Vage Sehnsucht. Jens Johler
Titel. Später, in den ’60er-Jahren, hatte ich ein kleines Röhrenradio der Marke Philetta und stellte gerne über Mittelwelle Radio Luxemburg ein. Der Sender war zwar meistens verrauscht, aber ich konnte trotzdem den englischsprachigen Titeln lauschen und war happy. Und wenn ich es irgendwie schaffte die Schule zu schwänzen, hörte ich vormittags im NDR den Schulfunk. „Neues aus Waldhagen“ mit Bauer Piepenbrink war meine Lieblingssendung.
Ich weiß nicht mehr genau, wann wir den ersten „modernen“ Plattenspieler bekamen, er war auf jeden Fall integriert in eine Musiktruhe, eine Kombination aus Radio und Plattenspieler. Eine der frühesten 45er-Singles, die es bei uns zu Hause gab, war der Banana Boat Song von Harry Belafonte. Ich habe die Platte wieder und wieder gehört, obwohl ich kein Wort verstand. Zu meinem siebten Geburtstag bekam ich meine erste eigene Single geschenkt, Buona Sera auf Deutsch gesungen. Mann, hab ich mich gefreut! Das Original ist von Louis Prima, meine deutsche Version war von Ralf Bendix. Ein Jahr später erschien das zweite deutschsprachige Lied, das mich aufhorchen ließ, Kriminal-Tango vom Hazy-Osterwald-Sextett; alles, was in Kriminal-Tango besungen wird, fand ich stark, „Kriminal-Tango in der Taverne, dunkle Gestalten, rote Laterne. Glühende Blicke, steigende Spannung, und in die Spannung, da fällt ein Schuss.“ Es gab in Kiel so ein verrauchtes Lokal, in dem ich zwar nie drin war, damals schon gar nicht, aber es hatte so eine gewisse Ausstrahlung, und die Leute, die da rauskamen, das waren für mich solche dunklen Gestalten. Eine andere Kneipe, die meine Fantasie anregte, befand sich in der Puffgegend am Hafen. Ich stellte mir vor, dass dort so etwas geschehen könnte, was in dem Lied besungen wird. Meine Affinität zur Halbwelt, zum Rotlichtmilieu, hat hier ihre Wurzeln; ich hatte schon früh eine gewisse Abneigung gegen die vermeintlich heile bürgerliche Welt. Obwohl ich nie wirklich dauerhaft in diesen lasterhaften Kreisen verkehrt habe, hat mich das Milieu immer irgendwie angezogen und fasziniert.
Die relativ unbeschwerte schulfreie Kindheit ging zu Ende, und es folgte ein würgender Schraubstock, eine große Qual für alle Beteiligten, für meine Eltern, für die Lehrer und für mich: SCHULE. Vermutlich weil ich ein Träumer war und mit der damals noch ziemlich strengen Schuldisziplin nichts anfangen konnte. Wenn der Lehrer für den nächsten Tag ein Diktat ankündigte, auf das wir uns vorbereiten sollten, hatte ich das zu Hause längst wieder vergessen und fiel aus allen Wolken, wenn dann die Hefte für das Diktat ausgeteilt wurden. Alle anderen wussten, worum es ging, ich hatte keine Ahnung, und das Ergebnis war entsprechend. Den Wandertag habe ich verpasst, weil ich mit dem Ranzen vor der Schule stand, während alle anderen schon irgendwo unterwegs waren. Ich hatte einfach keinerlei Ehrgeiz und war immer ein schlechter oder allenfalls mittelmäßiger Schüler. Vielleicht lag es daran, dass ich damals aus dem Bett gefallen bin. „Der ist nicht auf den Kopf gefallen“, sagt man über jemanden, der von schneller Auffassungsgabe ist, ich aber WAR auf den Kopf gefallen und entwickelte mich im Vergleich zu den anderen extrem langsam, ich war ein Spätentwickler. Bei einem Test, den meine Eltern mit mir durchführen ließen, stellte man Legasthenie und Dyskalkulie fest – zu Deutsch Lese- und Rechtschreibstörung sowie Rechenschwäche. Deswegen wurde ich auch erst mit sieben Jahren eingeschult, also 1958. Heute sind diese Schwächen bei den Schulbehörden allgemein anerkannt und werden bei der Notenvergabe berücksichtigt, aber zu meiner Zeit gab es das nicht, ich war eben einfach der Dumme. Immerhin hatte mein Vater das Problem erkannt und mich sanft dazu gedrängt, jeden Tag ein paar Seiten aus einem Buch zu lesen. Ich hatte vorher schon die Sagen des klassischen Altertums gelesen, wenn auch nicht regelmäßig. Nun empfahl er mir die Werke von Karl May. Nach anfänglichem Zögern kam ich schnell in einen gewissen Sog, den wohl die meisten Karl May-Leser kennen. Mit Winnetou I fing ich an, und im Laufe der Jahre habe ich bestimmt an die zwanzig Romane von Karl May gelesen. Und dann gab es natürlich die Micky Maus-Hefte, die hatte ich sogar abonniert, dafür habe ich einen Großteil meines Taschengelds hergegeben. Onkel Dagobert, der sein Vermögen abwechselnd gegen die Attacken von Gundel Gaukeley und den Panzerknackern schützen mußte; Daniel Düsentrieb mit seinem kleinen Helferlein, einer Glühbirne mit Gliedmaßen; und Donald Duck mit seinen Neffen Tick, Trick und Track – ach, ich habe sie alle geliebt. Und wenn Kater Karlo mit Kumpel Schnauz seinem Widersacher Micky Maus eine Falle stellte und ihn mit den Worten „Kleiner Schreck in der Morgenstunde!“ empfing, dann war die Welt für mich ganz einfach in Ordnung. Ein anderes Problem war, dass ich Linkshänder bin. Mein Lehrer in der ersten Klasse, Herr Enz – er hatte eine Brille mit einem Milchglas, so dass man immer nur ein Auge von ihm sah, das einen streng anschaute -, hat mich gezwungen, mit der rechten Hand zu schreiben. Meine Mutter versuchte zwar zu intervenieren, aber vergebens. Heute weiß man, dass so eine erzwungene Umstellung alles andere als förderlich ist. Aus all diesen Gründen konnte von Freude und Lust am Lernen keine Rede sein, für mich bedeutete Schule immer nur Druck und Stress. Ein weiterer Aspekt dieses Horrorszenarios war die Prügelstrafe. Wir waren eine gemischte Klasse mit knapp vierzig Kindern, hinten im Klassenzimmer stand ein Schrank, in dem sich ein Rohrstock befand. Die Jungen mussten sich über den Schreibtisch des Lehrers beugen und bekamen die Stockhiebe auf den Hintern, die Mädels mussten ihre Hände mit den Handflächen nach oben ausstrecken, um darauf geschlagen zu werden. Warum geschlagen wurde, weiß ich nicht mehr genau. Ich vermute, wegen aller möglichen Anlässe, nicht gemachte Hausaufgaben, Störung des Unterrichts, Schwänzen der Schule. Aber da ich ein relativ braver Schüler war, jedenfalls in den ersten vier Grundschuljahren, bin ich selber nie geprügelt worden. Ich bin oft gefragt worden, ob meine Eltern mal daran gedacht hätten, mich auf eine andere Schule zu schicken, auf eine Waldorfschule zum Beispiel. Ja, das haben sie, aber ich glaube, mein Vater scheute die Kosten; Waldorfschulen müssen privat bezahlt werden, jedenfalls, wenn die Eltern es sich leisten können. Immerhin gab es während der ersten zwei Grundschuljahre noch ein paar Lichtblicke. Einer davon war mein Roller, ein hellblauer Tretroller mit richtigen dicken Luftreifen, den ich sehr geliebt habe. Ich war mobil, bin durch halb Kiel gerollert und oft mit der Straßenbahn um die Wette gefahren. Während der Fahrt war die Straßenbahn schneller als ich, aber wenn sie an den Haltestellen stoppen musste, konnte ich aufholen. Trotzdem habe ich immer verloren, wenn auch nur knapp. Die Straßenbahn hatte drei Wagen, vorne im ersten saßen meist ältere Herrschaften und Frauen mit kleinen Kindern, im mittleren saßen die angepassten Schlips- und Kragenträger, und hinten im letzten Wagen trafen sich die rauchenden Typen aus dem Arbeitermilieu. Obwohl ich gerne dem Fahrer ganz vorn zuschauen mochte, stieg ich meistens in den hinteren Wagen.
Ein anderer heller Streifen am Horizont des Lebens war das kleine Häuschen in Angeln, direkt an der Schlei, das meine Mutter sich nach der Scheidung zusammen mit ihrem zweiten Ehemann O.B. kaufte, als ich sieben Jahre alt war; O.B. war die Abkürzung für Onkel Blaue, das hatten meine beiden Schwestern sich ausgedacht. Eigentlich hieß er Alwin Blaue und war ein ziemlich bekannter Bildhauer und Maler. Die Schlei, auch Tochter der Ostsee genannt, ist ein circa vierzig Kilometer langer Meeresarm zwischen Kiel und Flensburg, in Schweden würde man sagen, ein Fjord. Das Wasser ist salzig, aber nicht so salzig wie das der Ostsee, weil es sich mit dem Süßwasser aus kleineren Zuflüssen vermischt, deswegen spricht man von Brackwasser. In dem kleinen Häuschen an der Schlei gab es außer Elektrizität nur Natur pur. Wasser mussten wir mit’m Eimer vom Brunnen des Nachbarn ranschleppen, das war hauptsächlich mein Amt. Als Toilette diente ein Plumpsklo, und geheizt wurde mit Holz und Kohle in einem alten Böllerofen. Die kleine Zufahrtsstraße bestand aus Sand und Schotter. Ach, war das schön urig! Ich habe dort wundervolle Wochenenden und Ferien verbracht. Jeden Sommer haben wir in der Schlei gebadet, schon morgens, noch vor dem Frühstück; wenn meine Mutter dann hinterher erfrischt aus dem Wasser stieg, schwärmte sie oft, „das Zweitschönste auf der Welt ist ein Bad in der Schlei.“ Ein paar Mal habe ich sie gefragt, was denn das Schönste sei, bekam aber als Antwort immer nur ein vielsagendes Lächeln.
Wir hatten ein kleines Ruderboot, das hieß Auguste, mit dem war ich viel auf der Schlei unterwegs. Einmal bemerkte ich, wie sich ein Segelboot mit seinem langen Kiel auf einer Sandbank festgefahren hatte. Bald darauf kam ein großer Schlei-Dampfer, der bereit war, das Segelboot herauszuziehen. Da ich mit Auguste ganz in der Nähe war, wurde ich per Zeichensprache und mit lauten Zurufen gefragt, ob ich das dicke Tau, das zum Abschleppen nötig war, vom Schlei-Dampfer zum Segelboot bringen könnte. Ich ruderte zum Dampfer, übernahm das Tau, das von oben herabgelassen wurde, ruderte es zum Segelboot, und dann konnte die Abschleppaktion beginnen. Und sie gelang. Mann, war ich stolz, an solch einer Hilfsaktion beteiligt zu sein! Außer den Wasseraktivitäten