Vage Sehnsucht. Jens Johler

Vage Sehnsucht - Jens Johler


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auch mutig sein. Ohne diese tiefe Traurigkeit ist der Mut brüchig wie Porzellan. Der Mut des Kriegers ist wie eine chinesische Lackschale: Holz unter dünnen, elastischen Lackschichten. Lässt man solch eine Schale fallen, dann zerbricht sie nicht, sondern federt zurück. Sie ist hart und weich zugleich.“ Als ich diese Sätze las, war ich wie befreit. Innere Traurigkeit kannte ich ja aus Erfahrung, aber sie als Tugend und Stärke zu verstehen, das war neu für mich. Ich bin mit Leitsätzen aufgewachsen wie „Ein Junge weint nicht“ oder „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“.

      Die allerfrühesten Erinnerungen meiner Kindheit sind vermischt mit der Vorstellung von Nichtzugehörigkeit. Das war wirklich seltsam. Ich glaubte, alle meine Mitmenschen würden mir etwas vorspielen und die Welt wäre in Wirklichkeit ganz anders, auch wenn ich nicht wusste, wie. Als hätten sich alle Menschen untereinander abgesprochen und ich wäre ihr Versuchsobjekt. Ungefähr vierzig Jahre später sah ich im Kino The Truman Show. Ich war vollkommen perplex! Offenbar gab es Menschen, die ähnliche Gedanken hatten wie ich, wenn auch etwas anders gelagert. Truman ist Hauptdarsteller einer Fernsehserie, ohne dass er selbst davon etwas ahnt – anfangs jedenfalls. Ich konnte mich sofort in ihn hineinversetzen, weil ich es aus eigener Erfahrung kannte. Auch wenn in meiner Fantasie keine TV-Show vorkam, war es für mich ein faszinierendes Aha-Erlebnis. Der Unterschied zwischen mir und Truman war allerdings, dass ich das Gefühl hatte, alle spielen mir etwas vor, obwohl es nicht so war, während Truman das Gefühl hat, sie sind echt, obwohl sie alle nur Darsteller der Fernsehshow sind – genau spiegelverkehrt.

      Eines Morgens – es muss so in meinem fünften oder sechsten Lebensjahr gewesen sein, ich ging jedenfalls noch nicht zur Schule – lag ich allein im Bett; ich wachte auf, die Sonne schien ins Zimmer und die Vorhänge bewegten sich leicht im Wind, der sanft durchs offene Fenster wehte. Alles war wunderschön. Ich war entzückt von dem, was ich sah. Nie zuvor hatte ich die Welt so wahrgenommen. Ein tiefer innerer Friede erfüllte mich. Ich habe dieses Erlebnis nie vergessen, weil es so besonders und so eindringlich war. Erst nach der Jahrtausendwende habe ich in einem Buch gelesen, dass solche besonderen spirituellen Zustandserfahrungen auch oder gerade bei Kindern nicht ungewöhnlich sind. Die Mystiker berichten von ähnlichen Erfahrungen. Jakob Böhme sah auf einem silbernen Teller die Spiegelung des Sonnenlichts, und auf einmal umgab ihn eine solche Helligkeit, dass er vor Begeisterung aus dem Haus lief, aus der Stadt hinaus und in die freie Natur. Und in diesem erleuchteten Zustand erkannte er, dass alle Dinge ihre Signatur haben, ihre Sprache oder ihre ganz eigene Melodie. Der spirituelle Lehrer Eckhart Tolle litt an schweren Depressionen, und als er zu dem Schluß kam „ich kann mit mir selbst nicht weiterleben“ durchdrang ihn die jähe Erkenntnis, dass es ein ICH und ein SELBST gibt. Diese Erkenntnis ging ihm buchstäblich über den Verstand. Er wurde plötzlich von einem Energiewirbel ergriffen, verlor das Bewusstsein, und als er wieder zu sich kam, hatte er ein neues höheres Bewusstseinslevel erreicht; seitdem lebt er in einem Zustand tiefen inneren Friedens, wohl so etwas wie Glückseligkeit.

      In meinem Kinderbett am Blücherplatz in Kiel hörte ich abends vor dem Einschlafen einige Male, wie jemand aus der Ferne ein melodisches Instrument spielte. Wahrscheinlich war es eine Klarinette. So schön, so intensiv. MUSIK. Da berührte sie mich zum ersten Mal richtig. Als ich sieben Jahre alt war, führten meine beiden Schwestern zusammen mit ihren Schulfreundinnen ein Theaterstück auf; es hieß Das Bambus-Kind und beruhte auf einem alten japanischen Märchen. Ich wurde als japanisches Mädchen zurechtgemacht und durfte mitspielen.

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      Kai als Bambus-Kind (© Archiv Kai Sichtermann)

      Während der Aufführung wurde der Bolero von Maurice Ravel von einer Langspielplatte eingespielt. Ich war völlig hin und weg. Diese Musik hat mich total beeindruckt. Ravel schrieb das Stück für eine russische Tänzerin. Später soll er dazu gesagt haben, „Ich habe nur ein Meisterwerk gemacht, das ist der Bolero; leider enthält er keine Musik.“ Ich weiß nicht genau, was er damit meint, vielleicht, dass immer dasselbe Motiv wiederholt wird, jeweils von einem anderen Instrument, oder dass der Rhythmus immer gleich bleibt. Für mich ist der Bolero einfach grandios, ich bin immer noch wie verzaubert, wenn ich ihn höre. Aber es gab bei uns zu Hause damals noch eine zweite wichtige Langspielplatte, Lotte Lenya singt Kurt Weill. Abgesehen von den großartigen Brecht-Weill-Songs und der einmaligen Interpretation Lotte Lenyas hat mich auch das Plattencover beeindruckt, auf dem Lotte Lenya als Jenny in der Dreigroschenoper zu sehen ist. Das Besondere daran war, dass sie ein bisschen nuttig oder ordinär aussieht, ich glaube, das wars, was mich angezogen hat.

      Zum Glück und zu meiner Freude wurde bei uns zu Hause auch gesungen, vor allem in der Adventszeit und zu Weihnachten. Es gehörte sozusagen zum guten Ton, Weihnachtslieder zu singen. Ich mochte das sehr und habe gerne mitgesungen. Einige der Stücke hat meine Schwester Barbara mit mir auf der Blockflöte eingeübt, ja, das war mein erstes Instrument. Mein Vater hat seine Geige ausgepackt und Pizzicato gespielt, also gezupft, und auch das hat mir gefallen. Meine Schwestern haben überhaupt oft gesungen, bei ihren Treffen mit den Wandervögeln oder auch einfach nur beim Abwaschen in der Küche. Alles Mögliche haben sie geträllert, auch Heimat- und Küchenlieder, und dabei haben sie sich manchmal halb totgelacht. Und dann gabs noch die Spielmannszüge, die damals immer am 1. Mai durch die Stadt marschierten, mit Blasinstrumenten und großer Trommel; ich bin jedes Mal begeistert mitgelaufen. Durch meine Schwestern kam ich in Kontakt mit Jazz und Rock’n’Roll; Chris Barber und Louis Armstrong waren die ersten Jazz-Musiker, die ich hörte, Ice Cream, Down by the Riverside, When the Saints Go Marchin’ in. Beim Rock’n’Roll waren es Buddy Holly, Chuck Berry und natürlich Elvis Presley; Heartbreak Hotel und Hound Dog sind die ersten Elvis-Songs, an die ich mich erinnere, später noch Jailhouse Rock. Ich bin also schon in frühester Kindheit auf Rock’n’Roll abgefahren.

      Chuck Berry und Elvis, das wusste ich damals natürlich noch nicht, waren Rebellen, auch wenn Elvis für meinen Geschmack nicht revoluzzermäßig aussah. Elvis förderte mit seiner Musik die Aufhebung der Rassentrennung, indem er die schwarzen Musikstile wie Blues und Rhythm & Blues mit weißen Country & Western-Elementen verband. Er interpretierte Songs schwarzer Künstler und bewegte sich wie sie, was damals ein Skandal war. Aber Elvis hatte natürlich seine Vorläufer. Schon mit Rock Around The Clock von Bill Haley, dem Song aus dem Film Die Saat der Gewalt, hatte die Rock-Rebellion begonnen. Die Haley-Single gehört zu den meistverkauften Hits aller Zeiten. Sie war ’55 in Amerika „die“ Hit-Sensation und bei uns mit der üblichen Verspätung ebenso. Übrigens wurde in Deutschland anfangs zwischen Jazz und Rock’n’Roll noch gar nicht unterschieden. Die legendäre Deutschlandtournee von Bill Haley im Jahre 1958 wurde als Jazzkonzert angekündigt. Den ersten Teil bestritt das Orchester Kurt Edelhagen mit dem Sänger Bill Ramsey, das war sauberer Bigband-Jazz, im zweiten Teil trat dann Bill Haley auf – aber in Berlin und Hamburg hatten die Fans schon keine Lust mehr auf den braven Bigband-Jazz und fingen an zu randalieren. Als Bill Haley endlich auf die Bühne kam, geriet endgültig alles außer Rand und Band. Die Konzerte wurden abgebrochen, die Fans fühlten sich betrogen, und draußen kam es zur Schlacht mit der Polizei. Am nächsten Tag beeilten sich die Repräsentanten der Jazz-Szene zu beteuern, Rock’n’Roll habe nichts mit Jazz zu tun. Dabei hatte es drei Jahre zuvor noch Krawalle bei Konzerten mit Louis Armstrong gegeben. Aber von nun an war der Jazz brav, angepasst und gesellschaftsfähig, und die Rolle der Rebellion übernahm endgültig der Rock’n’Roll. Er lieferte damit auch die musikalische Grundlage für die Revolte der 60er-Jahre. Einer meiner Lieblingssongs aus jener Zeit ist der Klassiker Roll Over Beethoven von Chuck Berry. Er erzählt oder besingt darin, wie sehr er auf Rock’n’Roll-Musik abfährt, dass die klassische Musik à la Beethoven davon überrollt wird, und er fügt hinzu, man solle auch gleich noch Tschaikowski Bescheid sagen. Auf der Original-Single von 1956 spielt übrigens Willie Dixon Kontrabass, einer der bedeutendsten Bluesmusiker ever. Daran sieht man, wie sehr der Rock’n’Roll mit dem Blues verwoben ist. Chuck Berry machte sich auch Gedanken über das Gemeinwohl; durch Too Much Monkey Business durften sich all jene angesprochen fühlen, die von sich sagen konnten, „irgendwie bin ich mit meiner Gesamtsituation unzufrieden“. Elvis hat den Song natürlich auch gesungen.

      Ende der ’50er Jahre wurde das Radio ein wichtiges Medium für mich, dem ich jahrzehntelang


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