Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter. Iris Nentwig-Gesemann
im Brennpunktgebiet (zwei Träger: ein städtischer und ein freier)
Die Konzepte der Einrichtungen unterscheiden sich sowohl auf der formalen Ebene (z.B. in Bezug auf die Art des Trägers) als auch in der praktischen Ausgestaltung. In das Sample aufgenommen wurden sowohl gebundene als auch offene Ganztagsschulen, Ganztagsschulen mit vollständig rhythmisiertem Konzept und reiner Nachmittagsbetreuung, in die Schule räumlich integrierte Ganztagsangebote und räumlich von der Schule vollständig getrennte Einrichtungen. Um die Kontraste zwischen den Einrichtungen und damit die Breite der Fälle zu verdeutlichen, werden fünf Einrichtungen kurz vorgestellt:
Der Ganztagsbereich A befindet sich auf dem Schulgelände einer offenen Ganztagsschule im Innenstadtbezirk einer Großstadt. Er wird von rund 150 Kindern und damit gut 70 Prozent der Schüler:innen der Schule besucht. Die Kinder teilen sich auf sechs Gruppenräume mit je einer verantwortlichen Fachkraft auf: Drei der Räume, in denen die Kinder an vier Tagen je nach Unterrichtsende ab 11:30 bis 16:30 Uhr und freitags bis 15 Uhr von Diplom-Sozialpädagog:innen und Erzieher:innen betreut werden, befinden sich im Erdgeschoss des Schulgebäudes und drei in einem Nebengebäude, in dem auch das gemeinsame Mittagessen stattfindet. Die Kinder erledigen in einer 45-minütigen Lernzeit ihre Hausaufgaben und können darüber hinaus zwei aus 26 möglichen AGs wählen, die montags bis donnerstags angeboten werden. Auch in den Ferien bietet der offene Ganztagsbereich Betreuung an, dann ganztägig von 8 bis 16 Uhr.
Ganztag B ist eine freie Schule mit natur- und inklusionspädagogischem Schwerpunkt, die von einer Erzieherinnen-Eltern-Initiative gegründet wurde. Die Schule bietet rund 140 Plätze an und befindet sich in einer Kleinstadt. In der Schule wird nicht strikt zwischen Unterricht, Freizeit oder Lernzeit unterschieden. Die Kinder besuchen die Schule in der Kernzeit von 7 bis 15 Uhr, wobei das Ganztagsangebot in einer Verlängerung bis 16 Uhr (an einem Tag auch 16:30 Uhr) besteht, welches sich inhaltlich nicht von dem Rest des Tages unterscheidet und in denselben Räumen stattfindet. Über den Tag hinweg bieten die Lehrer:innen und pädagogischen Fachkräfte verschiedene Angebote an, die auch den Lehrplan allgemeinbildender Schulen abdecken und die die Kinder zu einem gewissen Teil verpflichtend besuchen. Jedes Kind stellt sich allerdings in Absprache mit einem Mentor oder einer Mentorin einen eigenen, rhythmisierten Wochenplan zusammen, in dem sich individuelle, selbstbestimmte Arbeitszeiten mit dem Besuch von Angeboten und Freizeit abwechseln. Es gibt keine Hausaufgaben und Kinder können nach Rücksprache den Tag auch gänzlich selbstbestimmt gestalten. An einem Tag der Woche wird ein Waldausflug angeboten. Zu zwei Zeitpunkten ist das Mittagessen in der schuleigenen Mensa möglich.
Ganztag C ist ein Hort in einem Randbezirk einer Metropole, der von einer Elterninitiative getragen wird. Er bietet rund 40 Plätze vor allem für Kinder aus einer nahe gelegenen Grundschule an. Diese legen nach dem Unterricht einen Fußweg von etwa zehn Minuten zur Einrichtung zurück, wo sie je nach Schulschluss mittags ankommen und dann den Nachmittag bis maximal 18 Uhr verbringen. Der Hort verfügt über ein zweistöckiges Gebäude mit verschiedenen Räumen inkl. Turnhalle sowie über ein großes Außengelände. Dort befinden sich zudem mehrere kleinere Wohnhäuser, in denen ein sozialer Träger betreutes Wohnen für Jugendliche anbietet, die das Außengelände teilweise mitnutzen. Die Kinder werden von vier pädagogischen Fachkräften betreut und von einer Köchin mit Mittagessen versorgt, das sie einnehmen können, wenn sie von der Schule kommen. Die Fachkräfte räumen in Absprache mit den Eltern Zeit für die Hausaufgabenbetreuung ein und bieten darüber hinaus verschiedene AGs an.
Ganztag F ist eine Ganztagsschule in einer Mittelstadt in städtischer Trägerschaft. Die Schule wurde vor wenigen Jahren von einer gebundenen zu einer offenen Ganztagsschule, wobei sich nur wenig änderte: Die Kinder werden während der Kernzeit von 8 bis 15:15 Uhr (freitags bis 12:30 Uhr) fast ausschließlich von Lehrkräften betreut. Der Tag ist rhythmisiert, wobei die Unterrichtszeit überwiegt. So findet beispielsweise für die Dritt- und Viertklässler:innen von 8 bis 11:30 Uhr Unterricht statt, der lediglich von einer 25-minütigen und einer zehnminütigen Pause sowie für einen Teil der Kinder montags von 8 bis 9:30 Uhr durch ein Werkstattangebot unterbrochen wird. Vor der Mittagspause zwischen 11:45 um 12:30 Uhr sind zudem entweder Angebote oder eine Übungs- und Lernzeit vorgesehen, welche auch in den Klassenräumen unter Aufsicht stattfinden. Für das Mittagessen bestehen drei Optionen: Manche Kinder besuchen die Mensa, einige bringen etwas von zu Hause mit und essen meistens draußen und ein Teil der Kinder geht zum Essen nach Hause und kehrt dann für den Nachmittag zurück, der von 13:45 bis 15:15 Uhr noch einmal entweder aus Unterricht, Lernzeit oder Angeboten besteht. Prinzipiell können die Familien anschließend ein zusätzliches Betreuungsangebot bis 17 Uhr in Anspruch nehmen, für das ein eigener Raum in der Schule zur Verfügung steht. Dieses Angebot wird aber nur von wenigen Familien genutzt.
Eine Besonderheit stellt schließlich der Ganztag E – ein Waldhort – dar. Das dortige Konzept sieht vor, dass 25 Kinder jeden Tag nach einer Zeit aus flexiblem Mittagessen, fester Hausaufgabenzeit und Freispiel über mindestens zweieinhalb Stunden mit zwei hauptamtlichen Fachkräften im Wald verbringen.
Insgesamt haben 165 Kinder im Alter zwischen sechs und zehn Jahren, bzw. in Berlin und Brandenburg bis zwölf Jahren, an der Studie teilgenommen.
Erhebungsmethoden
Inspiriert durch den multimethodischen Ansatz des Mosaic Approach5 (Clark 2017) und aufbauend auf dem differenzierten Methodenschatz, der in der Studie »Kinder als Akteure der Qualitätsentwicklung in KiTas« entwickelt und erprobt worden ist (Nentwig-Gesemann et al. 2021), wurden den Ganztagskindern maximal mögliche Freiräume eröffnet, ihre Erfahrungen, Orientierungen und Einschätzungen zum Ausdruck zu bringen.
Das Prinzip der Offenheit und der möglichst geringen (und dann in den Analysen immer mitinterpretierten und -reflektierten) Eingriffe der Forscher:innen in den Relevanzrahmen und die Ausdrucksweisen der Kinder gewährleistete ein hohes Maß an Gültigkeit, also an Angemessenheit und Adäquanz, mit der empirisch tatsächlich das Erfahrungswissen der Kinder rekonstruiert werden konnte.6 Die eingesetzten Erhebungsmethoden werden im Folgenden kurz vorgestellt.
Die Gruppendiskussion ist ein für die Kindheitsforschung besonders geeignetes Verfahren, das sich variabel den jeweiligen verbalen Ausdrucksweisen von Kindern unterschiedlichen Alters anzupassen vermag (Nentwig-Gesemann 2010; Nentwig-Gesemann und Gerstenberg 2014). Die Kinder, die an der Studie teilgenommen haben, konnten die für sie wichtigen Themen im Ganztag aufgreifen und diese in ihrer alltäglichen Sprache und der gewohnten Form der Interaktionsorganisation bearbeiten (Nentwig-Gesemann 2010: 6).
Ein besonderer Fokus auf Freundschaften und soziale Beziehungen der Kinder untereinander wurde in dialoggestützten, narrativen Interviews zum Thema »Freundschaft im Ganztag« gelegt (Weltzien 2012). Dabei erzählten immer zwei, in Ausnahmefällen auch drei Kinder, die sich selbst als Freund:innen bezeichneten, von ihren gemeinsamen Erfahrungen und Erlebnissen im Ganztag.
Malbegleitende Gespräche (Bakels und Nentwig-Gesemann 2019) boten den Kindern die Möglichkeit, sich an einen ruhigen Ort zurückzuziehen und mit den Forscher:innen ins Gespräch zu kommen. Möglich war, sich sowohl in den Prozess des Malens zu vertiefen und damit in eine symbolische Sprache, in der auch implizites, präreflexives Wissen ausgedrückt werden kann, als auch intensive, dialogorientierte Gespräche mit den Forscher:innen zu führen.
Die Methode Kinder fotografieren ihren Ganztag wurde in Anlehnung an die »Autofotografie« von Deinet (2009: 78 f.) entwickelt: Je zwei Kinder erhielten eine Kamera, mit der sie abwechselnd ihre Lieblingsorte, »blöde Orte«, Rückzugsorte oder interessante Orte fotografieren sollten. Im Anschluss wurden die digitalisierten Fotos gemeinsam mit den Kindern angeschaut, um mit ihnen – fotobasiert – über ihre Erfahrungen, Aktivitäten und Sichtweisen ins Gespräch zu kommen.
Schließlich wurde den Kindern in einer separaten Forschungsstation eine Briefbox samt