine französisch singende Nonne aus Belgien schreibt ein Lied über den Heiligen Dominikus für ihre Schwester Oberin und landet damit in den USA auf Platz 1 der Single-Charts. Sagenhaft! Alles schien möglich in dieser Zeit. Soeur Sourire hieß in Wirklichkeit Jeanine Deckers, und dieses Lied war für sie sowohl Segen als auch Fluch. Weil Dominique ein internationaler Millionenseller war, klopfte Hollywood bei ihr an und verfilmte ihr Leben. Aber sie hatte beim Eintritt in das Dominikanerkloster ein Armutsgelübde abgelegt, deswegen bekam sie für das Lied nur einen Bruchteil der Einnahmen, das meiste ging an den Orden, und so ähnlich war es auch bei den Filmrechten. Irgendwann kam es zum Streit mit der Schwester Oberin, die nicht wollte, dass Jeanine einen neuen Plattenvertrag unterschrieb; daraufhin verließ Jeanine das Kloster. Später bekam sie Ärger mit dem Finanzamt, das die Steuern für das Geld einforderte, das Jeanine nie bekommen hatte, und das Kloster hielt sich bedeckt. Am Ende blieb ein Schuldenberg übrig. Jeanine versuchte weiter als Musikerin zu arbeiten, aber leider erfolglos, jedenfalls in kommerzieller Hinsicht. Deswegen soll sie zeitweise auch alkohol- und tablettensüchtig gewesen sein. Tatsache ist, dass sie ’85 zusammen mit ihrer Freundin aus dem Leben schied. In ihrem Abschiedsbrief schrieb sie: „Wir kehren zum Herrn zurück“.

      Noch ein anderes französisches Lied war eine musikalische Sensation in diesem Jahrzehnt: Milord, gesungen von Edith Piaf mit dem Text von Georges Moustaki. Es war ungewohnt, so etwas zu hören, ich verstand kein Wort, aber es ging mir unter die Haut. Ebenso wie Ein Schiff wird kommen aus dem Film Sonntags … nie! Die Hit-Version von Lale Anderson war nicht schlecht, aber die Fassung von Melina Mercouri mit ihrer rauchigen Stimme fand ich klar besser – auch heute noch. Beide Stücke haben etwas mit dem zu tun, was ich Halbwelt nennen würde. Ich erwähnte ja schon, dass ich als Junge gelegentlich im Kieler Hafen herumstreunte und vom Rotlichtmilieu fasziniert war. Deswegen finde ich es interessant, dass in diesem Milieu oft neue Musikstile geboren wurden. Louis Armstrong trieb sich in seiner Jugend in Storyville herum, dem Rotlichtbezirk von New Orleans, der Geburtsstätte des Jazz. Die Beatles hatten ihr erstes größeres Engagement auf der Großen Freiheit in Hamburg. Und der Londoner Marquee Club, in dem die Rolling Stones 1962 ihren ersten Auftritt unter diesem Namen hatten, befand sich im Rotlichtviertel Soho.

      Zu Weihnachten ’61 bekam ich eine Langspielplatte von Louis Armstrong & His All-Stars, mit Titeln wie Mack The Knife und Basin Street Blues. Dieser musikalische Charme, Trompete, rauer Gesang – oh Louis Armstrong, du bist mir bis heute ans Herz gewachsen, du warst der erste richtig große Weltstar des 20. Jahrhunderts!

Foto

      Louis Armstrong Schallplattenhülle (© Z+Z Multidigital Services)

      Unsere Single-Plattensammlung, meine und die im Haushalt meiner Mutter, wuchs langsam, aber stetig, Red River Rock von Johnny & The Hurricanes gehörte dazu, eine fetzige Instrumentalnummer ohne Text; das Stück hat einen besonderen Groove und vermittelt ein ganz bestimmtes Lebensgefühl dieser Zeit. If I Had A Hammer von Trini Lopez war auch dabei, ebenso wie Blueberry Hill von Fats Domino, der mit seinem ureigenen Stil, einer Mischung aus Boogie-Woogie und Rhythm & Blues, den Nerv der Zeit traf, auch meinen. Fats Domino ist übrigens der einzige ’50er-Jahre-Star, den ich live erleben durfte – 1990 in Glücksburg – ich hatte vor Freude Tränen in den Augen.

      1964 endlich, mit dem Song I Want To Hold Your Hand, begann für mich eine neue Ära. Ich wurde von der Beatlemania ergriffen. Die Beatles waren ja keine Boygroup heutiger Tage, die nur sangen und tanzten, das waren vier Individualisten, die ihre eigenen Lieder schrieben und fast alle Instrumente selber spielten. Sie waren die Erfinder der kleinen Rockband als verschworene musikalische Gemeinschaft. Und sie hatten lange Haare, die im Laufe der ’60er zum Symbol der späteren Flower-Power-Kultur und überhaupt des Unangepasstseins wurden. Die Idee für die Pilzfrisur hatte Astrid Kirchherr, eine Fotografin, die sie im Indra oder im Kaiserkeller auf der Großen Freiheit kennengelernt hatten, und die mit dem schon 1962 gestorbenen fünften Beatle Stuart Sutcliff befreundet war. Ich ließ mir nun auch die Haare länger wachsen, und es gefiel mir. Aber wenn ich an einer Baustelle vorbeiging, riefen die Bauarbeiter hinter mir her, „Hey, bist du’n Junge oder’n Mädchen?“. Und das waren noch die charmanteren Sprüche. Die heftigeren Beschimpfungen lauteten später in Berlin: „langhaariger Affe“ und „geh doch nach drüben“. Als ob man da drüben, auf der anderen Seite der Mauer, nicht genauso damit angeeckt wäre. Der kurzgeschorene Schädel war das Zeichen für Autoritätshörigkeit und soldatische Disziplin, die langen Haare Zeichen einer ästhetischen Rebellion dagegen, die auch das Weiche, Feminine betonten. Ich lebte fortan nur von Beatles-Hit zu Beatles-Hit; fast alle Songs der Fab Four waren Lebenselixiere für mich. Und die Anfangszeit war besonders schön; ich war dreizehn Jahre alt, und Nummern wie Can’t Buy Me Love, A Hard Day’s Night, I Should Have Known Better oder I Feel Fine umhüllten mich wie ein magischer Zauber. Musik war für mich damals wie heute etwas Heiliges, im wahrsten Sinne des Wortes, sie heilt mich. Die Beatles hatten einen ganz eigenen Sound. Ich weiß noch, dass ich einmal – das war natürlich später – in der Straßenbahn der Linie 1 nach Hause gefahren bin und ein Jugendlicher, der ein paar Reihen von mir entfernt saß, Musik aus einem Kofferradio hörte. Ich habe nicht weiter darauf geachtet, aber auf einmal wurde ich hellhörig. Das, was jetzt kam, berührte mich sofort, und ich dachte noch, das klingt ohrwurmartig, fast wie ein Kinderlied, ist es vielleicht von den Beatles? In den nächsten Tagen achtete ich beim Radiohören immer darauf, und schließlich kam die Auflösung: es war Yellow Submarine. Musik bestimmte mein Leben, deshalb wünschte ich mir eine Gitarre und bekam eine sogenannte Schlaggitarre der Firma Hoyer mit zwei länglichen Schalllöchern in f-Form. Zusammen mit ein paar Freunden nahm ich Unterricht, um ein paar Akkorde zu lernen. Ich tat mich schwer damit, aber nach ein paar Monaten konnte ich mich und andere beim Singen ganz passabel begleiten. Einer der ersten Hits, die ich ganz gut nachspielen konnte, war nicht House Of The Rising Sun – der kam etwas später -, sondern Eve Of Destruction von Barry McGuire; ein Protestsong, wie man damals sagte. Was ich auch toll fand und mir natürlich auch einstudierte, war Spiel nicht mit den Schmuddelkindern von Franz Josef Degenhardt. Ich mochte den Text, konnte mich in ihm wiederfinden. Ein Junge wird ermahnt, brav und angepasst zu sein wie seine Brüder, aber er will lieber in einem Kaninchenstall zusammen mit Schmuddelkindern rauchen, Karten spielen und den Mädchen unter die Röcke schielen. Ich wollte definitiv auch ein Schmuddelkind sein.

      Zu meiner Gitarre gesellten sich später noch zwei Banjos, die ich einem Schulfreund für wenig Geld abkaufte.


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