Paulus und die Anfänge der Kirche. Sabine Bieberstein

Paulus und die Anfänge der Kirche - Sabine Bieberstein


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nach Galiläa zurückgekehrt sind (vgl. Mk 14,50 f.).12 Auch einige der Erscheinungstraditionen deuten, wie bereits erwähnt, nach Galiläa als Ort visionärer Jesusbegegnungen nach Ostern (Mk 16,7; Mt 28, 16–20; Joh 21).

      Allerdings muss ein Teil der Jesusanhängerschaft – darunter Mitglieder des Zwölferkreises und andere Repräsentanten, nicht jedoch die Q-Gruppe – aus Galiläa dann doch wieder nach Jerusalem zurückgekommen sein. Vielleicht gründet deren Motivation darauf, dass sie die Auferweckung Jesu als Teil des endzeitlichen Umwälzungsprozesses interpretierten, der zur endgültigen Durchsetzung der Gottesherrschaft führen |25| würde.13 Denn nach jüdischen Traditionen wurden die Ereignisse der Endzeit in Jerusalem erwartet, so dass es nachvollziehbar wird, dass die Jesusanhänger mit ihren hohen Erwartungen dort sein wollten, um «selbst den Platz der Parusie besetzt zu halten, gleichsam als eschatologische Vorposten, als die Wächter auf den Zinnen der Stadt, die der Welt und insbesondere den Zerstreuten das Kommen des himmlischen Königs künden sollten, wenn es soweit war (Jes 52,8)»14.

      1.5.2

       Eine aussergewöhnliche Erfahrung am Anfang

      In seiner Pfingstgeschichte (Apg 2,1–13) erzählt Lukas, wie die von Jesus verheissene Geistausgiessung (Apg 1,8) sich realisierte: Die in Jerusalem versammelte Jesusgruppe wird am Pfingsttag von dieser Geistkraft erfüllt und verändert. Damit steht auch nach der Darstellung der Apostelgeschichte eine aussergewöhnliche Erfahrung am Anfang der Ausbreitung der Jesusbotschaft. Das Geschehen wird zunächst als ein hörbares Phänomen beschrieben, indem von einem Brausen wie von einem Sturm die Rede ist (Apg 2,2), es ist aber auch visuell erfahrbar: Es wird von Zungen wie von Feuer gesprochen, die sich auf alle verteilen (Apg 2,3). Und schliesslich ist die Wirkung auf die Anwesenden mehr als erstaunlich, denn alle reden nun in fremden Sprachen (Apg 2,4). Vielleicht hat Lukas in Apg 2,1–4 eine ältere Tradition verarbeitet, die von ekstatischen Erfahrungen erzählte, die zu einem geistgewirkten Zungenreden führten.15 Auch die Erscheinungstraditionen in 1 Kor 15,3–7 sprechen von aussergewöhnlichen Erfahrungen, von denen sich eine vor einer Gruppe von 500 Glaubensgeschwistern ereignet habe. Die johanneische Tradition spricht ebenfalls von einer Geistübermittlung durch den Auferstandenen am Ostertag (Joh 20,21–23). Zwar sind diese durchaus unterschiedlichen Traditionen keinesfalls in eins zu setzen; doch weisen sie auf aussergewöhnliche Erfahrungen der Jesusanhängerinnen und -anhänger bald nach |26| dem Tod Jesu hin, die sie als endzeitliche Ereignisse deuteten und in deren Folge sie sich, von neuer Kraft erfüllt, zur Verkündigung des Gekreuzigten und von Gott Auferweckten gesandt wussten.

      Bei der erzählerischen Ausgestaltung jener Erfahrungen stehen prophetische Texte im Hintergrund, die für die Endzeit die Ausgiessung des Geistes erwarten und an die in der Pfingsterzählung angeknüpft wird (Joël 3,1–5; Jes 59,21; Ez 36,23–28; 39,29). Damit werden auch diese Jerusalemer Anfangsereignisse in den Horizont eschatologischer Erwartungen gestellt. Möglicherweise klingen auch Motive der Sinaioffenbarung an, wie eine Schrift des jüdischen Theologen und Philosophen Philo von Alexandria (geboren ca. 15/10 v. Chr.) über den Dekalog und speziell zu Ex 19,16 ff. nahelegen könnte:

      «Eine Stimme ertönte darauf mitten aus dem vom Himmel herabkommenden Feuer […], indem die Flamme sich zu artikulierenden Lauten wandelte, die den Hörenden vertraut waren, wobei das Gesprochene so deutlich klang, dass man es eher zu sehen als zu hören glaubte.»16

      Auch wenn bei den Augenzeugen des von Lukas gestalteten Sprachenwunders in der Pfingsterzählung an Jüdinnen und Juden aus der Diaspora gedacht ist, so klingt in den verschiedenen Sprachen, von denen hier die Rede ist, bereits die Ausbreitung der Christusbotschaft «bis an die Enden der Erde» (Apg 1,8) an, wie es die Apostelgeschichte im Anschluss erzählen und dabei auf Schritt und Tritt deutlich machen wird, wie sehr dieser Weg von eben dieser Geistkraft bewirkt und begleitet wird.

      1.5.3

       Christusgläubige Gemeinden in Jerusalem

      Aus den Traditionen, die Lukas in seiner Apostelgeschichte verarbeitet hat, lassen sich einige bemerkenswerte Aspekte aus dem Leben der ersten Jesusgemeinschaft in Jerusalem gewinnen, sowohl was das Gemeindeleben angeht als auch was ihre Aktivitäten im Kontext der Stadt Jerusalem betrifft. So gehen die Texte wie selbstverständlich davon aus, dass sich |27| die Zwölf und die anderen Mitglieder der Gemeinde im Jerusalemer Tempel aufhalten. Bereits das Lukasevangelium hatte damit geendet, dass die Jüngerinnen und Jünger, nachdem der Auferstandene in der Nähe von Betanien unweit von Jerusalem von ihnen geschieden war, nach Jerusalem und speziell in den Tempel zurückkehrten:

      «Dann führte er sie hinaus in die Nähe von Betanien. Dort erhob er seine Hände und segnete sie. Und während er sie segnete, verliess er sie und wurde zum Himmel emporgehoben; sie aber fielen vor ihm nieder. Dann kehrten sie in grosser Freude nach Jerusalem zurück. Und sie waren immer im Tempel und priesen Gott.» (Lk 24,50–53)

      Ähnlich geht auch die Apostelgeschichte von Anfang an davon aus, dass sich die Jesusanhängerschaft regelmässig im Tempel aufhält (Apg 2,46 u. ö.). Explizit wird erwähnt, dass man sich «zum Gebet» in den Tempel begibt (Apg 3,1; 21, 26 ff.), dass die Apostel auf dem Tempelareal verkündigten (Apg 3,11–26; 5,20 f.42 u. ö.) und Heilungen vollbrachten (Apg 3,2–10). Das Tempelareal ist aber auch Ort von Konflikten mit jüdischen Behörden (Apg 4). Einerseits ist in diesem Erzählzug ein spezifisch lukanisches Darstellungsinteresse zu beobachten, der dem Tempel in seinen Schriften insgesamt eine besondere Bedeutung zuweist.17 Anderseits sind darin auch historische Erinnerungen enthalten. Ob sich die Jesusgruppe auch mit eigenen Opfern am Tempelkult beteiligte, ist den Texten nicht eindeutig zu entnehmen; doch könnte die kleine Szene in Apg 21,26, die selbstverständlich davon ausgeht, dass für Paulus und seine Begleiter nach der vorgeschriebenen Reinigung Opfer dargebracht werden, auf eine solche anfängliche Opferpraxis der Jerusalemer Jesusgemeinschaft hindeuten.18

      Zunehmende Bedeutung als Versammlungsorte der entstehenden Gemeinschaften gewannen private Häuser, in denen man sich zum «Gebet» (Apg 1,14 u. ö.) sowie zum «Brotbrechen» traf (Apg 2,42 u. ö.). Gemeinsame Mähler gehörten von Anfang an zur Praxis in der Jesusnachfolge und |28| bildeten den Ausgangspunkt auf dem Weg zur Herausbildung der spezifischen urchristlichen Gottesdienstpraxis.19

      Die von Lukas so betonte Gemeinschaft und die gemeinsamen Mähler haben auch einen konkreten sozialen Hintergrund: Die ersten Jesusanhängerinnen und -anhänger entstammten nicht den wohlhabenden Schichten, sondern gehörten zu den relativ und absolut Armen.20 Paulus spricht in Röm 15,26 explizit von den «Bettelarmen» (ptochoi) in der Gemeinde von Jerusalem, denen sein umfangreiches Kollektenprojekt zugutekommen sollte.21 In einem solchen Kontext sind gemeinschaftliche Mähler von kaum zu überschätzender lebenspraktischer Bedeutung, ganz ähnlich wie dies bereits in der ersten Jesusbewegung der Fall gewesen war. In jenen Mählern Jesu, die ihm die Beschimpfung als «Fresser und Weinsäufer» (Lk 7,34) eingebracht hatten, war die Wirklichkeit des Reiches Gottes konkret zu erleben, und zwar sowohl was die Fülle der für alle zur Verfügung stehenden Speisen betraf als auch im Blick auf die alle menschengemachten Grenzen überschreitende Gemeinschaft.

      Das Überleben und Zusammenleben der Jerusalemer Jesusgemeinschaft wurde nach dem Bild, das die Apostelgeschichte zeichnet, ganz konkret durch Gütergemeinschaft ermöglicht (Apg 2,45; 4,32–37). Gewiss entwirft Lukas dadurch ein idealisierendes Bild von den Anfängen der Jerusalemer Gemeinde. Nicht zuletzt zeigen gerade die positive Hervorhebung von vorbildhaften Einzelfiguren wie Barnabas (Apg 4,36 f.) auf der einen Seite sowie Negativerzählungen wie diejenige über den Betrug von Hananias und Sapphira (Apg 5,1–11) auf der anderen, dass es wohl nicht immer so ideal zugegangen ist. Dennoch: Historisch gesehen lässt gerade das Beispiel des Barnabas, der als ein aus der Diaspora zugewanderter Jude charakterisiert wird, auf einen innergemeindlichen Güteraustausch schliessen, bei dem wohlhabendere Gemeindemitglieder vornehmlich aus der Diaspora die |29| ärmeren aus Galiläa stammenden Jesusnachfolger sowie Witwen und andere Mittellose materiell unterstützten.22

      Wenn Lukas also von der Gütergemeinschaft der Jerusalemer Jesusgemeinschaft spricht, greift er damit zwar auch jüdische und griechische Sozialutopien auf und stellt seiner Leserschaft ein idealisiertes Bild der Anfänge vorbildhaft vor Augen, um sie zu einer ähnlichen Praxis zu motivieren.


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