Unbestreitbare Wahrheit. Mike Tyson

Unbestreitbare Wahrheit - Mike  Tyson


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der eine Schachtel trug. Ich schnappte sie mir, und wir rannten, so schnell uns die Füße trugen. Als wir kurz vor unserem Wohnblock waren, hörten wir quietschende Reifen und ein paar Undercover-Bullen sprangen aus dem Auto und fingen an, auf uns zu schießen. Ich rannte in ein abbruchreifes Haus, in dem wir immer herumhingen, und ich wusste, ich war gerettet. Ich kannte mich in dem Gebäude genau aus und wusste, wie man hinter den Mauern verschwand, durch ein Loch schlüpfte, auf das Dach hoch kletterte und sich in den Dachsparren versteckte. Und genau das tat ich, ich ging hinauf, spähte durch das Loch und sah, wer unten alles herumlief.

      Dann sah ich, wie die Bullen in das Gebäude stürmten. Sie liefen herum, mit gezogenen Pistolen, und einer von ihnen schlüpfte durch ein Loch im Boden.

      „Verdammte Scheiße, diese beschissenen Kids verarschen mich, locken mich hier rein“, sagte er. „Ich werde den verdammten Bastarden das Licht ausblasen.“

      Ich belauschte das Gespräch dieser weißen Bullen und lachte mir ins Fäustchen. Das Gebäude war zu baufällig, als dass die Bullen es bis zum nächsten Stock geschafft hätten, da die Stufen durchbrachen. Aber es bestand die Gefahr, dass sie hoch blickten und mich zwischen den Dachsparren entdeckten und auf mich schossen. Ich erwog, auf das nächste Dach zu springen, aber das wären immerhin drei Meter gewesen.

      Also arbeitete ich mich auf das Dach vor, und mein Freund, der im selben Haus wie ich wohnte, stand auf seinem Dach. Ich robbte auf den Knien voran, wenn ich aufgestanden wäre, hätten mich die Bullen ja sehen können. Aber mein Freund beruhigte mich.

      „Mike, entspann dich. Sie sind wieder raus aus dem Gebäude, aber sie sind immer noch auf der Suche nach dir. Da unten stehen jede Menge Polizeiautos“, berichtete er mir.

      Ich stand, so mein Gefühl, eine Ewigkeit auf dem Dach und wartete.

      „Mike, sie sind weg“, verkündete mein Freund schließlich.

      Also ging ich wieder hinunter, blieb aber noch ein paar Minuten im Haus. Meine Freunde suchten den Block ab, um sicher zu sein, dass sich die Bullen nicht irgendwo versteckt hatten.

      „Mike, warte noch ein bisschen“, bat mich mein Freund. Schließlich gab er mir Entwarnung. Ich war froh, dass ich meinen Arsch gerettet hatte. Wir hatten all die teuren Uhren, Medaillons, Armbänder, Brillanten und Rubine. Wir brauchten zwei Wochen, um den ganzen Kram loszuwerden, mussten einiges unter der Hand verkaufen und einen Teil in einem anderen Stadtteil verschachern.

      Es klingt wie ein Witz, aber zum ersten Mal festgenommen wurde ich wegen einer gestohlenen Kreditkarte. Ich war damals zehn und sah eindeutig zu jung aus, um schon eine Kreditkarte zu besitzen. Also überredeten wir einen älteren Jungen, uns in ein Geschäft zu begleiten und dieses und jenes zu kaufen, auch etwas für sich selber.

      Als wir ein anderes Mal in einem Laden in der Belmont Street versuchten, die Karte einzusetzen, sahen wir aber für eine Kreditkarte einfach zu jung aus. Wir stapelten die Klamotten und Sneakers an der Kasse und reichten der Kassiererin die Kreditkarte. Sie bat uns, einen Moment zu warten, und tätigte einen Anruf. Sie schnitt dann die Karte durch, und innerhalb von Sekunden tauchten die Bullen auf und verhafteten uns.

      Sie brachten mich zur Polizeiwache in unserem Viertel. Meine Mutter hatte kein Telefon, also holten sie sie mit dem Polizeiauto ab und brachten sie dorthin. Als sie reinkam, schrie sie mich an und schlug wie wild auf mich ein. Als ich zwölf war, wurde das zur Routine. Wegen dieser Festnahmen musste ich bei Gericht erscheinen, aber ich wurde nicht verurteilt, weil ich minderjährig war.

      Ich hasste es, wenn meine Mutter auf dem Revier aufkreuzte und auf mich einschlug. Ich kauerte mich in einer Ecke zusammen und versuchte, mich zu schützen, wenn sie mich attackierte. Anschließend betrank sie sich mit ihren Freundinnen und erzählte ihnen, wie sie den Teufel aus mir herausgeprügelt habe. Das war wirklich traumatisierender Scheiß. Bis heute muss ich den Blick abwenden, wenn ich in eine Zimmerecke schaue, da ich an all die Schläge erinnert werde, die meine Mutter mir verpasst hat.

      Sie schlug mich sogar, wenn ich nichts falsch gemacht hatte. Einmal, als ich elf war, machte ich ein Würfelspiel mit einem Jungen, der etwa 18 war. Ich hatte an jenem Tag ein glückliches Händchen, und meine Freunde schlossen Wetten ab, dass meine Zahlen fallen würden. Ich fing mit 200 Dollar an, aber meine Zahl fiel sechsmal hintereinander. Ich hatte 600 Dollar von ihm gewonnen.

      „Noch eine Runde. Ich setze meine Uhr ein“, sagte er.

      Bumm, schon wieder fiel meine Zahl.

      „Spiel ist Spiel“, sagte ich. „Gib mir deine Uhr.“

      „Tatsache ist, ich gebe dir gar nichts“, sagte er und versuchte, sich das Geld zu schnappen, das ich von ihm gewonnen hatte. Ich fing an, nach ihm zu beißen, schlug ihn mit einem Stein, und wir fingen an zu ringen. Ein paar Freundinnen meiner Mutter sahen den Aufruhr und rannten zu unserer Wohnung.

      „Dein Sohn kämpft mit einem Erwachsenen“, erklärte eine von ihnen.

      Meine Mutter kam angestürmt. Alle anderen Erwachsenen ließen uns kämpfen, weil sie ihr Geld wollten. Wenn dieser Kerl nicht zahlte, würde es sonst auch niemand tun. Ich war mitten drin im Ringkampf mit diesem Kerl, als meine Mutter mich ansprang, meine Hände packte, mir eine schmierte und mich zu Boden warf.

      „Warum kämpfst du mit diesem Mann?“, brüllte sie. „Was hast du diesem Mann getan? Tut mir leid, Sir“, erklärte sie ihm.

      „Er hat versucht, sein Geld zurückzunehmen“, protestierte ich.

      Meine Mutter nahm das Geld, gab es dem Mann und schlug mir ins Gesicht.

      „Tut mir leid, Sir“, wiederholte sie.

      „Ich werde dich umbringen, du Scheißkerl“, brüllte ich, als sie mich wegzerrte.

      Allerdings verdiente ich jeden Schlag, den ich bekam. Ich wollte zu den coolen Kids gehören, den 15-Jährigen, die Schmuck, Geld und Freundinnen hatten. Zu der Zeit mochte ich die Mädchen nicht besonders, aber ich mochte schicke Klamotten und Aufmerksamkeit.

      Meine Mutter resignierte jetzt. Sie war geachtet und konnte sich gut ausdrücken, ihre anderen Kinder waren lernfähig und verträglich, und dann war da noch ich. Ich war der Einzige, der weder lesen noch schreiben konnte. Ich kapierte das Zeug einfach nicht.

      „Warum kannst du das nicht?“, fragte sie mich. „Was stimmt nicht mit dir?“

      Sie nahm an, ich sei geistig zurückgeblieben. Als Baby hatte sie mich zu all den Institutionen auf der Lee Avenue geschleppt, und ich wurde psychologischen Tests unterzogen. Als Kind hielt ich laute Selbstgespräche. Ich glaube, das war in den Siebzigern nicht normal. Nachdem ich auffällig geworden und im System drin war, musste ich auf die dem Gericht unterstellte Special Ed-Schule für Geistesgestörte. Die Special Ed war wie ein Gefängnis. Man lebte die ganze Zeit hinter verschlossenen Türen. Die ganzen asozialen Kids und die verdammten Spinner wurden dort einfach zusammengepfercht. Man sollte das tun, was einem aufgetragen wurde, aber ich ließ mir das nicht gefallen, fing mit allen Streit an und spuckte ihnen ins Gesicht. Man gab uns Jetons, mit denen wir zur Schule und wieder nach Hause fahren konnten, und ich klaute den Kids ihre Jetons und spielte damit. Ich schreckte auch nicht davor zurück, die Lehrer zu bestehlen, und am nächsten Tag kam ich mit dem neuen Outfit zur Schule, das ich mir von ihrem Geld gekauft hatte. Ich baute einfach jede Menge Scheiße.

      Man fand, ich sei hyperaktiv, also verabreichte man mir Thorazin. Ritalin wurde ausgelassen, und man griff gleich nach dem großen T, das man in den Siebzigern kleinen bösen schwarzen Scheißkerlen wie mir verabreichte. Mit Thorazin ist man auf einem Trip. Man sitzt da, starrt vor sich hin, kann sich aber nicht bewegen, kann nichts tun. Alles ist toll, man kann alles hören, ist aber irgendwie zugedröhnt, wie ein Zombie. Man bittet nicht um Essen, es wird einem zur rechten Zeit gebracht. Vielleicht wird man gefragt: „Musst du zur Toilette?“, und man antwortet: „Oh ja, dringend.“ Man weiß nicht einmal, wann man pinkeln muss.

      Als ich diesen Mist nahm, schickte man mich aus der Schule heim. Ich sollte zu Hause bleiben, mich entspannen und mir die Zeichentrickserie Rocky and His Friends anschauen. Meine Mutter fand, dass etwas nicht mit ihrem Baby stimmte, aber ich war


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