Unbestreitbare Wahrheit. Mike Tyson

Unbestreitbare Wahrheit - Mike  Tyson


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und üppige Rosenbüsche. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie ein solches Haus gesehen.

      Wir nahmen Platz, und Cus meinte, er könne kaum glauben, dass ich erst 13 sei. Und dann malte er mir meine Zukunft aus. Er hatte mich ja kaum sechs Minuten kämpfen sehen, aber alles klang ganz überzeugend aus seinem Mund.

      „Du hast eine blendende Figur abgegeben“, sagte er. „Du bist ein großer Boxer.“ Und er überschüttete mich mit Komplimenten. „Wenn du auf mich hörst, kann ich aus dir den jüngsten Schwergewichts-Boxer aller Zeiten machen.“

      Fuck, wie konnte er einen solchen Scheiß verzapfen? Ich hielt ihn für einen Perversen. In der Welt, aus der ich kam, geben die Leute solchen Bullshit von sich, wenn sie dir einen blasen wollen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Noch nie zuvor hatte jemand etwas Nettes über mich gesagt. Ich wollte gern bei dem alten Knaben bleiben, denn er vermittelte mir ein gutes Gefühl. Später erkannte ich, dass das Cus’ Masche war. Man redet einem schwachen Mann ein, stark zu sein, und dieser wird süchtig danach.

      Auf der Rückfahrt nach Tyron konnte ich mich kaum beruhigen. Ich saß da mit einem Rosenstrauß von Cus auf dem Schoß. Ich hatte noch nie echte Rosen gesehen, immer nur im Fernsehen, aber ich wollte unbedingt welche haben, weil sie so exquisit aussahen. Ich hatte ihn gefragt, ob ich welche mitnehmen dürfe, weil ich etwas Schönes mit zurücknehmen wollte. Die Rosen dufteten wunderbar und Cus’ Worte klangen mir noch in den Ohren. Es kam mir vor, als ob sich die ganze Welt plötzlich verändert hätte, und in diesem Moment wusste ich, dass aus mir noch was werden würde.

      „Ich glaub, er mag dich“, sagte Bobby. „Wenn du kein Scheißkerl und kein Arschloch bist, wird es gutgehen.“ Bobby freute sich offensichtlich für mich.

      Ich kehrte in mein Cottage zurück und stellte die Rosen in eine Vase. Cus hatte mir eine riesige Box-Enzyklopädie mitgegeben, die ich mir anschauen sollte, und ich konnte die ganze Nacht kein Auge zutun, denn ich las das Buch in einem Zug durch. Ich erfuhr von Benny Leonard, Harry Greb und Jack Johnson. Das hat mich echt aufgeputscht. Ich wollte sein wie sie, sie schienen sich an keine Regeln zu halten. Sie arbeiteten hart, aber dann gab es auch Phasen, in denen sie es sich gutgehen ließen, und sie wurden wie Götter verehrt.

      Ich fing an, jedes Wochenende zum Training zu Cus zu gehen. Erst trainierte ich mit Teddy in der Sporthalle, und dann ging ich zu Cus. Er lebte mit Camille Ewald, einer reizenden Ukrainerin, zusammen. In ihrem Haus wohnten auch noch andere Boxer. Als ich das erste Mal dorthin ging, klaute ich Geld aus Teddys Geldbörse. Solche Gewohnheiten gibt man nicht einfach auf, nur, weil sich etwas Gutes auftut. Ich brauchte schließlich Geld für Gras. Ich hörte, wie Teddy zu Cus sagte: „Er muss es gewesen sein.“

      „Nein, er war es nicht“, widersprach Cus.

      Der Boxsport törnte mich an, und nachdem ich bei Cus den ersten Kampf von Leonard gegen Durán im Fernsehen verfolgt hatte, war ich mir sicher, dass ich Boxer werden wollte. Wow, dieser Kampf war unglaublich aufregend, ich war ganz geschafft. Beide waren sehr elegant, aber auch gefährlich wie Raubtiere, und ihre Schläge erfolgten blitzschnell. Ihr Kampf wirkte fast so, als folgte er einer Choreografie. Ich war fasziniert.

      Als ich Cus das erste Mal in seinem Haus besuchte, ließ er nicht zu, dass ich boxte. Nach meinem Training mit Teddy setzte sich Cus mit mir zusammen, und wir unterhielten uns. Er redete mit mir über meine Gefühle und Empfindungen und über die Boxpsychologie. Er wollte mein Innerstes erforschen. Wir sprachen viel über die spirituellen Gesichtspunkte des Sports. „Wenn du nicht den geistigen Krieger in dir spürst, wirst du nie ein Kämpfer werden. Mir ist egal, wie groß oder stark du bist“, erklärte er mir. Wir unterhielten uns über ziemlich abstrakte Vorstellungen, doch er drang zu mir durch. Cus sprach meine Sprache. Er war ein Straßenkind wie ich und auch in einem asozialen Milieu aufgewachsen.

      Als Erstes sprach Cus mit mir über Angst, und wie man diese überwindet.

      „Die Angst ist das größte Lernhindernis, ist aber auch dein bester Freund. Die Angst ist wie Feuer. Wenn du lernst, sie unter Kontrolle zu halten, lässt du sie für dich arbeiten. Wenn du nicht lernst, sie zu kontrollieren, wird sie dich und alles um dich herum zerstören. Du kannst auf einem Hügel einen Schneeball in die Hand nehmen und werfen oder sonst was damit machen, bevor er den Hügel hinunterrollt. Wenn er erst am Rollen ist und immer größer wird, wird er dich zu Tode quetschen. Genauso verhält es sich mit der Angst. Man darf nie zulassen, dass die Angst immer größer wird, man muss sie immer unter Kontrolle haben. Wenn es dir nicht gelingt, wirst du nicht in der Lage sein, dein Ziel zu erreichen oder dein Leben zu retten.“

      „Stell dir ein Reh vor, das ein offenes Feld überquert. Als es sich dem Wald nähert, wittert es plötzlich Gefahr, vielleicht befindet sich ein Puma in der Nähe. Wenn das der Fall ist, tritt die natürliche Überlebensstrategie in Aktion, was bedeutet, dass Adrenalin ins Blut ausgeschüttet wird, sodass das Herz schneller schlägt. Dies hat zur Folge, dass der Körper zu außerordentlichen Leistungen an Beweglichkeit und Stärke fähig ist. Normalerweise kann ein Reh vier Meter weit springen, aber durch das Adrenalin schafft es das Drei- oder Vierfache, um der drohenden Gefahr zu entrinnen. Beim Menschen verhält es sich nicht anders. Wenn er Gefahr wittert oder Angst hat, beschleunigt das Adrenalin den Herzschlag und treibt den Menschen zu Höchstleistungen.“

      „Mike, glaubst du, du kennst den Unterschied zwischen einem Helden und einem Feigling? Nun, bezüglich ihrer Empfindungen besteht kein Unterschied, sondern in dem, was sie tun. Der Held und der Feigling empfinden genau das Gleiche, aber du musst die Disziplin besitzen, das zu tun, was ein Held tut, und darfst nicht wie ein Feigling handeln.“

      „Mike, dein Verstand ist nicht dein Freund, ich hoffe, du weißt das. Du musst trotzdem mit dem Kopf kämpfen, ihn kontrollieren, richtig einsetzen. Du musst auch deine Emotionen unter Kontrolle halten. Erschöpfung im Ring ist zu 90 Prozent psychologisch bedingt. Sie dient einem Mann, der aufgeben will, als Entschuldigung. Die Nacht vor einem Kampf tust du kein Auge zu. Denk dir nichts dabei, deinem Gegner geht es genauso. Du trittst zum Wiegen an, und er sieht viel größer aus als du, wirkt eiskalt, wird aber innerlich von Angst verzehrt. Deine Fantasie spricht ihm Fähigkeiten zu, die er gar nicht hat. Denk daran: Bewegung löst Spannung. Wenn dann der Gong ertönt und du deinem Gegner entgegentrittst, wirkt dieser plötzlich wie jeder andere auch, denn deine Fantasie ist ausgeschaltet. Der Kampf als solcher ist die einzige Wirklichkeit, die zählt. Du musst lernen, deinen Willen durchzusetzen und das alles unter Kontrolle zu haben.“

      Ich konnte Cus stundenlang zuhören. Er erklärte mir, wie wichtig es sei, intuitiv und sachlich zu handeln, auf eine entspannte Art, und nicht zuzulassen, dass die Emotionen die Oberhand über die Intuition gewannen. Er berichtete mir, er habe einmal mit dem großen Schriftsteller Norman Mailer darüber gesprochen.

      „Cus, ohne es zu wissen, praktizierst du Zen“, hatte dieser Cus erklärt und ihm ein Buch mit dem Titel Zen und die Kunst des Bogenschießens gegeben. Cus las mir häufig aus dem Buch vor. Er erzählte mir, dass er bei seinem ersten Kampf tatsächlich höchsten emotionalen Abstand erlebt habe. Er trainierte in einer Turnhalle in der Stadt, weil er Profiboxer werden wollte. Er hatte bereits ein oder zwei Wochen mit dem Sandsack trainiert, als der Manager ihn fragte, ob er einen Boxpartner haben wolle. Er trat in den Ring, und sein Herz schlug wie wild. Sein Gegner griff ihn sofort an, und er wurde mit Schlägen traktiert. Seine Nase schwoll an, sein Auge zu, und er blutete. Sein Gegner fragte ihn, ob er eine zweite Runde machen wolle, und Cus meinte, er werde es versuchen. Er trat in den Ring, und plötzlich war sein Geist von seinem Körper losgelöst. Er beobachtete alles aus der Distanz. Die Schläge, die ihn trafen, fühlten sich an, als kämen sie von weither. Er war sich wohl ihrer bewusst, aber sie schmerzten ihn kaum.

      Cus erklärte mir, dass man, um ein großer Boxer zu sein, aus sich selbst heraustreten müsse. Er ließ mich Platz nehmen und sagte: „Transzendiere. Fokussiere. Entspann dich, bis du siehst, wie du dich selbst beobachtest. Sag mir, wenn du so weit bist.“ Das war sehr wichtig für mich. Im Allgemeinen neige ich dazu, zu emotional zu reagieren. Später erkannte ich, dass ich im Ring nur wild um mich schlagen würde, wenn ich mich dort nicht von meinen Gefühlen lösen könnte. Nachher würde ich einem Gegner noch einen harten Faustschlag verpassen, es dann aber mit der Angst zu tun bekommen, wenn er nicht zu Boden


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