Vage Sehnsucht. Jens Johler
die originale Filmmusik, und das ging gar nicht. Also habe ich nicht lockergelassen und dann doch noch jemanden gefunden, der die LP mit dem richtigen Soundtrack hatte. Ich weiß noch, dass ich eines Morgens ganz früh aufstehen musste, um an einem bestimmten Ort zu sein, wo die Übergabe stattfand. Aber ich wäre bereit gewesen, bis nach Alaska zu reisen, um an diese Platte zu kommen. Die Musik dieser Zeit, allen voran die der Beatles und die von Leonard Bernstein, machten die Schule zwar nicht erträglicher, aber es gab etwas, auf das ich mich freuen konnte, sie machte mich glücklich.
Und dann auf einmal hatte das Schicksal ein Einsehen. Der Tag der Befreiung nahte. Es war Ende ‘67 – ich hätte bis zur mittleren Reife noch ungefähr anderthalb Jahre gebraucht – da fuhr mein Vater mit mir nach Lübeck und ließ den Direktor der Schleswig-Holsteinischen Musikakademie einen Eignungstest mit mir machen. So eine Art Vorchecking vor der Aufnahmeprüfung. Ich spielte etwas auf der Gitarre und sang dazu, auch meine Blockflöte kam zum Einsatz; der Direktor prüfte mein Gehör, indem er auf dem Klavier einen Akkord spielte und sagte „das ist G-Dur“, dann spielte er irgendeinen einzelnen Ton, und ich sollte herausfinden, welcher das war. Ich glaube, ich hatte drei Versuche, und zweimal lag ich richtig. Dann wurde ich hinausgeschickt, und mein Vater sprach allein mit dem Direktor. Auf der Rückfahrt nach Kiel hielt mein Vater an einer Raststätte an und eröffnete mir, dass ich die Schule verlassen könne. Noch heute, fast fünfzig Jahre danach, bekomme ich Glücksgefühle, wenn ich an dieser Raststätte vorbeifahre. Wegen irgendwelcher Formalien folgten noch zwei, drei Schultage, dann, am 1. November 1967, war mein letzter Schultag. Es war einer der schönsten Tage meines Lebens. Ich hätte schreien können vor Glück! Und ich habe es nie bereut, die Schule vorzeitig verlassen zu haben. Bis zum Beginn der Ausbildung hatte ich ein paar Monate frei. Ich bekam privat Trompeten- und Klavierunterricht und ging zur Tanzschule, weil das meine Kumpels auch taten. Aber nur ein paar Mal, dann hat’s mir gereicht. Wir waren ein Haufen verklemmter, pubertierender Jugendlicher, die versuchten, sich zu aktuellen Hits wie Judy In Disguise zu bewegen. Und dann auch noch die klassischen Tänze wie Walzer und Foxtrott, also nein, das war nun wirklich nichts für mich. Selbst die Tatsache, dass da auch ein paar ziemlich hübsche Mädels waren, hat mich nicht umstimmen können.
Genaugenommen hatten meine Eltern mir zwei Vorschläge gemacht, der erste war, in die Fußstapfen meines Patenonkels zu treten; der hatte auch Schwierigkeiten mit der Schule gehabt und war in dem großen Konzern seines Onkels – also meines Großonkels – zum Manager aufgestiegen. Um mir diesen Vorschlag schmackhaft zu machen, lockte man mich mit der Aussicht, schon bald einen schicken Sportwagen fahren zu können. Ich war vielleicht naiv und manchmal auch etwas schwer von Kapee, aber dieses Spiel durchschaute ich sofort. Ohne mich! Ich bin kein Typ für die Karriereleiter. Deswegen kam für mich nur die Musikakademie in Frage, auch wenn ich alles andere als sicher war, ob ich wirklich Orchestermusiker werden wollte: denn das war das erklärte Ziel des Studiums. Ich bestand im März ’68 die Begabtenprüfung, wurde aufgenommen und habe drei Semester studiert; Hauptfach Trompete, Nebenfächer Klavier, Harmonielehre, Gesang und ein Fach, das hieß Allgemeinunterricht. Das musste ich belegen, weil ich noch nicht alle Pflichtschuljahre absolviert hatte. Trompete als Hauptfach zu wählen, war übrigens nicht meine Idee gewesen, das haben die mir einfach aufgedrückt; Trompeter waren wohl gerade Mangelware. Ich habe mich redlich bemüht, aber das war einfach nicht mein Instrument. Nie werde ich vergessen, wie ich einmal mit einigen Kommilitonen zusammensaß – wir wollten aus Spaß ein bisschen Jazz spielen. Ich spielte Banjo, weil ich auf der Trompete viel zu schlecht war. Ein anderer Student war Asmus Hinz, heute Professor, er kam plötzlich reingeschneit, schnappte sich meine Trompete und legte los. Er war eigentlich Orgelschüler, kein Trompeter, und konnte trotzdem so gut spielen. Also, das war ein Schock für mich, der ich mich monatelang abquält hatte und dann so erbärmlich vor sich hindümpelte. Auch das Musizieren nach Noten fiel mir nicht leicht, und ich fragte mich immer häufiger, ob ich den richtigen Weg eingeschlagen hatte.
Gewohnt habe ich in Lübeck in einem Studentenwohnheim, und an den Wochenenden bin ich mit dem Zug nach Kiel gefahren oder getrampt, um Geld zu sparen. In dieser Zeit habe ich auch meinen Führerschein gemacht, die einzige amtliche Urkunde, die ich jemals aufgrund einer bestandenen Prüfung erworben habe. Und hier, in Lübeck, hatte ich auch meine ersten sexuellen Erfahrungen. Mein Mitbewohner, ein angehender Posaunist, war ein gelegentlicher Puffgänger, dessen Wahlspruch war, „ich vögele alles, nur keinen Igel, der hat Stacheln“. Er nahm mich mit in die Hafengegend, irgendwo an der Untertrave, allein hätte ich mich da nicht hin getraut, ich war viel zu schüchtern. Zwanzig Mark waren eine Menge Geld für mich, aber ich wollte unbedingt diese Erfahrung machen. Ich weiß noch ziemlich genau, wie die Frau aussah: dunkelblonde, halblange toupierte Haare, etwas vollschlank, mit kurzem, engem Rock; sie stand gelangweilt in einem Hauseingang und rauchte. Sie wirkte auf mich abgeklärt und cool, aber durchaus sexy; dann fixierte sie mich mit ihren Augen und sagte etwas, das ich akustisch nicht verstand, aber intuitiv sehr wohl. Da habe ich gespürt, die ist es, jetzt oder nie. Als sie mit mir eine Treppe hochstieg, die zu ihrem Zimmer führte, ging sie vor mir, und ihr kurzer Rock ließ tief blicken. Ich war wahnsinnig aufgeregt, aber es ging alles gut, und hinterher war ich einfach happy. Circa zwei Jahre später sah ich den Western Westwärts zieht der Wind, in dem Lee Marvin mit seiner tiefen Bassstimme Wand’rin Star singt; er intoniert teilweise etwas unsauber, aber genau das macht den Charme dieser Aufnahme aus. Man sieht im Film, wie Lee Marvin einen jungen Burschen zu einer Prostituierten ins Zimmer schiebt und zu ihr sagt, „Ich bring dir hier einen Jungen, gib ihn mir als Mann zurück.“ Da wurde mir erst richtig bewusst, was an jenem Abend in Lübeck mit mir geschehen war.
Wie schon erwähnt, war ich nur drei Semester in Lübeck, Trompete war nicht mein Ding, nach Noten zu spielen, fiel mir schwer, ich konnte mir immer weniger eine Berufslaufbahn als Orchestermusiker vorstellen. Und die schematische Einteilung in U- und E-Musik, in Unterhaltungsmusik und ernste Musik, gefiel mir überhaupt nicht. Für mich gab und gibt es nur Musik, egal ob Klassik, Jazz oder Pop. Entweder sie berührt mich oder nicht – das ist das Qualitätsmerkmal. Zu einem Schlüsselerlebnis auf der Musikakademie kam es, als ich die Rhapsody in Blue von George Gershwin entdeckte. Ich war total begeistert und dachte, vielleicht gibt es Noten dazu oder einen Klavierauszug, um etwas davon auf dem Piano nachzuspielen. Ich ging zur Notenbibliothek der Musikakademie und trug der Bibliothekarin meinen Wunsch vor. Ihre knappe Antwort lautete „Unterhaltungsmusik führen wir nicht!“ Ich war sprachlos. Ein Kommilitone von mir hatte kurz zuvor behauptet, der russische Komponist Tschaikowski sei kein ernstzunehmender Musiker der Klassik. Da hatte ich noch gedacht, na ja, der Junge ist eben etwas versnobt. Aber nach diesem Erlebnis in der Bibliothek wurde mir klar, ich bin hier fehl am Platz. Heute würde ich übrigens sagen, die Rhapsody in Blue war damals schon klassische Musik, in der Pop-Musik war man längst über Gershwin hinaus.
Die zweite Hälfte der ’60er Jahre war, was die populäre Musik betrifft, eine unglaublich kreative Zeit und wird deshalb zu Recht die „Goldene Ära des Rock“ genannt. Britische Bands wie die Kinks; The Who mit ihrem rebellischen My Generation; die Small Faces; Procol Harum, die Pretty Things oder Eric Burdon & The Animals, schafften nicht nur eine neue Musik, sondern auch ein neues Lebensgefühl. Mit Cream gab es die erste sogenannte Supergroup – mit Eric Clapton, Jack Bruce und Ginger Baker – einfach irre! Aus den USA kamen fantastische Gesangsgruppen wie die Beach Boys oder die Mamas & Papas und ein Supergitarrist namens Jimi Hendrix. Keiner spielte so abgefahren wie er. Und nicht zu vergessen Bob Dylan, der mir zuerst durch seinen Hit Like a Rolling Stone auffiel. Der amerikanische Autor Greil Marcus hat ein ganzes Buch über diesen Song und seine historische Bedeutung geschrieben. Von ihm stammt die Bemerkung, dass Elvis Presley der Rebell der ’50er-Jahre war und Bob Dylan der Rebell der ’60er. Es gab noch eine weitere Band, die absolut herausragend war, die Rolling Stones mit ihrer rauen bluesigen Art, Musik zu machen – „mit ’ner Schaufel Dreck“, wie Rio zu sagen pflegte. The Last Time, Paint it Black und Jumpin’ Jack Flash waren ihre ersten Hits in Deutschland, die mich nachhaltig beeindruckten, oder Let’s Spend the Night Together – allein schon der Titel war natürlich für einen Sechzehnjährigen ein ganz heißes Thema. Jumpin’ Jack Flash habe ich Anfang der ’70er-Jahre noch mal laut mit Kopfhörern in bekifftem Zustand angehört und gedacht, „wow, Charlie Watts, der Drummer, spielt keinen einzigen Wirbel“ – Einfachheit – weniger ist mehr! Das machte Mut, denn