Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter. Iris Nentwig-Gesemann

Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter - Iris Nentwig-Gesemann


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250) sind in diesem Zusammenhang gerechte und helfende Pädagog:innen aus Kindersicht förderlich für ein positives soziales Klima. Auch bei der Gruppe um Gspurning (2010: 179) finden sich Hinweise darauf, dass »strenge« und »ungerechte« Fachkräfte von den Kindern abgelehnt werden, während »humorvolle«, spielende und helfende Erwachsene geschätzt werden. Das StEG-Konsortium (2016) hebt zudem die Bedeutung von transparenten, gemeinsam festgelegten Regeln sowie die Bedeutung der sozialen Eingebundenheit bzw. des Gemeinschaftsgefühls der Kinder hervor (ebd.: 32).

       Lernen und Hausaufgaben

      Die Hausaufgaben- bzw. Lernzeit wird von den Befragten offenbar sehr unterschiedlich wahrgenommen und eingeschätzt. So finden sich widersprüchliche Angaben, die von einer sehr positiven Einschätzung der Kinder (Staudner 2018: 214) bis hin zu einer Ablehnung der Hausaufgabenbetreuung (Deinet et al. 2017: 50) reichen. Staudner (2018) berichtet, dass die Kinder vor allem die Unterstützung der Fachkräfte positiv unterstrichen und die Lernzeit als förderlich für die Entwicklung ihrer eigenen Leistungen sahen. Auch Beher et al. (2008: 69) konstatieren, dass knapp die Hälfte der Kinder gern in die Hausaufgabenbetreuung gehe, während sich lediglich 20 Prozent explizit negativ äußerten. Dabei seien vor allem eine flexible Gestaltung und der Austausch mit anderen Kindern eine wichtige Voraussetzung für eine positive Bewertung der Lernzeiten durch die Kinder (Beher et al. 2007; Deinet et al. 2018: 49). Auch die StEG-Q-Studie (StEG 2016) arbeitet diesen Befund heraus und formuliert gleichzeitig eine Erklärung für die positive Bewertung: So wird die Hausaufgabenbetreuung dort von den Schüler:innen – in Abgrenzung zum Unterricht – positiv bewertet und dafür geschätzt, dass die Aufgaben dort flexibler und gemeinsam mit Freund:innen erledigt werden können (StEG-Konsortium 2016: 32 f.). Diese Erkenntnis steht also letztlich nicht im Kontrast zu den Daten von Beher et al. (2008: 70), Deinet et al. (2018: 50) und Gspurning et al. (2010: 179, 183), die konstatieren, dass die Kinder trotzdem lieber weniger bzw. gar keine Hausaufgaben aufhätten.

      Darüber hinaus weisen die angeführten Studien darauf hin, dass Kinder am Ganztag soziokulturelle Angebote, vielfältige AGs und Ausflüge als reichhaltige Bildungsgelegenheiten schätzen (Deinet et al. 2018: 51; Gspurning et al. 2010: 176; Staudner 2018: 216).

      Das Vorgehen und die Fragestellungen der vorliegenden Studie zu den Kinderperspektiven auf Ganztag weisen einige Parallelen zu der von Deinet et al. (2018) auf (vgl. dazu Kapitel 4). Im Unterschied dazu wird allerdings angestrebt, durch das Sampling und die typenbildende fallübergreifende Komparation Erkenntnisse zu generieren, die über verschiedene Einrichtungsarten und Regionen in Deutschland hinweg Gültigkeit beanspruchen können. Zudem wird im umfangreichen empirischen Teil des Berichts der Auswertungsprozess transparent und damit für die Leser:innen nachvollziehbar gemacht. Das Ergebnis der Rekonstruktionsarbeit ist somit ein komplexes Gefüge aus Qualitätsbereichen und -dimensionen aus Kindersicht.

      Im Fokus stehen in dieser Studie über das Thema »Ganztag aus Kindersicht« die folgenden Forschungsfragen: Welche Themen sind für die Kinder wichtig? Welche (expliziten) Einschätzungen und Bewertungen äußern sie? Darüber hinaus ist vor allem relevant, welches Erfahrungswissen und welche (impliziten) handlungsleitenden Orientierungen und Relevanzen sich in den verbalen und nonverbalen Äußerungen der Kinder dokumentieren.

       Forschungsdesign

      Kinder in pädagogischen Kontexten (und damit auch in der Qualitätsentwicklung) sowie in der Forschung als mit Rechten ausgestattete Akteur:innen und Mit-Konstrukteur:innen zu betrachten, ist grundlegend für den Kinderperspektivenansatz (Nentwig-Gesemann et al. 2021) und war auch in der hier vorgelegten Studie zu den Perspektiven von Kindern auf das Setting Ganztag forschungsleitend. Die Frage der Agency von Kindern ist dabei vor allem in Bezug auf die Forschungsmethoden und die Gestaltung der Beziehungen zwischen Forscher:innen und Kindern relevant: Den Kindern wurde durch die Vielfalt und Offenheit der Erhebungsmethoden und das konsequente Sich-Einlassen auf ihre Themen und Relevanzen ein hohes Maß an Selbstverantwortung und Beteiligung am Forschungsprozess ermöglicht. In einer relationalen Perspektive betrachten wir Agency – die Akteurschaft von Kindern – generell als »Ergebnis sozialer Beziehungen und Geflechte« (Kelle und Hungerland 2014: 229). Auch in Forschungssituationen und -beziehungen gilt es demnach immer wieder, kritisch zu reflektieren, welche Beteiligungs- und Einflussmöglichkeiten Kindern eröffnet werden, damit sie ihre Möglichkeiten, »sich zu äußern, gehört zu werden, sich zu beteiligen und Dinge, die sie betreffen, konkret mitzugestalten«, ausschöpfen und ein sicheres und selbstverständliches Vertrauen in ihre Agency entwickeln können (Nentwig-Gesemann und Großmaß 2017: 215).

      Die Studie verortet sich methodologisch-methodisch in einer spezifisch wissenssoziologisch fundierten, praxeologisch ausgerichteten Kindheitsforschung, in deren Zentrum die Dokumentarische Methode (Bohnsack 2014, 2017; Bohnsack, Nentwig-Gesemann und Nohl 2013) steht. Die Dokumentarische Kindheitsforschung (Nentwig-Gesemann et al. 2021; Wagner-Willi, Bischoff-Pabst und Nentwig-Gesemann 2019) wendet sich nicht nur dem Modus Operandi, den situativen und übersituativen Vollzugslogiken von Praxis zu, sondern auch dessen Genese: Dabei geht es um die Frage, in welchen Erfahrungsräumen Orientierungsmuster verwurzelt sind, ob und wie sie beispielsweise mit bestimmten organisationalen Besonderheiten zusammenhängen, ob sie etwas mit dem Alter und Geschlecht der Kinder zu tun haben, ob es milieu- und sozialraumspezifische Unterschiede gibt. Dabei wird auch die Mit-Wirkung von räumlichen, materialen und zeitlichen Arrangements an der Hervorbringung bzw. Genese von Praxis in den empirischen Blick genommen. Die dokumentarische Forschung unterscheidet zudem grundlegend zwischen expliziten und impliziten Wissensbeständen, also zwischen atheoretischem und praktischem Erfahrungswissen zum einen sowie Argumentationen und bewertenden Einschätzungen zum anderen. Dies ist für die Frage nach Qualität entscheidend: Relevant ist nicht nur, was Kinder auf einer expliziten Ebene als positiv oder negativ an ihrem Ganztag wahrnehmen, sondern welche positiven und negativen Erfahrungshorizonte sich in ihren Narrationen und handlungspraktischen Vollzügen dokumentieren.

       Sample

      Die Samplingstrategie4– die Zusammenstellung der Stichprobe – zielte auf das Maximieren von Unterschieden der untersuchten Einheiten im Sinne eines Theoretical Sampling (Glaser und Strauss 1967). So verteilten sich die Einrichtungen räumlich auf die fünf Bundesländer Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern, wobei in Bayern in zwei und in Berlin in drei Ganztagen Erhebungen durchgeführt wurden. Es wurden Einrichtungen aus unterschiedlich großen Orten einbezogen und auch die Einrichtungsgröße variierte stark: Der kleinste einbezogene Ganztag verfügt lediglich über 25 Plätze, während der größte 440 Plätze anbietet.

      Ausgewählt wurden zudem Einrichtungen mit unterschiedlichen pädagogischen und organisatorischen Profilen:

      imageGanztag A: Ganztagsbereich einer katholischen Europagrundschule (AWO)

      imageGanztag B: Freie Naturschule mit offenem Ganztagsangebot (freie Trägerin: Erzieherinnen-Eltern-Initiative)

      imageGanztag C: Montessori-Hort in freier Trägerschaft (Elterninitiative)

      imageGanztag D: Integrativer Hort an einer Halbtagsgrundschule (AWO)

      imageGanztag E: Waldhort in freier Trägerschaft (Erzieherinnen-Initiative)

      imageGanztag F: Quasi-gebundene Grundschule in städtischer Trägerschaft

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