Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter. Iris Nentwig-Gesemann

Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter - Iris Nentwig-Gesemann


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zur Verfügung gestellt. Die Kinder wurden gebeten, Ideen, Kritik, Wünsche oder Lob zu formulieren und diese (anonym) als »Briefe« in die Box zu werfen.

      Um auch aus der unmittelbaren Praxis im Ganztag Rückschlüsse auf die Orientierungen der Kinder ziehen zu können, wurde zusätzlich fokussiert teilnehmend beobachtet (Heinzel et al. 2010; Krüger 2006). Die dokumentarische Auswertung der Beobachtungsprotokolle von Situationen beim Mittagessen, bei den Hausaufgaben und im Freispiel ermöglichte – ergänzend zu den gesprächsorientierten Erhebungsverfahren – die Rekonstruktion von Interaktionsqualität, also der Qualität der interaktiv hervorgebrachten Beziehungen zwischen den Kindern sowie zwischen ihnen und den pädagogischen Fachkräften.

       Dokumentarische Methode

      Das in den jeweils zweitägigen Feldaufenthalten gesammelte Material wurde mit der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2014, 2017; Bohnsack, Nentwig-Gesemann und Nohl 2013) interpretiert. Kernziel der Methode ist, Implizites explizit zu machen. Dabei bilden sich habituell entfaltende Praktiken und die überwiegend impliziten Erfahrungswissensbestände der sozialen Akteur:innen den Kern der Interpretationsarbeit. Der rekonstruktive, erkenntnisgenerierende Interpretationsansatz ermöglichte, typische – also immer wiederkehrende – Dimensionen von guter Qualität im Ganztag aus dem Material herauszudestillieren. Zentral für die Kontrolle der Standortverbundenheit der Forscher:innen ist das Prinzip der fallinternen und fallübergreifenden Komparation: Dieses sichert ab, dass nicht die (z.B. theoriegeleiteten) Perspektiven der Forschenden den Analysefokus lenken, sondern empirisch generierte Vergleichsfälle, die auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin befragt werden.

      Zum einen wird das empirische Material daraufhin befragt, was auf der Ebene des immanenten Sinns, auf einer inhaltlich-thematischen Ebene, ausgedrückt wird – es wird formulierend interpretiert. Wir haben hier viel darüber erfahren, was für die Kinder überhaupt relevante Themen sind, was ihnen (un-)wichtig ist und wie sie bestimmte Dinge im Ganztag erleben und bewerten.

      Zum anderen fragt der zentrale Arbeitsschritt der reflektierenden Interpretation nach dem Dokumentsinn: Welche handlungsleitenden Orientierungen, Relevanzen, Wertorientierungen und Deutungsmuster, welches Erfahrungswissen dokumentiert sich in Inhalt und Form einer Erzählung, einer Bezugnahme aufeinander im Gespräch, eines Briefes, einer Fotografie, einer Zeichnung, einer Handlungs- oder Interaktionssituation? Auf dieser Interpretationsebene haben wir uns den grundlegenden Bedürfnissen, Orientierungen und Anliegen der Kinder zugewandt, die diese begrifflichtheoretisch so nicht selbst ausdrücken können.

      Die komparative Analyse ist ein fundamental wichtiges Arbeitsprinzip der Dokumentarischen Methode: Lassen sich typische, homologe Muster erkennen, die bei der Bearbeitung verschiedener Themen bzw. bei verschiedenen Akteur:innen immer wiederkehren, also fall- und situationsübergreifend sind? In der vorliegenden Studie führte das kontinuierliche interpretative Vergleichen von thematisch ähnlichen Sequenzen aus den unterschiedlichen Erhebungen am Ende zu einem verdichteten und empirisch gesättigten Bild dessen, was aus der Perspektive der einbezogenen Kinder wichtige Dimensionen eines guten Ganztags sind.

      4Aufgrund der Corona-Pandemie war es nicht möglich, wie geplant zwei weitere Einrichtungen in das Sample aufzunehmen. Die letzte Erhebung fand bis kurz vor den Schulschließungen im März 2020 statt. Eingeflossen sind zudem Daten aus zwei Berliner Grundschulen, die in einem Lehrforschungsprojekt zum Thema »Hortqualität aus Kindersicht« mit Studierenden der Alice Salomon Hochschule Berlin erhoben wurden (Ganztage G und H).

      5Die Grundidee des Ansatzes ist, verschiedene Methoden zur Datenerhebung einzusetzen, die sich an den Themen, Relevanzen und (non)verbalen Ausdrucksweisen der Kinder orientieren, und das gesammelte Material dann wie ein Puzzle zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen.

      6Zu Gütekriterien qualitativer Kindheitsforschung vgl. Nentwig-Gesemann 2010, 2013.

       Ergebnisse: Qualitätsbereiche und -dimensionen aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter auf ihren Ganztag

      Dem Prinzip der komparativen Analyse folgend, konnten die – mit den Interpretationsprinzipien der Dokumentarischen Methode – herausgearbeiteten Ergebnisse zu folgenden vierzehn Qualitätsdimensionen von guter Qualität im Ganztag aus der Perspektive von Kindern verdichtet und auf der Ebene von vier Qualitätsbereichen noch einmal abstrahiert werden. In der sequenziellen Anordnung der folgenden Übersicht kommt keine Hierarchisierung zum Ausdruck – die Bereiche stehen vielmehr gleichwertig nebeneinander.

      Tabelle 2: Gute Qualität im Ganztag – 14 Qualitätsdimensionen in vier Qualitätsbereichen

1. Die Gestaltung positiver pädagogischer Beziehungen (Beziehungen zwischen Kindern und Pädagog:innen)
1.1 In Lern- und Arbeitssettings von Pädagog:innen unterstützt werden, die aufmerksam und respektvoll an die Interessen und Bedarfe von Kindern anknüpfen
1.2 In Alltagssituationen mit Pädagog:innen in Beziehungen interagieren, die von Emotionalität, Vertrauen und Ebenbürtigkeit gekennzeichnet sind
1.3 Sich in ernsten Konfliktsituationen auf Pädagog:innen verlassen können, die verständnisvoll und fair intervenieren und den Kindern helfen, Strategien für ein friedliches und demokratisches Miteinander zu entwickeln
1.4 An der Gestaltung eines »schönen« Ganztags beteiligt sein, mitreden und mitbestimmen
2. Die Gestaltung einer positiven Peer-Kultur (Beziehungen unter Gleichaltrigen)
2.1 »Wild« spielen: sich gegenüber anderen behaupten, sich mit anderen messen und in der Gruppe selbst tragfähige Regeln entwickeln
2.2 Sich zurückziehen, sich unterhalten und soziale Beziehungen verhandeln
2.3
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