Vage Sehnsucht. Jens Johler
auch heute noch. Meine Kumpels und ich haben dann natürlich versucht eine Band zu gründen; Besetzung: drei Gitarren und ein Banjo. Die Eltern meines besten Freundes Hermann hatten im Garten eine kleine Bude aus Holz, die durften wir uns zurechtmachen. Leider begingen wir den Fehler, sie mit Karbolineum zu streichen, einem braunrötlichen Holzschutzmittel, das fürchterlich nach Teer stank. Wir dachten, der Geruch würde sich mit der Zeit verflüchtigen, aber das tat er nicht, und der Teergeruch setzte sich immer in den Klamotten fest. Wenn ich abends nach Hause kam, wusste meine Stiefmutter immer sofort, wo ich gewesen war. Trotzdem haben wir unsere Bude geliebt und sie ausgiebig genutzt, haben Musik gemacht, heimlich Zigaretten geraucht und manchmal auch Wein getrunken, den ich aus dem Weinkeller meines Vaters stibitzte. Dazu hatte ich folgenden Trick: Ich nahm eine Flasche aus dem Regal, ging damit durch die Hintertür nach draußen und versteckte sie hinter der Mülltonne. Später verabschiedete ich mich von meinen Eltern, ging durch den Vordereingang unseres Hauses hinaus, nahm heimlich die Weinbuddel und fuhr zur Bude. Leider ist das durch meine eigene Blödheit aufgeflogen. Einmal hatte ich den Wein schon bei der Mülltonne versteckt, dann wurde unser Treffen kurzfristig abgesagt, und ich vergaß die Buddel. Als meine Stiefmutter am nächsten Vormittag den Müll wegbringen wollte, entdeckte sie die Flasche. Das gab Mecker, aber es hielt sich in Grenzen. Mir was das Ganze sehr peinlich.
Leider Gottes gab es nicht nur Musik, sondern auch noch die Schule. Und es ging weiter abwärts! Das heißt, erst aufwärts, dann abwärts. Ich musste aufs Gymnasium, auf die Max-Planck-Schule. Das verlangte meine Familie von mir, allen voran mein Vater. Der Junge muss doch Abitur machen und studieren, hieß es. Ich hatte jetzt einen sehr viel längeren Weg zur Schule, den ich mit dem Fahrrad bewältigen musste. Obendrein bekam ich auch noch Nachhilfeunterricht in der Gutenbergstraße, im Zentrum von Kiel. Das waren echt weite Fahrradtouren; jeden Tag eine Stunde hin und eine wieder zurück, und das zu jeder Jahreszeit, egal ob es regnete oder schneite. Im Sommer blieb nur das Fahrrad, da gab’s keine Diskussionen; in einem Winter habe ich einmal für zwei oder drei Monate ein Straßenbahnticket bekommen. Aber es hatte auch was, sich auf dem Fahrrad mit gesenktem Kopf durch den Schnee zu kämpfen.
Damals fingen meine morgendlichen Halsschmerzen an, jeden Morgen ganz früh, noch im Bett, ließ ich als Erstes eine kleine, saure Lutschtablette namens Cebion auf meiner Zunge zergehen, danach ging’s besser. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, die Halsschmerzen und Schluckbeschwerden waren psychosomatischer Natur. Ich konnte und wollte dieses Schulleben nicht mehr akzeptieren, nicht mehr „schlucken“. Es gab Tage, an denen ich an Selbstmord dachte, aber das hört sich dramatischer an, als es war; tief in mir wusste ich, es gibt irgendeine höhere Instanz, die mir dieses Erdenleben geschenkt hat, und ich habe zwar die Freiheit, aus eigenem Entschluss vom Diesseits ins Jenseits zu wechseln, aber es ist besser, dieser höheren Instanz die Entscheidung zu überlassen. Deswegen war ich eigentlich nie wirklich selbstmordgefährdet. Aber das Gymnasium war entsetzlich! Lauter eingebildete Schüler und Lehrer, die alle glaubten, sie wären was Besseres – mit wenigen Ausnahmen. Einige Lehrer waren vom Denken her noch Nazis. Es entwickelte sich bei mir eine Verweigerungshaltung gegenüber der Schule, die stetig zunahm. Irgendwann zu dieser Zeit gab es ja auch schon die ersten Gammler in Deutschland, Typen mit langen Haaren, die nur abhingen und rauchten und den lieben Gott einen guten Mann sein ließen. Sie lebten die totale Verweigerung gegenüber der etablierten Gesellschaft. Ich schätze mal, wenn ich zwei, drei Jahre älter gewesen wäre, hätte aus mir ein prima Gammler werden können. In den Augen der Mainstream-Bevölkerung war ein Gammler natürlich ein Taugenichts. „Was er ja auch war, das war doch gerade der Witz“, könnte man sagen, aber ich denke, „Taugenichts“ ist eine moralische Bewertung, als „Gammler“ haben sich die unangepassten Jugendlichen selbst bezeichnet. Das hieß auch nicht unbedingt, dass sie gar nichts machten, aber sie kleideten sich lässiger und verweigerten sich den Normen der Leistungsgesellschaft. Und irgendwie fühlte ich mich diesen Leuten zugehörig. Tief in meinem Herzen war und bin ich Nonkonformist. Und deswegen musste ich auf dem Gymnasium natürlich eine Ehrenrunde drehen und die Sexta wiederholen. Aber die zweite Runde war noch schlimmer. Mein neuer Klassenlehrer – Dr. Reshöft hieß er, wenn ich mich nicht irre – ein kleiner, pummeliger Kerl und armseliger Geist, hatte mich irgendwie auf dem Kieker und versuchte mich zu quälen, wo immer er konnte. Seinen größten „Erfolg“ hatte er, als er dafür sorgen konnte, dass ich nicht mehr im Chor des Kieler Theaters bei den Turandot-Aufführungen mitsingen durfte, das Einzige, was mir in dieser Zeit wirklich Freude bereitet hatte. Dafür verachtete ich ihn zutiefst. Mir wurde übel, wenn ich ihn nur von Weitem sah. Zwar bin ich in die Quinta versetzt worden, aber das Ende vom Lied war der Abgang vom Gymnasium. Ich wurde aussortiert und kam auf die Realschule. Das war Ostern ’65, ich war vierzehn. Danach wurde es besser, immerhin. Ich kam auf die III. Knaben-Mittelschule, wie sie früher hieß, später dann Klaus-Groth-Realschule. Leider gab es, wie schon auf dem Gymnasium, keine gemischten Klassen, nur Jungs. Das war für mich ein dicker Wermutstropfen. Ich war der Älteste in der Klasse und wurde deswegen Opa genannt. Aber nach ein paar Wochen Eingewöhnungszeit war ich dort gut integriert. Die Mitschüler und Lehrer waren echt in Ordnung. Ich wurde sogar zum Klassensprecher gewählt. Aber unserer Klassenlehrerin passte das nicht, sie setzte mich nach kurzer Zeit wieder ab, mit der Begründung, ein Klassensprecher müsse sich, was den Notendurchschnitt betrifft, im oberen Drittel befinden, und das war bei mir definitiv nicht der Fall. Die Absetzung war mir nicht unrecht, ich hing nicht an der Verantwortung, die dieses Amt mit sich brachte. Ich bin sowieso lieber ins Kino gegangen.
Der erste Kinofilm, den ich überhaupt gesehen habe, war ein Zeichentrickfilm, aber ich weiß nicht mehr, ob es Susi und Strolch war oder Bambi. Einer von beiden, ich habe beide gesehen. Ins Kino zu gehen war immer ein Fest für mich und manchmal mit überraschenden Erlebnissen verbunden. Irgendwann in den ’50er-Jahren hatte ich diesen schönen, sentimentalen Song von Frankie Laine gehört, „Do not forsake me, oh my darling“ – High Noon. Ein trauriges Lied, das mich tief berührte. Mitte der ’60er-Jahre sah ich den Hollywood-Western Zwölf Uhr mittags – mit Gary Cooper als schießender Marshal, der eigentlich nur noch Frieden will, und Grace Kelly als gewaltfreie Quäkerin, die sich gezwungen sieht, einen Revolver in die Hand zu nehmen – gegensätzlicher geht’s wohl kaum. Und nun erfuhr ich, dass der Song ursprünglich aus diesem Film stammte. Musik und Film passten perfekt zusammen. Und auch bei einem anderen Kino-Highlight hörte ich zuerst das Lied, North To Alaska von Johnny Horton, das war in den Sommerferien ‘61 in unserem Häuschen an der Schlei. Ein Nachbarmädel hatte die Single und spielte sie wochenlang mehrmals täglich, und das Lied weckte bei mir die Abenteuerlust. „Way up north“, singt Johnny Horton – „Weit oben im Norden“ -, also irgendwo hingehen und sein Ding machen, das war die Botschaft. Immerhin verstand ich noch soviel von dem englischen Text, dass es dabei um Gold, um eine Frau mit dem Namen Jenny und um honeymoon ging, also um Liebe. Natürlich war da sehnsuchtsvolle Romantik mit im Spiel. Viele Monate später ging ich ins Kino, um mir den Western Land der tausend Abenteuer anzuschauen. Als der Vorspanns lief, bekam ich eine Gänsehaut, weil ich unverhofft North To Alaska hörte. Ich sah John Wayne und Stewart Granger in den Hauptrollen als Goldsucher in Alaska, und natürlich war auch eine schöne Frau mit im Spiel, dargestellt von der Schauspielerin Capucine. Die beiden Abenteurer suchen zwar nach Gold, aber tief drinnen suchen sie auch nach Liebe. Kurz vor Ende des Films wird John Wayne vor die Entscheidung gestellt, Capucine entweder laut und deutlich seine Liebe zu gestehen oder sie abreisen zu lassen.
Aber das Land der tausend Abenteuer war gar nichts im Vergleich mit dem, was sich dann ereignete. Es war eines der ergreifendsten Erlebnisse meines damaligen Lebens und fand statt, als ich mir den Kinofilm West Side Story anschaute, mit der genialen Musik von Leonard Bernstein. Ich war zwölf, kam aus dem Kino und wusste nicht mehr, wo ich war. So etwas hatte ich noch nie erlebt, es war atemberaubend! Wieso hat mich der Film so mitgenommen?, habe ich mich oft gefragt. Die Geschichte geht ja zurück auf das Theaterstück Romeo und Julia von William Shakespeare, und in diesem Film ist alles drin, was das Leben zu bieten hat, Liebe, Drama, Gewalt, Spannung, Ekstase, Humor, Trauer – und dazu diese grandiose Musik und die rasanten Tanzszenen. Nachdem ich den Film gesehen hatte, war ich wie verwandelt. Alles hatte sich verändert, ich mich, aber auch meine Umwelt. Als ich langsam wieder zu mir kam, hatte ich nur noch einen Gedanken: Die Musik muss ich haben, koste es, was es wolle. Es gelang mir, über ein paar Ecken jemanden zu finden, der bereit war, mir die