Unbestreitbare Wahrheit. Mike Tyson

Unbestreitbare Wahrheit - Mike  Tyson


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      „Gib mir meinen Vogel zurück“, protestierte ich.

      Gary holte den Vogel unter seinem Mantel hervor.

      „Willst du den Vogel? Willst du wirklich den verdammten Vogel?“, fragte er mich. Dann drehte er der Taube den Hals um und warf sie auf mich, so dass mein Gesicht und mein Hemd voller Blut waren.

      „Kämpf mit ihm“, drängte einer meiner Freunde. „Hab keine Angst, kämpf einfach mit ihm.“

      Zuvor war ich immer viel zu ängstlich gewesen, mit jemandem zu kämpfen. In meiner Gegend wohnte ein älterer Kerl, Wise, der mal in der Police Athletic League geboxt hatte. Er rauchte mit uns Gras, und wenn er high war, fing er mit Schattenboxen an. Ich beobachtete ihn, und er sagte: „Los, mach mit.“ Aber ich hatte nicht einmal den Mut, mit ihm die Boxbewegungen zu trainieren. Ich erinnerte mich jedoch an seinen Boxstil.

      Also sagte ich mir, scheiß drauf. Meine Freunde waren schockiert. Ich hatte keine Ahnung, was ich tat, schlug einfach wie wild um mich. Ein Schlag traf ihn, und er ging zu Boden. Wise tänzelte, wenn er Schattenboxen trainierte. Nachdem ich Gary k.o. geschlagen hatte, tänzelte ich ebenfalls. Es schien das Leichteste auf der Welt zu sein. Der ganze Block schaute dabei zu. Alle jubelten und klatschten. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, obwohl mein Herz wie wild raste.

      „Dieser Nigga hat eine schnelle Faust“, lachte einer der Jungs. Ich probierte den Ali-Shuffle, aber ohne Erfolg. Trotzdem war es ein gutes Gefühl, sich zu verteidigen, und ich mochte es, wie mir alle applaudierten und mich abklatschten. Hinter meiner Schüchternheit verbarg sich vermutlich schon immer ein wilder Entertainer.

      Jetzt erntete ich auf der Straße eine ganz neue Art von Respekt. Die Jungs fragten jetzt meine Mutter nicht mehr: „Kann Mike mit uns spielen?“, sondern: „Kann Mike Tyson mit uns spielen?“

      Andere Jungs schleppten ihre Kumpels an, damit sie gegen mich antraten, und schlossen Wetten auf den Ausgang ab. Ich hatte jetzt also eine weitere Einnahmequelle. Sie strömten auch aus anderen Bezirken herbei. Obwohl ich noch ein Kind war, trat ich gegen ältere Jungs an und gewann viel Geld. Selbst wenn ich verlor, sagten die Jungs, die mich geschlagen hatten: „Verdammt, bist du wirklich erst elf?“ So wurde ich allmählich in Brooklyn bekannt. Ich hatte den Ruf, dass ich gegen jeden antrat, auch gegen erwachsene Männer, einfach gegen jeden. Ich begann jetzt, Rachepläne für die Schläge zu schmieden, die ich bei den Schikanen abbekommen hatte. War ich mit ein paar Freunden unterwegs und entdeckte einen der Jungs, die mich vor Jahren verprügelt und schikaniert hatten, verfolgte ich ihn in das Geschäft, das er betrat, drängte ihn hinaus und bearbeitete ihn mit meinen Fäusten. Ich erklärte meinen Freunden nicht, weshalb, sondern sagte nur: „Ich hasse dieses Arschloch da drüben.“ Sie unterstützten mich, zerrissen seine Kleider und verprügelten ihn. Und der Kerl, der meine Brille weggeworfen hatte? Ich verprügelte ihn auf der Straße wie einen räudigen Hund, weil er mich so gedemütigt hatte. Er hatte das vielleicht schon vergessen, aber ich nicht.

      Mit meinem neu gewonnenen Selbstbewusstsein, meinem Glauben an meine Fähigkeit, mich selbst verteidigen zu können, eskalierte meine Kriminalität. Ich wurde immer verwegener und fing sogar an, meine Nachbarschaft zu bestehlen. Ich dachte, so mache man es, und kapierte nicht das Gesetz der Straße. Ich dachte, jeder sei Freiwild, da ich anscheinend ja auch für alle Freiwild zu sein schien. Ich wusste nicht, dass man mit bestimmten Leuten nicht spaßen sollte.

      Zu der Zeit lebte ich in einem Mietshaus und bestahl jeden, der hier wohnte, aber niemand wusste, dass ich der Dieb war. Einige dieser Leute waren mit meiner Mutter befreundet. Sie lösten ihren Sozialhilfescheck ein, kauften ein paar Spirituosen und besuchten meine Mom, kippten sich einen hinter die Binde und hatten Spaß miteinander. Ich zog mich derweil zurück, kletterte die Feuerleiter hoch, brach in die Wohnung einer der Frauen, die unten bei Mom waren, ein und stahl alles, was nicht niet- und nagelfest war. Als die Frau dann in ihre Wohnung zurückkehrte, entdeckte sie das Unheil und rannte schreiend zu meiner Mutter: „Lorna, stell dir vor, man hat mir alles gestohlen, sogar die Kindernahrung, einfach alles.“

      Nachdem sie gegangen war, kam meine Mutter in mein Zimmer.

      „Junge, ich weiß, du hast was damit zu tun, oder? Was hast du getan?“

      Ich erwiderte: „Mom, das war ich nicht, schau dich doch um.“ Ich hatte nämlich das gesamte Diebesgut auf dem Dach verstaut und wollte es mir später mit meinen Freunden holen.

      „Wie hätte ich das anstellen sollen? Ich war doch in meinem Zimmer und sonst nirgendwo“, erklärte ich meiner Mom.

      „Nun, wenn du’s nicht warst, dann weißt du bestimmt, wer’s war, du Dieb“, kreischte meine Mutter. „Du bist nichts als ein Dieb. Ich habe mein ganzes Leben lang nichts gestohlen. Ich weiß gar nicht, woher du das hast, du Ganove.“

      Oh Gott. Können Sie sich vorstellen, dass Ihre eigene Mutter so einen Mist verzapft und Sie für einen Dieb hält? Für meine Familie war ich ein hoffnungsloser Fall, alle dachten, ich würde als Krimineller enden. Niemand sonst in meiner Familie hatte je so etwas getan. Meine Schwester leierte mir ständig vor: „Welcher Vogel fliegt nicht? Der Gefängnisvogel.“

      Einmal begleitete ich meine Mutter zu ihrer Freundin Via. Vias Mann war einer dieser Kerle, die gern mit ihrem Geld protzten. Er ging schlafen, und ich klaute ihm die Geldbörse aus der Tasche und nahm das Geld. Als er aufwachte, verprügelte er Via brutal, weil er dachte, dass sie das Geld gestohlen hätte. Alle in der Nachbarschaft fingen an, meine Unverfrorenheit zu hassen. Und wenn sie mich nicht hassten, so waren sie neidisch auf mich, sogar die Spieler, denn ich besaß Nerven aus Stahl.

      Ich fühlte mich unglaublich. Es war mir gleichgültig, ob jemand, dem ich die Halskette entriss und den ich die Treppe hinunterwarf, sich den Kopf aufschlug, bumm, bumm, bumm. Machte es mir etwas aus? Nein, denn ich wollte diese Halskette um jeden Preis: Mitleid war für mich ein Fremdwort. Warum sollte ich auch welches haben? Mit mir hatte ja auch niemand Mitleid gehabt. Ich empfand nur dann Mitleid, wenn einer meiner Freunde bei einem Bruch erstochen oder erschossen wurde. Das machte mich traurig.

      Aber ich machte einfach weiter, dachte wohl, dass ich nicht getötet würde, dass mir das nicht passieren könnte. Ich konnte einfach nicht aufhören. Ich wusste, dass ich dabei draufgehen konnte, aber das war mir egal. Ich glaubte ohnehin nicht, dass ich jemals 16 werden würde, also was sollte das. Vor Kurzem sagte mein Bruder Rodney zu jemandem, er finde, dass ich der mutigste Kerl sei, den er kenne, aber ich fand mich gar nicht mutig. Ich hatte tapfere Freunde, die wegen ihres Schmucks, ihrer Uhren oder ihres Motorrads erschossen wurden. Sie haben ihre Beute aber nicht aufgegeben, obwohl man sie ihnen entreißen wollte. Diese Jungs genossen in der Nachbarschaft den größten Respekt. Ich weiß nicht, ob ich mutig war, aber ich erlebte auch, wie Menschen Mut bewiesen. Ich fand immer, dass ich eher verrückt als mutig war. Ich schoss auf offener Straße auf Menschen, während meine Mutter aus dem Fenster guckte, und war einfach hirnlos. Rodney hielt es für Mut, aber in Wahrheit war es mangelnde Intelligenz. Ich war ein Extremist.

      Jeder, den ich kannte, stand mit beiden Füßen im Leben. Sogar die Jungs, die Jobs hatten, verdienten sich ein Zubrot mit Gaunereien. Sie verkauften Drogen oder stahlen irgendwas. Es war wie eine Science-fiction-Welt, wo die Bullen die bösen Jungs waren und die Diebe und Ganoven die guten. Wenn man niemandem etwas zugefügt hatte, galt man als Spießer, und niemand wollte etwas mit einem zu tun haben. Gehörte man zu den Bösen, war man in Ordnung. Wenn dir jemand in die Quere kam, dann kämpften sie für dich, weil sie wussten, dass du einer von ihnen warst. Es war so geil, dass all diese heruntergekommenen, grinsenden Mistkerle meinen Namen kannten.

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      Alles eskalierte, als ich Bekanntschaft mit der Polizei machte. In Brownsville erschossen zu werden, war nichts Ungewöhnliches. Man war gerade in irgendeiner Gasse mit Glücksspielen beschäftigt, und ein paar Kerle kreuzten auf und schossen aufeinander. Man wusste nie, wann es losging. Andere wiederum fuhren auf ihren Motorrädern vorbei, und bumm, bumm schossen sie auf einen. Wir wussten im Allgemeinen, wo sich gewisse Gangs herumtrieben, und mieden deshalb bestimmte Plätze.

      Aber es ist etwas ganz anderes, wenn


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