Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter. Iris Nentwig-Gesemann

Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter - Iris Nentwig-Gesemann


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(zum Teil ergänzt durch einen standardisierten methodischen Zugang) typischerweise eine bestimmte Form des Ganztags in einer bestimmten Region (vgl. Tabelle 1).

      Die Forschungsarbeiten zum Thema Ganztag aus Kindersicht sind mit dem Setting der offenen (Beher et al. 2007; Deinet et al. 2018) oder gebundenen (Staudner 2018) Ganztagsschule verbunden. So begleiteten Karin Beher und Kolleg:innen (2007) die Einführung der offenen Ganztagsschule (OGS) in Nordrhein-Westfalen (NRW) unter anderem mit der Befragung von Kindern mittels standardisierter Fragebögen und verschiedener qualitativer Interviewformen zu ihren Perspektiven auf die OGS und verfolgten damit ein methodentriangulierendes Forschungsdesign.

      Ein sehr elaboriertes Erhebungsdesign verwendete die ebenfalls in NRW angesiedelte Studie »Offene Ganztagsschule – Schule als Lebensort aus Sicht der Kinder« der Forschungsgruppe um Ulrich Deinet (Deinet et al. 2018). Die Forscher:innen befragten Kinder in offenen Ganztagsschulen zu ihrem »Erleben«, der »Nutzung der Räumlichkeiten und ihrem subjektiv wahrgenommenen Grad an Partizipation bei der Gestaltung der OGS« (ebd.: 18). Dazu wurde ein Mixed-Methods-Ansatz gewählt, der die Instrumente Kinderfragebogen, Nadelmethode, subjektive Schulkarte und Landkarte, Gruppeninterviews sowie Autofotografie (ebd.: 19 f.) beinhaltete und damit den Kindern eine Vielfalt an Möglichkeiten gab, etwas über ihre Erfahrungen, Orientierungen und Einschätzungen zum Ausdruck zu bringen. Auch die methodische Herangehensweise von Stephanie Staudner (2018) erscheint interessant: Sie verglich Tagebuchprotokolle von Drittklässler:innen aus Regelklassen zu den für sie bedeutsamen Aktivitäten über einen Tag hinweg mit denen aus Halbtagsklassen in einer oberbayerischen Grundschule und führte dazu anschließend vertiefende Interviews mit den Kindern.

      In der qualitativen Studie des StEG-Konsortiums (2016) steht das Lernen an Ganztagsschulen aus Sicht der Schüler:innen im Fokus. Zur Frage, was ein »schüleraktivierendes außerunterrichtliches Angebot« ausmacht, wurden Kinder aus vier Ganztagsschulen der Primarstufe und fünf der Sekundarstufe in Interviews und Gruppendiskussionen befragt und die pädagogische Praxis teilnehmend beobachtet.

      Studien zur Qualität außerschulischer Betreuung aus Kindersicht sind auch in Österreich und Island zu finden: So interessierte sich eine Gruppe um Waltraud Gspurning (Gspurning et al. 2010) für die pädagogische Qualität der Nachmittagsbetreuung in Österreich und befragte dazu Kinder mittels Gruppendiskussionen. Kolbrún Þorbjörg Pálsdóttir (2019) ließ isländische Kinder Bilder zeichnen zum Übergang von der Schule ins »Freizeitzentrum« (vergleichbar mit dem Hort) und führte dazu Interviews.

      Sofern in diesen Studien eine Auswertungsmethode angegeben wird, handelt es sich um die qualitative Inhaltsanalyse, mittels derer Kategorien entwickelt wurden, die die Perspektiven und Vorstellungen der Kinder zu einem guten Ganztag inhaltlichthematisch bündeln. In den Forschungsberichten werden allerdings, mit Ausnahme der Dissertation von Staudner (2018), weder der systematische und regelgeleitete Entwicklungsprozess der Kategorien aus dem gesammelten empirischen Material heraus noch differenzierte Kategoriensysteme mit Ober- und Unterkategorien dargestellt; dies erschwert die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse erheblich. Waren auch quantitative Erhebungen eingeschlossen, so wurden diese Daten mittels deskriptiver Statistik ausgewertet und zu einzelnen entwickelten Kategorien in Beziehung gesetzt.

      Vergleicht man die Ergebnisse der Studien, erweisen sich einige Themen – unabhängig vom Setting (Nachmittagsbetreuung/Hort vs. Ganztagsgrundschule) und von regionalen Schwerpunkten – als besonders relevant und damit in ihrer Verallgemeinerbarkeit empirisch gut abgesichert: In der Perspektive von Kindern gehören die Themen Freundschaft, Spiel und Bewegung, Partizipation, soziales Klima bzw. Fachkräfte sowie Lernen und Hausaufgaben zu ihren fokussierten Erfahrungsbereichen im Ganztag. Darauf soll hier genauer eingegangen werden.

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       Freundschaft

      Kinder legen großen Wert auf »selbstbestimmte Aktivitäten« (Beher et al. 2007: 234) und unverplante Freizeit (Staudner 2018: 215), die sie mit ihren Freund:innen verbringen können. Auf die Frage, was sie am meisten vermissen würden, antwortet mit 88,75 Prozent die überwältigende Mehrheit der Kinder: »das Spielen mit Freunden« (Deinet et al. 2018: 23).

      Die meisten Kinder geben an, als Erstes zu Freund:innen zu gehen, wenn sie Ärger haben oder traurig sind – noch vor den Lehrer:innen, Fachkräften oder Eltern (Deinet et al. 2018: 28). Die Autor:innen leiten davon ab, dass die Freund:innen die wichtigsten Bezugspersonen der Kinder im Ganztag seien. Auch in der Studie von Pálsdóttir (2019: 106 f.) zeichneten Kinder in vielen Bildern ihre Freund:innen und machten deutlich, dass ihnen in den Einrichtungen wichtig sei, sich auf diese verlassen zu können. Die Arbeitsgruppe um Gspurning (2010) differenziert dies noch etwas aus, wenn sie konstatiert, dass besonders die gegenseitige Unterstützung und das Helfen unter Freund:innen von den Kindern geschätzt (ebd.: 125) werden, während das Ausgeschlossen-Werden eine negative Erfahrung darstellt (ebd.: 126).

       Spiel und Bewegung

      Was die favorisierten Aktivitäten der Kinder im Ganztag betrifft, sortieren die Studien die Antworten der Kinder vor allem in die beiden Kategorien »Spiel« und »Bewegung«, die zudem häufig gemeinsam genannt werden. So deklarieren Kinder sportliche Aktivitäten bzw. Bewegung sowie bestimmte Spiele als »positive Erlebnisse« (Gspurning et al. 2010: 177 f.) oder als »beliebte Komponenten« (Deinet et al. 2018: 38 f.) im Ganztag – und nennen diese ungefähr doppelt so häufig wie »Lernen« oder »Unterricht« (ebd.). Dabei weisen sie auch auf die nötigen Voraussetzungen hin: So betonen sie die Bedeutung von »ungebundene[r] Freizeit« für Aktivitäten wie Fußballspielen oder Draußenspielen (Staudner 2018: 215) und mahnen ein ausreichendes Platzangebot für das Spielen (drinnen wie draußen), für Bewegungs-, aber auch Rückzugsmöglichkeiten (Beher et al. 2007: 204) und darüber hinaus für naturnahe Erfahrungen an. So kommentiert Ahmet Derecik (2018) die Befunde aus der Studie der Gruppe um Deinet (2018) und empfiehlt die Gestaltung von »Schulfreiräumen im Schulgebäude« (Derecik 2018: 119 ff.) sowie »naturnahe Nischen als entwicklungsgerechte Bewegungs-, Spiel- und Rückzugsräume« für Kinder (ebd.: 125 ff.).

       Partizipation

      Die vorliegenden Studien arbeiten überwiegend ein Partizipationsdefizit heraus: So können Kinder im Ganztag ihrer Meinung nach bei vielen Aspekten, wie einer flexiblen Bearbeitung der Hausaufgaben (Beher et al. 2007: 221), dem Mittagessen, Ausflügen oder der Gestaltung des Schulhofes (Deinet et al. 2018: 42), nur wenig mitentscheiden und sie wünschen sich stärkere Partizipationsmöglichkeiten (ebd.). Entsprechend wird die Fremdbestimmung durch die Erwachsenen beklagt (Gspurning et al. 2010: 109; Pálsdóttir 2019: 109), weil diese oft mit negativen Erfahrungen verbunden sei. So zeigt Pálsdóttir, wie häufig Kinder auf irgendetwas warten müssen, weil die Fachkräfte dies bestimmen (ebd.: 109). Die Autorin unterstreicht zudem, wie wichtig die Partizipation von Kindern ist, um sich als Mitglied einer Einrichtung fühlen zu können und das Zugehörigkeitsgefühl und die Identifikation zu steigern (ebd.: 103).

      Für einen kindorientierten Ganztag müssen die Kinder also mit ihren Interessen ernst genommen werden und ihre Autonomie und Mitbestimmung ist sicherzustellen (Staudner 2018: 226; StEG-Konsortium 2016: 32). In diesem Zusammenhang fordert Sturzenhecker (2018), der die Ergebnisse der Studie von Deinet und Kolleg:innen (2018) in einem Gastbeitrag kommentiert, eine stärker demokratische Partizipation an Ganztagsschulen, die über ein Verständnis von Partizipation als bloßer Teilhabe hinausgeht und Kinder als gleichwertige Akteur:innen im demokratischen Diskurs der offenen Ganztagsschule anerkennt.

       Soziales Klima/Fachkräfte

      Die Kinder thematisieren auch die Fachkräfte und deren Rolle für das soziale Klima. So werden als »belastende Situationen« in der Studie von Deinet


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