Paulus und die Anfänge der Kirche. Sabine Bieberstein

Paulus und die Anfänge der Kirche - Sabine Bieberstein


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religiösen, sondern auch durch einen gewissen ökonomischen Austausch bestimmt war.»23

      1.5.4

       Leitungsstrukturen und Führungsfiguren

      1.5.4.1

       Der Zwölferkreis

      Nach dem Bild der Apostelgeschichte liegt der Ursprung der Jerusalemer Jesusgemeinschaft beim Zwölferkreis, der durch Frauen, Brüder bzw. Geschwister Jesu sowie die Mutter Jesu ergänzt wird. Die Gruppe derer, die sich nach der Aufnahme Jesu in den Himmel im «Obergemach» versammelte, wird folgendermassen beschrieben:

      «Als sie in die Stadt kamen, gingen sie in das Obergemach hinauf, wo sie nun ständig blieben: Petrus und Johannes, Jakobus und Andreas, Philippus und Thomas, Bartholomäus und Matthäus, Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Simon, der Zelot, sowie Judas, der Sohn des Jakobus. Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und mit Maria, der Mutter Jesu, und mit seinen Brüdern.» (Apg 1,13 f.)

      Manches spricht dafür, dass der Zwölferkreis nach seiner Rückkehr nach Jerusalem24 dort zunächst eine führende Funktion in der entstehenden Jesusgemeinschaft eingenommen hat. Allerdings wird eine wirkliche Leitungsfunktion des Zwölferkreises nur in Apg 6,2 vorausgesetzt: Hier treten die |30| Zwölf als diejenigen auf, die aufgrund der Konflikte bei der Versorgung von Witwen die gesamte Jüngerschaft einberufen, um nach einer Lösung zu suchen. Ansonsten scheinen sie eher eine symbolische Bedeutung gehabt zu haben, indem sie die Hoffnung auf die Wiederherstellung des Zwölfstämmevolkes verkörperten.25

      Für die Darstellung des Lukas ist es von grosser Bedeutung, dass der Zwölferkreis nach dem Ausscheiden des Judas durch eine Nachwahl wieder vervollständigt wird (Apg 1,15–26); denn dieser Zwölferkreis garantiert für ihn die Kontinuität von der Zeit des Lebens Jesu über den Bruch des Karfreitags hinweg bis in die Zeit der beginnenden Kirche. Dies zeigt besonders deutlich die Erzählung über die Wahl des Matthias in den Zwölferkreis; denn als Aufnahmebedingung für das nachzuwählende Mitglied dieses Kreises wird die Präsenz während der gesamten Zeit des Wirkens Jesu bis hin zu seiner Aufnahme in den Himmel gefordert. Als besondere Aufgabe wird das Bezeugen der Auferstehung Jesu genannt:

      «Einer von den Männern, die die ganze Zeit mit uns zusammen waren, als Jesus, der Herr, bei uns ein und aus ging, angefangen von der Taufe des Johannes bis zu dem Tag, an dem er von uns ging und (in den Himmel) aufgenommen wurde, – einer von diesen muss nun zusammen mit uns Zeuge seiner Auferstehung sein.» (Apg 1,21 f.)

      Dabei setzt Lukas den Zwölferkreis mit dem Kreis der Apostel gleich (Apg 1,25 u. ö.). Historisch müssen der Zwölferkreis und die Gruppe der Apostel allerdings als zwei zumindest nur teilweise deckungsgleiche Personengruppen mit unterschiedlichen Funktionen betrachtet werden. Während der Zwölferkreis mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Jesus selbst zurückgeht und als lebendiges Zeichen für die Hoffnung auf die Wiederherstellung Israels fungieren soll, wissen sich die Apostel von Gott bzw. dem Auferstandenen zur Verkündigung ausgesandt. Auch das (vorpaulinische) Glaubensbekenntnis in 1 Kor 15,3b–7 nennt den Zwölferkreis und die Apostel als zwei unterschiedliche Gruppen. Lukas identifiziert diese beiden Gruppen. Deshalb wird in der Apostelgeschichte nicht |31| einmal Paulus mit dem Aposteltitel bedacht – mit der einzigen und fast versehentlichen Ausnahme von Apg 14,4 f.14.

      Exkurs

      Paulus selbst vertritt in seinen Briefen ein dezidiert anderes Apostelverständnis. So kann er in Röm 16,7 mit Andronikus und Junia einen Mann und eine Frau, die in keiner Weise mit dem Zwölferkreis in Verbindung zu bringen sind, als Apostel – und sogar als «hervorragend unter den Aposteln» – bezeichnen. Auch beansprucht Paulus den Aposteltitel für sich selbst, und mit Vehemenz setzt er sich dagegen zur Wehr, dass ihm einige Mitglieder der korinthischen Gemeinde diesen Titel streitig machen wollen (1 Kor 9).

      Lukas macht an den Aposteln, die er mit dem Zwölferkreis gleichsetzt, die Glaubwürdigkeit der Botschaft Jesu und der Botschaft über Jesus fest. Sie stehen für die Kontinuität von der Zeit des Wirkens Jesu bis in die nachösterliche Zeit und erhalten die Funktion eines Fundaments, das in diesen Anfangszeiten gelegt wird. Interessant ist, dass gemäss der Apostelgeschichte nach jener ersten Ersatzwahl kein weiteres Mitglied des Zwölferkreises mehr ersetzt wird, auch nicht als Jakobus, der Bruder des Johannes, den Märtyrertod stirbt (Apg 12,1–2).

      «Das Apostelamt ist für Lukas nicht übertragbar. Es gibt auch hier keine ‹Nachfolger der Apostel›. Die Apostel sind für die Kirche eben so etwas wie das ‹Fundament›. Das Fundament kann nicht beliebig erweitert oder verändert werden.»26

      1.5.4.2

       Jakobus, Petrus und Johannes

      Überraschend schnell scheint der Zwölferkreis also aus dem Blickfeld des frühen Christentums geraten zu sein. Das zeigt auch ein Blick in die Briefe des Paulus. Während im vorpaulinischen Glaubensbekenntnis in 1 Kor 15,3–5 Petrus und der Zwölferkreis als die ersten Adressaten einer Erscheinung des Auferstandenen genannt werden und also eine herausgehobene Bedeutung haben27, spielt der Zwölferkreis in den Berichten des Paulus über seine Besuche in Jerusalem (Gal 1,18 f.; 2,1–10) |32| keine Rolle mehr.28 So ist es wahrscheinlich, dass der Zwölferkreis – historisch gesehen – nur eine kurze Zeit in Jerusalem zusammenblieb.29

      Sowohl die Darstellung der Apostelgeschichte als auch Äusserungen des Paulus zeigen, dass neben den Zwölferkreis bald weitere Gruppen und Personen traten, die impulsgebende Funktionen in der Jerusalemer Urgemeinde übernahmen. Dazu gehört Petrus, der zwar in den Evangelien bereits als Wortführer der Zwölf während der Zeit des Wirkens Jesu erscheint, dessen Autorität nun aber dadurch neu begründet wird, dass ihm in einigen Traditionssträngen die Erstvision des Auferstandenen zugesprochen wird (1 Kor 15,5; Mk 16,7; Lk 24,34). Seine Bedeutung für die Gesamtkirche, die an seinem Beinamen als «Fels» (Mt 16,18) anschaulich gemacht wird, wird allerdings erst viel später, in der Gemeinde des Matthäus, die wahrscheinlich im syrischen Antiochia beheimatet ist, zum Ausdruck gebracht.30

      Neben Petrus erhielten auch Johannes, der Sohn des Zebedäus, sowie Jakobus, der Bruder Jesu, der zunächst der ganzen Sache noch distanziert gegenübergestanden hatte, zunehmende Bedeutung. Paulus bezeugt in Gal 1,18 f. die besondere Funktion des Petrus und des Herrenbruders Jakobus in der Jerusalemer Gemeinde bereits in den ersten Jahren nach seiner eigenen Lebenswende, also bereits Ende der 30er Jahre. In Gal 2,9 bezeichnet Paulus diese beiden gemeinsam mit Johannes als die «Säulen», die «Ansehen geniessen». Nach der Darstellung des Paulus waren es diese drei, die als Führungsfiguren der Gemeinde von Jerusalem mit ihm selbst und Barnabas die besonderen Vereinbarungen zur Verkündigung des Evangeliums an Menschen jüdischer und nichtjüdischer Herkunft besiegelten. Demnach scheinen diese drei in den 40er Jahren eine Art Dreierkollegium zur Leitung der Jerusalemer Gemeinde gebildet zu haben, wobei die Bezeichnung als «Säulen» zudem auf eine heilsgeschichtliche Funktion in der eschatologischen Neukonstituierung des Gottesvolkes |33| hin deutet.31 Eine solche Funktion ist allerdings nur vorstellbar, wenn der Zwölferkreis diese Hinweisfunktion mittlerweile verloren hatte. Eine solche Entwicklung ist nach dem gewaltsamen Tod des Zebedäussohnes Jakobus unter Herodes Agrippa I. (Apg 12,1 f.) durchaus vorstellbar. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist Mk 10,35–45 als ein Hinweis auf den Martertod auch des Johannes, des Bruders des Jakobus, zu verstehen. In der Folge scheint auch Petrus Jerusalem verlassen zu haben, so dass nun allein Jakobus, der Bruder Jesu, als Leitungsfigur der Jerusalemer Gemeinde übrig blieb.

      Auch der Bruder Jesu starb eines gewaltsamen Todes. Dies legt zumindest eine kurze Notiz des jüdischen Historikers und Theologen Flavius Josephus (geboren 37/38 n. Chr.) in seinem Werk über die Geschichte des jüdischen Volkes (Antiquitates) nahe, die den Tod des Jakobus in die Zeit des römischen Statthalters Albinus (62–64 n. Chr.) datiert:

      «Er (= Albinus) versammelte daher den Hohen Rat zum Gericht und stellte vor dasselbe den Bruder des Jesus, der Christus genannt wird, mit Namen Jakobus, sowie noch einige andere, die er der Gesetzesübertretung anklagte und zur Steinigung führen liess.»32

      1.5.4.3

       Der Siebenerkreis und die Gemeindemitglieder aus der Diaspora


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