Unbestreitbare Wahrheit. Mike Tyson

Unbestreitbare Wahrheit - Mike  Tyson


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du bei uns mitmachen?“

      „Wobei?“

      Wir gingen zur Schule, und sie ließen mich den Zaun hochklettern. Ich sollte ihnen ein paar Milchkästen aus Plastik zuwerfen. Dann gingen wir ein paar Blocks weiter, und sie zwangen mich, in ein leerstehendes Haus zu gehen.

      „Hm, ich weiß nicht“, zögerte ich. Ich war ein mickriger kleiner Kerl, und sie waren zu dritt. Nun, wir gingen hinein, und dann sagten sie: „Kleiner, geh hoch aufs Dach.“ Ich wusste nicht, ob sie vorhatten, mich zu töten. Also kletterten wir aufs Dach hoch, und ich sah eine kleine Kiste mit Tauben.

      Diese Kerle bauten einen Taubenstall. Ich wurde ihr kleiner Laufbursche. Schon bald fand ich heraus, dass die Tauben oft auf irgendwelchen anderen Dächern landeten, wenn sie sich in einem schlechten Zustand befanden. Ich musste dann gucken, auf welchem Dach sie gelandet waren, einen Weg auskundschaften, um in das Gebäude zu gelangen und die Vögel auf dem Dach aufzuscheuchen. Ich jagte den ganzen Tag den Tauben hinterher, fand das aber recht lustig. Ich war gern mit den Vögeln zusammen und kaufte ihnen sogar in einer Tierhandlung Futter. Diese Jungs waren jedenfalls taff und machten mich zu ihrem Laufburschen. Mein ganzes Leben lang war ich ein Außenseiter gewesen, aber auf dem Dach fühlte ich mich wie zu Hause.

      Am nächsten Morgen kehrte ich zu dem Haus zurück. Sie standen auf dem Dach, sahen mich kommen und warfen Ziegelsteine nach mir. „Du Dreckskerl, was tust du hier? Versuchst du, unsere verdammten Vögel zu stehlen?“, rief einer der Jungs. Und ich hatte gedacht, das sei mein neues Zuhause.

      „Nein, nein, nein“, versicherte ich ihnen. „Ich wollte nur wissen, ob ich etwas für euch besorgen oder euren Tauben hinterherjagen soll.“

      „Meinst du das wirklich ernst?“, sagte er. „Komm rauf, Kleiner.“ Und sie schickten mich Zigaretten kaufen. Sie waren eine Bande skrupelloser Dreckskerle, aber es machte mir nichts aus, ihnen zu helfen, da die Tauben mich begeisterten. Es war wirklich toll zu beobachten, wie etwa 100 Tauben ihre Kreise am Himmel zogen und dann auf einem Dach landeten.

      Tauben fliegen zu lassen, war damals in Brooklyn eine Lieblingsbeschäftigung. Jeder, vom Mafiaboss bis zu den kleinen Ghettokids, tat es. Es ist nicht zu beschreiben und geht einem einfach unter die Haut. Ich lernte, mit ihnen umzugehen, erfuhr immer mehr über sie, wurde ein echter Taubenmeister und war stolz, dass ich so gut darin war. Alle ließen ihre Tauben im selben Augenblick fliegen, und der Sinn des Spiels bestand darin, die Tauben einzufangen. Es war wie beim Pferderennen. Hat man erst mal Feuer gefangen, kommt man nicht mehr los davon. Wo auch immer ich künftig wohnte, jedes Mal baute ich mir einen Taubenstall.

      Als wir eines Tages mal wieder auf dem Dach waren und uns um die Tauben kümmerten, kam ein älterer Junge zu uns herauf. Er hieß Barkim und war der Bruder eines der Jungen. Als er feststellte, dass sein Freund nicht da war, trug er uns auf, ihm auszurichten, dass er ihn am Abend in unserem Mietsblock beim Sportcenter zu einem Jam treffen solle. Jams waren wie Teenager-Tanzpartys, aber nicht so ein Scheiß wie die Zeichentrickserie Archie mit ihren lauen Teenager-Witzen. Das Sportcenter wurde dann sogar umbenannt in The Sagittarius. Alle Spieler und Gauner würden dorthin gehen, die Jungs, die Brüche machten, die Taschendiebe und Kreditkartenbetrüger. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen.

      An jenem Abend ging also auch ich dorthin. Ich war sieben Jahre alt und hatte keine Ahnung von einer Kleiderordnung. Ich wusste nicht, dass man nach Hause gehen sollte, um zu duschen, die Kleider zu wechseln und den Club zu besuchen. So wie es alle Jungs taten, die mit Tauben zu tun hatten. Also ging ich direkt aus dem Taubenstall zum Sportplatz und trug immer noch meine schmutzige Kleidung voller Taubendreck. Ich dachte, die Jungs wären da und akzeptierten mich als einen der ihren, da ich für sie den verdammten Tauben hinterherjagte.

      Als ich hineinging, sagten sie: „Was ist denn das für ein Gestank? Schaut euch den dreckigen, stinkenden Dreckskerl an.“ Alle fingen an zu lachen und mich zu verspotten. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, es war ein traumatisches Erlebnis, da alle auf mir herumhackten. Ich weinte und lachte gleichzeitig. Da alle lachten und ich dazugehören wollte, lachte ich also über mich selbst. Ich glaube, Barkim bemerkte, wie ich gekleidet war, und bekam Mitleid mit mir. Er ging auf mich zu und sagte: „He, Kleiner, mach dich vom Acker. Wir treffen uns morgen früh um acht Uhr auf dem Dach.“

      Am nächsten Morgen war ich pünktlich dort. Barkim kletterte hoch und hielt mir einen Vortrag: „Du kannst nicht irgendwohin gehen und wie ein verdreckter Penner aussehen. Was zum Teufel soll das, Mann?“ Er redete sehr schnell, und ich versuchte, jedes Wort zu verstehen. „Junge, wir wollen damit Geld verdienen. Bist du bereit?“ Ich begleitete ihn, und wir brachen in Häuser ein. Er forderte mich auf, durch Fenster zu schlüpfen, die zu eng für ihn waren, und ich öffnete ihm dann von innen die Tür. Als wir im Haus waren, durchwühlte er die Schubladen, brach den Safe auf, räumte aus, was er finden konnte. Wir stahlen Stereoanlagen, Tonbänder, Schmuck, Waffen, Geld. Nach den Raubzügen ging er mit mir in die Stadt, in die Delancey Street, und kaufte mir etwas Hübsches zum Anziehen, Sneakers und einen Lammfellmantel. Am Abend nahm er mich mit zu einem Jam. Viele der Leute, die mich vor Kurzem noch ausgelacht hatten, waren ebenfalls anwesend. Ich trug meinen neuen Mantel und meine Hose aus Leder. Niemand erkannte mich, es war, als wäre ich ein anderer Mensch. Es war unglaublich.

      Barkim stellte mich jetzt den Leuten auf der Straße als seinen „Sohn“ vor. Er war lediglich ein paar Jahre älter als ich, aber in der Sprache der Straße wurden die anderen dadurch aufgefordert, mich mit Respekt zu behandeln. Es bedeutete: „Auf der Straße ist das mein Sohn, wir sind eine Familie, wir rauben und stehlen. Er ist mein kleiner Geldmacher, legt euch nicht mit diesem Nigga an.“ Er brachte mir das Rauben und Stehlen bei, erklärte mir, welche Personen ich dafür aussuchen sollte und welchen ich nicht trauen konnte, weil sie mir sofort wieder alles abnehmen würden. Mein Leben erinnerte mich an das von Oliver Twist, der von einem älteren Jungen namens Fagin unterwiesen wurde. Barkim kaufte mir ’ne Menge Klamotten, aber er gab mir nie viel Geld. Wenn er bei einem Raub ein paar Tausender ergatterte, gab er mir 200. Aber für einen Achtjährigen sind 200 Dollar viel Kohle.

      Mit der Rutland Road Crew erreichte meine Kriminalität eine andere Stufe. Meistens handelte es sich bei ihnen um Jungs aus der Karibik, aus Crown Heights. Barkim kannte die älteren, The Cats. Ich fing an, mit der RRC rumzuhängen, ihrer Nachwuchsabteilung, und machte bei ihren kleinen Raubzügen mit. Wir gingen gewöhnlich zuerst zur Schule, frühstückten, nahmen dann den Bus oder Zug und waren während der Unterrichtsstunden mit unseren Raubzügen beschäftigt. So wurde ich also einer von ihnen. Wir waren alle gleich, solange wir die Einnahmen unserer Beutezüge teilten.

      Wer dies liest, wird mich als erwachsenen Menschen dafür verurteilen und mich als kriminell bezeichnen, aber all dies spielte sich vor mehr als 35 Jahren ab. Ich war ein kleiner Junge und wollte geliebt und akzeptiert werden, und das wurde ich auf der Straße. Dies war meine einzige Erziehung, und diese Jungs waren meine Lehrer. Die älteren Gangster sagten mir zwar, „du solltest das nicht tun, du solltest lieber zur Schule gehen“, aber wir wollten nicht auf sie hören, auch wenn sie auf der Straße das Sagen hatten. Sie sagten uns, wir sollten in der Schule bleiben, wenn sie irgendwo einbrachen. Aber alle Jungs respektierten mich jetzt, da ich ein kleiner Geldmacher war. Einigen meiner Freunde, die ein bisschen Geld brauchten, griff ich unter die Arme. Ich besorgte uns allen Alkohol und etwas zu essen und fing an, Tauben zu kaufen. Wenn man gute Vögel hatte, wurde man respektiert. Es lief immer gleich ab: schnell auf Raubzug gehen und dann Klamotten kaufen. Ich merkte, wie ich jetzt von allen behandelt wurde, und ich war mit meinem Lammfellmantel und meinen Pumas gut angezogen. Ich besaß einen geilen Skianzug mit einer gelben Schneebrille, hatte aber noch nie in meinem Leben auf einer Skipiste gestanden. Ich konnte den Markennamen Adidas nicht einmal buchstabieren, aber ich wusste, welches Gefühl er mir verlieh.

      Einer der Rutland-Jungs brachte mir bei, wie man Schlösser knackte. Hat man einen Schlüssel, der in die Öffnung passt, dreht man ihn hin und her, sodass er den Zylinder runterdrückt und die Tür geöffnet werden kann. Ich war wie im Rausch. O Mann, wenn wir die Türen aufgebrochen hatten, stießen wir auf Silber, Schmuck, Gewehre und Geldbündel. Wir weinten und lachten vor Glück, konnten aber nicht alles mitschleppen. Man kann ja mit all dem Kram nicht einfach durch die Straßen laufen. Also stopften wir es in unsere Schultaschen.

      Eines


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