Vage Sehnsucht. Jens Johler
im Dorf bei der Heu- oder Kartoffelernte mitgeholfen, und einige Male bin ich sogar Trecker gefahren. Ich lernte auch Angeln, mit Angelhaken und Regenwürmern, habe Aale, Barsche und Plötze rausgeholt. Anders als heute, machte es mir damals nichts aus, die Fische aufzuschneiden, auszunehmen und meiner Mama mitzubringen, damit sie mir meinen Fang zum Abendessen braten konnte.
Die Landbevölkerung in Angeln sprach Plattdeutsch, jedenfalls untereinander. Der Nachbar unseres kleinen Häuschens, Opa Hansen, sprach nur Platt. Wenn ich ihn morgens typischerweise mit einem freundlichen „Moin“ begrüßte, antwortete er stets mit einem lang gezogenen „Mooiiiin“, quer durch die Tonleiter, das war schon fast eine halbe Sinfonie. Opa Hansen hatte den Schalk im Nacken und war immer für ein Späßchen gut. Wenn meine Mutter ihn nachmittags zu Kaffee und Kuchen einlud und ihn nach einer Weile fragte, „na, Opa, schmeckt’s denn?“, antwortete er schlagfertig „ick heff noch gornich too schmeckt.“ Das heißt auf hochdeutsch „ich hab noch gar nicht hingeschmeckt.“ Plattdütsch ist ja kein Dialekt, wie man annehmen könnte, sondern eine eigene Sprache. Ich habe diese Sprache damals ein bisschen gelernt, nicht perfekt, doch immerhin so viel, dass ich einer niederdeutschen Theateraufführung folgen kann. Meine Mutter hat sich sehr mit dieser Sprache beschäftigt. Deswegen lagen in unserem Häuschen auch ein paar plattdeutsche Bücher rum. Eines davon hieß Dat harr noch leger warn kunnt, der Titel gefiel mir. Später, als ich Angie kennenlernte, habe ich ihr diesen Satz vorgetragen und sie gefragt, ob sie ihn versteht. Sie hat kurz überlegt und dann vorsichtig geantwortet, „der Hahn noch mehr Eier legen kann?“ Die richtige Antwort wäre gewesen, „das hätte noch schlimmer kommen können.“ Alles in allem waren diese Besuche in Angeln an der Schlei immer wundervoll, ein Hauch von Bullerbü-Romantik – ich denke gern daran zurück.
MEINE LEBENSRETTER: DIE BEATLES
An das Jahr 1960 habe ich keine guten Erinnerungen. Mein Vater hatte sich in Schulensee, einem Vorort von Kiel, ein Haus bauen lassen. Dorthin zog er mit seiner neuen Frau, und ich musste mit. Schlimm war daran erstens die Umschulung, neue Schule, neue Klasse – davor graute mir. Außerdem war ich gerne ein Großstadtkind und wollte nicht in so einen bürgerlichen Vorort mit gepflegten Vorgärten. Und schließlich wollte ich lieber bei meiner Mutter wohnen; sie war eine lebenslustige Person und verkehrte am liebsten in Künstlerkreisen. Da wurden ständig irgendwelche rauschenden Feste gefeiert – mit Rotwein, Schnaps und Zigaretten, versteht sich. Ich liebte diese Stimmung, mit dem blauem Dunst in der Luft und der Weinlaune der Erwachsenen; ich erinnere mich an volle Aschenbecher und tropfende Kerzen, die auf diesen mit Bast ummantelten Chianti-Flaschen brannten. Wenn das flüssige Wachs am Flaschenhals herunterlief, habe ich gerne damit rumgespielt. Dann sagte meine Mutter manchmal „nich’ kokeln!“ Getrunken wurde außer Chianti meist Kalterersee aus Zwei-Liter-Flaschen. Ich mochte die Leute aus dieser Künstlerszene, mit denen meine Mutter verkehrte, vornehmlich Maler, Grafiker und Bildhauer. Dadurch lernte ich so verrückte Begriffe wie Chromoxidgrün feurig, der Name einer Farbe – wäre auch ein geeigneter Namen für eine Punk-Band. Der Kopf der Künstlerclique war der Maler Werner Rieger, eine charismatische Persönlichkeit und ein geistreicher Philosoph, den ich sehr verehrt und bewundert habe. Er wohnte damals in der Kieler Altstadt, in der Straße Klosterkirchhof, in einem uralten Haus, das später abgerissen wurde. Seine kleine Ein-Zimmer-Behausung war spartanisch eingerichtet und diente gleichzeitig als Atelier. Als ich sie sah, war ich begeistert und wünschte mir, später auch einmal so zu wohnen. Von Werner habe ich viel gelernt – nicht nur philosophische Weisheiten. Zum Beispiel trank er schon gerne mal einen Aquavit, und bevor er ihn kippte, hielt er das Glas hoch und sagte mit lauter Stimme, „Rein Gottes Wort!“ Es hatte immer etwas Andächtiges, wenn er das sagte. Später, als Erwachsener habe ich selbst den einen oder anderen Alkoholrausch erlebt, und es gab da Momente, die würden Japaner als Satori bezeichnen, eine Einheits- oder Gipfelerfahrung. In solchen Momenten musste ich immer an Werner Riegers Trinkspruch „Rein Gottes Wort!“ denken. Der Kater am nächsten Morgen war dann des Teufels Antwort.
Nach der Umschulung kam ich in die dritte Klasse der Uwe-Jens-Lornsen-Schule in Kiel-Hammer; Hammer war ein Nachbarort von Schulensee, und dahin gingen nicht nur wir, die Kinder aus dem gutbürgerlichen Schulensee, sondern auch die Proletarier-Kids aus Hammer, die zum Teil noch in Baracken wohnten. Da gab es dann echte Klassenkämpfe, im doppelten Wortsinn. Ich kann mich noch genau an den ersten Schultag erinnern. Die Hammer-Kids hatten einem von uns aus Schulensee die Mütze geklaut und warfen sie im Klassenzimmer hin und her. Aus Versehen landete sie plötzlich bei mir. Ich gab sie dem Beklauten zurück. Daraufhin kam so ein untersetzter Proletariertyp auf mich zu, rammte mir seine Faust in die Fresse, verletzte sich dabei die Hand und schrie auf, wohingegen mir wie durch ein Wunder nichts passierte. Mein Schutzengel hatte gute Arbeit geleistet: Ich sah wie der Sieger aus, obwohl ich nichts dafür getan hatte. Gleich dieses erste Ereignis verschaffte mir eine gute Position innerhalb der Klassenhierarchie. Aber es ist mir wichtig zu betonen, dass nicht alle Jungs aus Hammer solche Schlägertypen waren, da waren auch prima Kumpels dabei, mit denen ich mich verstanden habe. Und umgekehrt gab es Kids aus Schulensee, die arrogant und eingebildet waren. Ein kleiner Trost oder, besser gesagt, ein großer war, dass es wieder eine gemischte Klasse war. So konnte ich heimlich nach den Mädels schielen und hatte natürlich meine Favoritinnen. Ein Mädchen kam aus Hammer, hatte blonde Haare und sah gut aus – ne Hammer-Braut eben. Das Besondere an ihr war, dass sie nicht sprach, weder im Unterricht noch auf dem Schulhof; ich habe nie ein einziges Wort von ihr gehört. Aber gerade das machte sie für mich so interessant und weckte meinen Beschützerinstinkt. Außerdem fühlte ich mich irgendwie mit ihr verbunden; ich war ja auch nicht gerade gesprächig. Außer Lesen, Schreiben und Rechnen habe ich auf dieser Hammer-Schule auch noch die Fäkalsprache gelernt und für ein paar Groschen meine ersten Pornos erworben, Schwarz-Weiß-Fotos mit nackten Frauen; mir gingen die Augen über. Ich glaube, heute im Zeitalter des Internets, ist das für die Kids nichts Besonderes mehr. Aber damals!
Anfang der ’60er Jahre, genau am 13. August 1961, wurde die Berliner Mauer gebaut, das habe ich mit meinen zehn Jahren natürlich mitgekriegt. Es gab dagegen auf dem Rathausplatz in Kiel eine Kundgebung. Ich war mit meinen Eltern dort und weiß noch, dass mich dieses Ereignis tief erschüttert hat. Am nächsten Tag habe ich den Zeitungsartikel aus den Kieler Nachrichten ausgeschnitten, weil ich stolz darauf war, mit dabei gewesen zu sein. Walter Ulbricht, der Staatsratsvorsitzende der DDR, war das erklärte Feindbild, mein Vater bezeichnete ihn als Brechmittel. Zwei Jahre später besuchte dann der amerikanische Präsident John F. Kennedy Berlin und rief den legendären Satz „Ich bin ein Berliner!“ in die Menge, um seine Solidarität mit den Berlinern zu bekunden. Nur fünf Monate später wurde Kennedy in Texas erschossen; was für eine Tragödie.
Es gab auch eine persönliche Tragödie bei uns; mein Vater und meine Stiefmutter hatten zwei Söhne, und der Ältere der beiden starb kurz vor seinem dritten Lebensjahr an Leukämie. Es war so traurig. Nach der Beerdigung hieß es, ich hätte mich nicht korrekt verhalten. Offenbar hatte ich keine angemessene Trauermiene gezeigt. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Aber wenn es so war, dann deshalb, weil ich unsicher und verlegen war. Ich habe meinen Bruder sehr gern gehabt. Und ich wusste, wie schlimm das für meine Eltern war.
Aber ich will nicht alles, was damals passiert ist, als grau und freudlos hinstellen, obwohl mir vieles so vorkommt, wenn ich zurückblicke. Ich hatte bald neue Freunde in Schulensee, und sobald ich die Hausaufgaben hinter mich gebracht hatte, durfte ich nach draußen, mit Freunden abhängen, Musik hören, Fahrrad fahren. Ich habe aber sowieso meistens versucht, die Hausaufgaben zu umgehen, für mich waren das Schularbeiten, und die mussten morgens in der Schule erledigt werden; ich war Spezialist darin, sie von irgendjemand abzuschreiben. Eines meiner schönen Erlebnisse war, dass ich Anfang ’62 zusammen mit meinem Vater in der Kieler Ostseehalle dabei war, als der THW Kiel Deutscher Meister im Hallenhandball wurde. Sport war neben Musik etwas, das mich interessierte, zumindest ein bisschen. Ich war sogar Mitglied in einem Ruderverein, dem Kieler Ruderclub am Düsternbrooker Weg, habe es da aber nur ein Jahr ausgehalten, von ’66 bis ’67; es ging dort unerträglich versnobt zu, allein schon diese Club-Abende, bei denen jeder so eine bestimmte Clubjacke trug! Nur das Rudern als solches war okay. Einmal haben wir einen Ausflug gemacht, sind die Schwentine entlang gerudert und haben irgendwo ein paar Tage gezeltet; das hat mir gefallen. Da hatten wir ja auch nicht diese Jacken an. Vorher