Tattoos & Tequila. Vince Neil
ich war schon Mitte 40; ich glaube, es war 2005. Du meinst, Rock’n’Roll hätte nichts mit Sport zu tun? Ich erzähl dir was: Ich renne da über die Bühne, große Schritte, richtig mit Elan, und sprinte von einer Seite zur anderen, als ich plötzlich – PENG! – diesen unheimlichen Schmerz in der Wade fühle. Als erstes dachte ich, man hätte auf mich geschossen, oder ich wäre von einem Metallstück getroffen worden. Auf der Bühne wird man ja mit allem Möglichen beworfen, Flaschen, Bolzen, Geschosse aller Art, da fliegen ja nicht nur Höschen. (Das wäre doch vielleicht auch ein schöner Untertitel für das Buch: Es fliegen nicht immer nur Höschen!) Nach der Show hat der Tourmanager die ganze Bühne nach dem Ding abgesucht, das mich getroffen hatte, aber es war nichts zu finden. Aber meine Wade, verdammte Scheiße, die tat so was von weh und wurde sofort dick wie ein Ballon.
Wie sich dann aber rausstellte, hatte mich gar nichts getroffen. Ich hatte mir einen Muskelfaserriss zugezogen. Einfach so. Das hat man im Krankenhaus bei einer Magnetresonanztomographie festgestellt. Wie irgendso’n blöder Sonntagssportler, der sich beim Softballspiel mit der Firma die Achillessehne verletzt. Bloß war’s bei mir eben der Wadenmuskel. Aua. Das hat unheimlich wehgetan, und ich bekam als erstes eine fette Dosis Schmerzmittel. Zwei Tage später war ich schon wieder auf der Bühne und habe die Tour zu Ende gebracht. Ein anderes Mal hatte ich mir den Knöchel gebrochen und musste ohne Gehgips auf Tour. Da habe ich mir einen alten Turnschuh aufgeschnitten und einen Gips gebastelt. Die Show muss schließlich weitergehen, oder?
Ja ja, Opa erzählt vom Krieg. Ich weiß, ich weiß … Alte Rockstars fallen tief. Aber ich will gar nicht jammern. Schließlich sitze ich hier im VIP-Bereich meines eigenen Restaurants an einem coolen, maßgefertigten Tisch in Gitarrenform. Und nicht nur das, mir gehört die ganze Scheiße. Ich bin 48 Jahre alt, 175 Zentimeter groß, 77 Kilo schwer. Die Zeiten der Elasthan-Hosen sind vorbei. Ich habe drei Schönheits-OPs hinter mir. Aber was meinst du, wer mehr Frauen abschleppt, du oder ich? Die Zeit hinterlässt nun einmal Spuren. Ich bin keine 21 mehr. Aber ich bin wahrscheinlich besser in Form als damals. Anfang der Achtziger waren wir dünn, keine Frage, aber nicht besonders gesund. Es ist ein Wunder, dass wir überhaupt überlebt haben. Wir sind damals nicht gerade gut mit unseren Körpern umgegangen. Eine Flasche Jack Daniel’s und ein geklautes Päckchen Hotdogs – das ist nicht gerade das, was sich Experten unter einer ausgewogenen Ernährung vorstellen. (Wenn ich jetzt so darüber nachdenke – ich glaube, wir haben uns nicht mal die Mühe gemacht, die Dinger heiß zu machen.) Später, als wir zum ersten Mal etwas Geld in der Tasche hatten, gab es eine Phase, in der jeder in der Band gewissermaßen explodiert ist. Alle sahen um die Kiemen herum ziemlich grün aus. Das Problem? Wir konnten es uns plötzlich leisten, alles zu essen, zu schniefen, zu schlucken oder zu spritzen, was wir wollten. Wir haben jeder Laune nachgegeben – und das sah man uns natürlich an. Es war reines Glück, dass wir uns damals nicht umgebracht haben. Vielleicht sah es so aus, als hätten wir es genau darauf angelegt, aber zumindest von mir selbst weiß ich, dass es nie meine Absicht war, dabei draufzugehen. Ich wollte mich einfach geil fühlen, verstehst du? Ich war auf der Suche nach dem Kick, dem High, dem superintensiven Orgasmus. Jung sterben und eine schöne Leiche abgeben? Ist nicht mein Ding. Da lege ich mich lieber beim Schönheitschirurgen unters Messer.
Heute sind die Ausschweifungen von früher Geschichte. Nachdem ich jahrelang hemmungslos gesoffen habe, bin ich jetzt weitgehend trocken. Drogen nehme ich überhaupt nicht mehr. Das ist vorbei. Und mit dem Trinken habe ich vor drei Jahren aufgehört. Die Tequila-Brennerei gehört mir jetzt seit vier Jahren. Und deswegen habe ich Schluss gemacht – ich habe zu viel Tequila getrunken. Tja, und jetzt habe ich seit drei Jahren nicht mal mehr meinen eigenen Stoff probiert.
Mir fehlt es nicht, high oder betrunken zu sein. Überhaupt nicht. Ich bin jetzt viel produktiver als früher und kriege viel mehr geregelt. Morgens stehe ich um sieben auf und koche Kaffee. Wer hätte gedacht, dass ich eigentlich ein Frühaufsteher bin? Aber ich würde das mit den ganzen geschäftlichen Angelegenheiten nicht auf die Reihe kriegen, wenn ich noch immer so fertig wäre wie früher. Es kommt mir gar nicht mehr der Gedanke, mich zudröhnen zu wollen. Drogen sind einfach so … langweilig. Nüchternsein ist cool. Na gut, hin und wieder trinke ich vielleicht mal ein Glas Champagner. Aber das war’s dann auch schon. Kein Vergleich zu früher. Jetzt habe ich so viele Sachen am Laufen. Die Tattoo-Studios, Vince Neil Ink. Meine Solo-Platte. Mötley Crüe. Feelgoods. Tres Rios. Vince Neil Aviation – da starte ich gerade erst durch, aber weißt du was? Meine Flugzeuge sind total abgefahren – Flammenmotive an den Seiten, Inneneinrichtung mit Leopardenfell, eine Bar mit allen Schikanen. Wenn du mal richtig nach Rockstarmanier in die Luft gehen willst, dann musst du mit mir fliegen. Das wird super.
Wahrscheinlich achten wir inzwischen alle auf unsere Ernährung, vor allem, wenn wir das Gefühl haben, dass unsere Frauen uns beobachten. Wie viel Hühnerfleisch verträgt man wohl? Ziemlich viel, würde ich sagen. Ich will dich nicht enttäuschen, aber ich bin inzwischen dafür bekannt, zum Mittagessen einen chinesischen Hühnersalat und eine Cola Light zu bestellen. Einige von uns haben nun mal Gewichtsprobleme, wenn sie nicht auf Tour sind. Aber wenn wir unterwegs sind, auf der Bühne und so, da ist das total anders. Auf Tour renne ich 90 Minuten ununterbrochen herum, manchmal auch länger. Wenn ich zwischen den Songs kurz von der Bühne gehe, dann sehe ich aus, als hätte ich Basketball gespielt. Dann bin ich nass bis auf die Haut, total verschwitzt. Und zwar jeden Abend, fünf Tage die Woche. Für mich liegen hinter der Bühne immer ein Handtuch und ein Fön bereit, neben dem ganzen anderen Kram, den ich noch so brauche. Während eines Schlagzeug- oder Gitarrensolos trockne ich mich schnell ab und föne mir die Haare. Diesen Backstage-Bereich mit meinen ganzen Sachen nennen die anderen „Vince’s World“: mein Handtuch, mein Fön, jede Menge Mineralwasser, Halspastillen … ah, ich verrate dir mal ein Berufsgeheimnis: Lakritzbonbons sind die besten, die öffnen einem wirklich die Kehle. Normalerweise gab es auch immer ein oder zwei Groupies in Vince’s World. Aber jetzt bin ich ja zum vierten Mal verheiratet und … sagen wir mal so, diese Geschichten gehören jetzt der Vergangenheit an.
Ich habe mal gelesen, dass ein Basketballspieler während eines NBA-Spiels, das 48 Minuten dauert, um die acht Kilometer zurücklegt. Da hast du es. An fünf Abenden in der Woche leiste ich mehr als das Doppelte! Ich trete sofort gegen Kobe Bryant an! Er und ich, wir haben etwas gemeinsam: Wir haben beide vier Championship-Ringe von den Lakers. Mit unseren Initialen. Aktuell warte ich gerade auf den vierten, der ist schon bestellt. Ich liebe die Lakers – hey, ich komme aus L.A., ich bin ein großer Fan von ihnen. Immerhin bin ich in Inglewood aufgewachsen, ganz in der Nähe des Forums, wo die Showtime Lakers immer gespielt haben. Der Teambesitzer, Jerry Buss, ist ein guter Freund von mir. Als er mir den ersten Lakers-Ring geschenkt hat, sagte er, den bekäme ich, weil ich „mehr Dinger versenke als jeder andere Laker“. Das war so was von cool, weißt du? Falls du dich fragst, was mich mit jemandem wie Dr. Jerry Buss verbindet, mit einem 76-jährigen Geschäftsmogul mit einem Doktortitel in physikalischer Chemie, dann kann ich nur sagen: Wir beide lieben schöne Frauen und trinken unseren Stoff gern aus der Flasche. Viele intensive Freundschaften gründen sich auf weniger.
Im Augenblick erholt sich Dr. Buss gerade von einem Schlaganfall. Ich hoffe, es geht ihm wieder gut. Jerry und ich haben immer viel über Geschäfte gesprochen. Er hat mir gern Ratschläge gegeben (ob ich das nun wollte oder nicht!). Kein Witz. Wenn er geredet hat, habe ich zugehört – jedenfalls, bis ich irgendwann nicht mehr mitgekommen bin. Aber vieles, was er mir gesagt hat, habe ich sehr verinnerlicht. In den letzten paar Jahren, seit ich nicht mehr trinke, habe ich viele der Sachen, die er mir beigebracht hat, wirklich nutzen können. Er hat zum Beispiel immer gesagt: Beim Geschäft ist klar, dass es Probleme geben wird. Es geht um Angebot und Nachfrage, Angestellte, Lieferprobleme, alles Mögliche. Als Geschäftsmann musst du lernen, dich damit auseinanderzusetzen. Du musst dich den Problemen stellen, die Dinge in Ordnung bringen und dir überlegen, wie du dein Unternehmen verbessern kannst. Bei Mötley Crüe lief das nie so. Bei Mötley Crüe gibt es Probleme, und nichts davon wird jemals besser. Das ist total frustrierend, das muss ich mal so sagen. Ich bin im Augenblick an einem Punkt in meinem Leben angelangt, wo ich keinen Bock mehr darauf habe, mich dauernd mit diesem Generve rumzuschlagen. Ich habe immer gesagt, dass ich mit dem Singen aufhöre, wenn mir das alles keinen Spaß mehr macht. Und ich merke immer mehr: Was Mötley Crüe betrifft, macht das allmählich tatsächlich keinen Spaß mehr. Vielleicht sind wir sogar schon über diesen Punkt hinaus.
Bei