Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter. Iris Nentwig-Gesemann
diese keine gesondert für Kinder konzipierten Bereiche dar« (ebd.: 60 f.).
Damit wird die Orientierung der Kinder daran, Räume zu erkunden, sie sich anzueignen, umzugestalten, zu umleben und an ihrer Qualität mitzuwirken, unterstrichen. Und damit werden Potenziale des Ganztags deutlich: Das Erkunden, Erschließen und Erspielen von Aktionsräumen kann Kindern sowohl innerhalb als auch außerhalb der physischen Räume, in denen ganztägige Erziehung, Bildung und Betreuung gewährleistet wird, ermöglicht werden.
Qualitätsentwicklung und Professionalisierung im Feld des Ganztags
Qualität kann nur in Bezug auf bestimmte, die Qualitätsentwicklung orientierende, Ziele bestimmt, untersucht und weiterentwickelt werden. Zudem haben verschiedene Akteur:innen bzw. Akteursgruppen unterschiedliche Perspektiven auf die – vom eigenen Standort und aus dem eigenen Erleben heraus wahrgenommene – Qualität von etwas.
In Bezug auf das aktuelle Bildungs- und Qualitätsverständnis von Ganztagsschulen spiegelt auf der Ebene der Ideal- bzw. Zielvorstellungen die folgende Definition den fachwissenschaftlichen Diskurs wider: »Unter der Prämisse, dass Ganztagsschule einem gegenüber reinem Fachlernen aber auch ›bloßer Aufbewahrung‹ der Schüler/-innen erweiterten Bildungsverständnis folgt, ist die umfassende Entwicklung der Persönlichkeit der Schüler/-innen Ziel von Bildung und Erziehung in der Ganztagsschule. (…) Zu betrachten sind demnach nicht nur die Lernfortschritte der Schüler/-innen im kognitiven Bereich, sondern auch fächerübergreifende Wirkungen auf z.B. Motivation, Wohlbefinden und soziales Lernen in Abhängigkeit schulischer Qualitätsmerkmale« (Fischer et al. 2012: 24). Erkennt man die Gültigkeit dieser sehr allgemein gehaltenen Kriterien für den aktuellen Diskurs zum Thema Ganztag und seiner Qualitätsentwicklung an, stellt sich dennoch die Frage, aus wessen Perspektive Qualität beschrieben und bewertet wird, wer dabei mitreden kann und wer nicht. Werden über wissenschaftlich fundierte Kriterien hinaus auch die Qualitätsvorstellungen von Trägern, Fachkräften und Eltern einbezogen? Wird vor allem den Kindern in dieser sie unmittelbar betreffenden Angelegenheit das Gehör geschenkt, das ihnen rechtlich verbrieft ist?
Eine konsequent interperspektivisch konzipierte Qualitätsentwicklung (vgl. Nentwig-Gesemann et al. 2021) impliziert, dass es weder für den empirischen Zugang zu Qualität noch für die praktische Herstellung von Qualität und die Qualitätsentwicklung ausreicht, wenn die verschiedenen Perspektiven nebeneinander gedacht und behandelt werden. Vielmehr muss es darum gehen, das Zusammenspiel der diversen Ebenen und Akteursgruppen, die wechselseitigen Wirkmechanismen und Spannungsfelder zwischen Norm und Habitus, die bei ihrem Aufeinandertreffen entstehen, in den Blick zu nehmen und zu bearbeiten. Die Kernprinzipien einer solchen Qualitätsentwicklung sind Transparenz, Diskurs und Kompromissfreundlichkeit.
Ohne Zweifel zählen die pädagogischen Fachkräfte zu den qualitätsrelevanten Akteursgruppen im Ganztag: Sie müssen – in den gegebenen Rahmenbedingungen – tagtäglich und in der direkten Interaktion mit den Kindern (und Eltern) professionell agieren und die Qualität des Ganztags als Lern- und Lebensort hervorbringen. Darüber hinaus sind sie als Mitglieder eines pädagogischen Teams mit der Erwartung konfrontiert, den Ganztag als Organisation so weiterzuentwickeln, dass er den an ihn gerichteten Erwartungen gerecht wird. Die Rede vom Ganztag als »Schule der Zukunft« und die damit verbundenen Hoffnungen auf »eine Neuordnung des Lernens durch die Verbindung von fachlichen und überfachlichen Gegenstandsbereichen« (Jürgens 2018: 5 f.) schrauben die Erwartungen in die Höhe und bleiben zugleich – zwangsläufig – diffus. Im Sinne eines »Doing Ganztag« kann die Qualität (hier im Sinne von Beschaffenheit) der ganztägigen Erziehung, Bildung und Betreuung nur in komplexen Wechselwirkungsbeziehungen hergestellt werden, zu denen neben den Menschen auch Programmatiken, Strukturen, zeitliche und räumlich-materiale Settings gehören.
Die Praxis der pädagogischen Fachkräfte im Ganztag kann dann als professionell bzw. professionalisiert betrachtet werden, wenn es ihnen gelingt, eine »konstituierende Rahmung« (Bohnsack 2020: 30 ff.) zu entwickeln, eine habitualisierte, verlässliche Praxis, welche nicht in erster Linie an vorgegebenen Programmatiken und deren Umsetzung orientiert ist, sondern auf das eigene Erfahrungswissen ebenso rekurriert wie auf die Orientierungsrahmen bzw. den Habitus der Eltern und vor allem der Kinder. Ein auf den Ganztag bezogenes Beispiel wäre, dass Fachkräfte eine konstituierende Rahmung in Bezug auf die Frage entwickeln müssen, wie sie mit dem Spannungsverhältnis zwischen der organisationalen Norm der Hausaufgabenbetreuung und dem Wunsch der Kinder nach Spielen und Erholung umgehen wollen. Als professionell zu bezeichnen wäre, wenn es den Fachkräften gelingt, auf eine monoperspektivische Fremdrahmung zu verzichten (in deren Folge dann das Hausaufgabenmachen zur Pflichtaufgabe bzw. sogar zum Zwang wird) und stattdessen mit den Beteiligten (hier den Eltern und vor allem den Kindern) in einen kompromissorientierten Diskurs zu gehen und eine verlässliche Regelung zu finden, wo die Stimmen der Kinder angemessen Gehör gefunden haben.
Forschungsstand
Die Perspektiven von Grundschulkindern auf die Ganztagsbetreuung wurden bereits in Studien mit unterschiedlichen Schwerpunkten untersucht; allerdings lassen sich noch größere Forschungsdesiderate ausmachen, wenn es um Erkenntnisse geht, die sich auf ganz Deutschland beziehen und die verschiedenen Formate des Ganztags umfassen.
Ausnahmen sind hier das LBS-Kinderbarometer (ProKids 2018) mit der Befragung von 10.025 Kindern im Alter von neun bis 14 Jahren und die World-Vision-Studie mit der Befragung von über 2.500 Kindern zwischen sechs und elf Jahren (Pupeter und Hurrelmann 2013). Durchaus interessante Ergebnisse – etwa dass derzeitige Ganztagsangebote bei Kindern aus sozial benachteiligten Milieus weniger beliebt sind (ebd.: 122 f.) oder dass 59 Prozent der Befragten ihre Hausaufgaben lieber zu Hause machen, Kinder mit Migrationshintergrund aber mehrheitlich die Schule als Ort der Hausaufgabenerledigung vorziehen (ProKids 2018: 130 ff.) – müssten jedoch qualitativ vertieft werden, um daraus Schlussfolgerungen für eine Qualitätsentwicklung ableiten zu können, die die Kinderperspektiven einbezieht.
Auf eine quantitative Studie, die zwar regional begrenzt ist, aber sehr interessante Ergebnisse zu verschiedenen Themenfeldern liefert, soll hier ebenfalls verwiesen werden: Andreas Wildgruber (2017) befragte 71 Kinder aus sieben offenen Ganztagsschulen des Modells »OGTS-Kombi« in Bayern mit einem Fragebogen. Dieser umfasste zehn Bereiche, unter anderem das Mittagessen, Räumlichkeiten und Materialien, freizeitpädagogische Aktivitäten, Hausaufgabenzeit, Partizipation, soziale Beziehungen und Kooperationspraxis zwischen Fach- und Lehrkräften sowie Fragen danach, was die Kinder nach vier Wochen vermissen würden, wenn der Ganztag geschlossen wäre. 96 Prozent der Kinder nannten in Bezug auf den letzten Aspekt das Zusammensein mit anderen Kindern. Aber auch das Außengelände (90 %), die Lehrkräfte (84 %) und die Betreuer:innen im Offenen Ganztag (82 %) sowie Ausflüge (80 %) und Nachmittagsangebote (78 %) würden vermisst (ebd.: 22). Sehr positiv wurden auch die Beziehungen zu anderen Kindern bewertet: So stimmen die Befragten auf einer Skala von 0 (gar nicht) bis 5 (ganz) im Schnitt mit 4,7 der Aussage zu, im Ganztag gute Freunde zu haben. Bei der Aussage »wenn ich von jemandem geärgert werde, dann helfen mir andere Kinder« liegt die Zustimmung etwas niedriger bei 4,1 (ebd.: 19). Wildgruber findet zudem Hinweise auf grundlegend positive Beziehungen der Kinder zu den Fachkräften und macht dies beispielsweise an ihrer Zustimmung zu den Items fest, dass sie von den Fachkräften herzlich begrüßt und verabschiedet werden, sich bei Streit an ihre:n Betreuer:in wenden können und diesen vertrauen. Die Zustimmung liegt auf einer Skala von 0 (gar nicht) bis 5 (ganz) bei diesen drei Aspekten bei 4,5, 4,3 und 4,1 (ebd.).
Insgesamt besteht in der Forschung zum Thema Ganztag Einigkeit darüber, dass sich die Frage nach den Wirkungen eines ganztägigen Aufenthalts von Kindern in einer Ganztagsschule bzw. in Schule und Hort nicht auf die Verbesserung formaler Schulleistungen beschränken kann. Zunehmend setzt sich auch die Einsicht durch, dass die Perspektiven von Kindern, als den eigentlichen Adressat:innen einer Schulreform, viel stärker als bislang in die Überlegungen zur Qualität einbezogen werden müssten (Staudner 2018: 64; Plehn 2019: 68; Neuss 2017: 22 ff.) und dass für einen vertiefenden Einblick in die Kinderperspektiven qualitative Studien notwendig und zielführend sind.