Unbestreitbare Wahrheit. Mike Tyson

Unbestreitbare Wahrheit - Mike  Tyson


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in meinem Zimmer, die ganze Nacht hindurch. Das war mein Wochenendvergnügen. Ich drehte die Lautstärke auf, sodass man es im ganzen Haus hörte. Cus kam dann hoch in mein Zimmer und fragte: „Was zum Teufel tust du da?“

      „Ich sehe mir Filme an“, erwiderte ich.

      „He, du musst jetzt schlafen gehen. Alle wollen jetzt hier schlafen“, sagte er. Dann ging er wieder die Treppe hinunter, und ich hörte ihn murmeln: „Noch nie habe ich so ein Kind erlebt. Schaut sich die ganze Nacht Filme an und weckt damit das ganze verdammte Haus auf.“

      Manchmal sahen wir uns die Filme gemeinsam an, und Cus gab mir Tipps, wie ich Dempsey, Jeffries und Louis schlagen könnte.

      Ich war so aufs Boxen fixiert, dass ich manchmal sogar mit meinen Boxhandschuhen ins Bett ging. Ich war ein Tier und träumte, dass Mike Tyson ein großer Boxer wäre. Für dieses Ziel opferte ich alles. Keine Frauen, kein Essen. Ich hatte eine Essstörung, bekam regelrechte Fressattacken. Und zudem befand ich mich in der Pubertät. Ich bekam Akne, meine Hormone spielten verrückt, ich wollte ständig Eis essen, aber ich durfte mein Ziel, Weltmeister zu werden, nicht aus den Augen verlieren. Ich redete mit Cus über Mädchen, und er tat das Thema ab, erklärte mir, dass ich alle Frauen der Welt haben würde.

      Einmal war ich etwas trübsinnig.

      „Cus, werde ich denn nie Spaß mit einem Mädchen haben?“

      Cus schickte jemanden los, um etwas zu besorgen. Er kam mit einem dieser Miniatur-Baseballschläger zurück und zeigte ihn mir. „Es werden dich so viele Mädchen umschwärmen, dass du das hier brauchst, um sie abzuwehren.“

      Also konzentrierte ich mich auf mein Training und holte mir ab und zu einen runter. Ich stellte mir vor, wenn ich Weltmeister wäre, hätte ich jede Menge Geld und könnte mir so viele Tussis besorgen, wie ich Lust hatte.

      Cus hatte einige ungewöhnliche und unorthodoxe Techniken auf Lager. Einige machten sich über seinen Stil lustig, aber nur deshalb, weil sie ihn nicht wirklich begriffen. Sie bezeichneten ihn als Guckguck-Stil. Er war stark auf die Abwehr ausgerichtet. Man hielt beide Fäuste vors Gesicht, immer bereit, zurückzuschlagen. Hände und Ellbogen bewegten sich im selben Rhythmus. Und wenn der Gegner zum Angriff überging, blockte man mit den Fäusten den Schlag ab und konterte mit einem Gegenschlag.

      Cus’ Angriff begann mit einer guten Abwehr. Er fand, es sei für seine Boxer von größter Bedeutung, keinen Schlag abzubekommen. Um zu lernen, wie man Fausthieben auswich, verwendete er einen Slipbag, einen Segeltuchsack, der mit Sand gefüllt war und um den ein Seil gewunden war. Man musste ihm ausweichen und vermeiden, dass er einen am Kopf traf. Ich wurde richtig gut darin.

      Dann verwendete er etwas, das „The Willie“ genannt wurde, nach dem Boxer Willie Pastrano. Es war eine Segeltuchmatratze in einem Rahmen, auf die ein Oberkörper skizziert war. Der Körper war in verschiedene Zonen aufgeteilt, und jede Zone war mit einer Zahl gekennzeichnet. Die ungeraden Zahlen galten für Schläge mit der linken Hand und die geraden Zahlen für Schläge mit der rechten. Dann spielte Cus eine Kassette ab, auf der er verschiedene Zahlensequenzen aufgenommen hatte. Also hörte man „fünf, vier“ und versetzte dem Körper sofort einen linken Haken und einen rechten Uppercut gegen das Kinn. Die Idee, die dahinterstand, war: Je häufiger man diese Aktionen als Reaktion auf die Zahlen wiederholte, desto instinktiver und roboterhafter würde man sie ausführen und müsste nicht mehr darüber nachdenken. Nach einer Weile würde man die Schläge mit geschlossenen Augen verteilen.

      Cus war der Meinung, dass die Boxer deshalb von der Rechten getroffen wurden, weil sie unbeweglich waren und ihre Fäuste zu tief hielten. Also lehrte er mich, eine U-förmige Bewegung einzubauen und die Arme nicht nur auf und ab zu bewegen. Er hielt mich ständig in Bewegung, seitwärts, vorwärts, seitwärts, vorwärts. Cus meinte, man erziele mit den Schlägen die höchste Wirkung, wenn man einen Doppelschlag setzen könne. Je mehr man dies verinnerlichte, desto höher die Chance, dass dies in einem K.o. enden würde.

      Auch wenn Cus die Abwehr sehr wichtig fand, wusste er genau, dass defensive Boxer langweilig sein können.

      „Boxen ist Unterhaltung. Wenn ein Boxer erfolgreich sein will, darf er nicht nur gewinnen, sondern muss den Sieg auf unterhaltsame Weise erringen. Er muss Schläge mit bösen Absichten verteilen“, pflegte Cus immer zu sagen. Er sah mich als aggressiven Counter-Puncher, der seine Gegner zwang, zuzuschlagen oder zu laufen. Cus versuchte immer, den Kontrahenten im Ring zu manipulieren. Wenn man ständig ihren Schlägen auswich, wurden sie frustriert und verloren ihr Selbstvertrauen. Und dann waren sie fällig. Weich dem Schlag aus und kontere. Beweg dich und schlag gleichzeitig zu. Erzwinge den Ausgang. Er vertrat die Meinung, kurz angesetzte Schläge könnten wirkungsvoller sein als lange.

      Cus heuerte die besten Sparringspartner für mich an. Mein Lieblingspartner war Marvin Stinson, ein ehemaliger Olympiasieger. Er war Holmes’ bester Sparringspartner gewesen, und Cus brachte ihn dann mit mir zusammen. Er war ein fantastischer Mentor für mich, instruierte mich über das Geheimnis der Bewegung und das Verteilen von Schlägen.

      Als wir mit unserem ersten Training fertig waren, nahm er mich zur Seite und gab mir seine Laufhandschuhe, da es morgens, wenn ich joggte, immer so kalt war. Er hatte bemerkt, dass ich keine besaß.

      Meine Sparring-Sessions waren der totale Krieg. Bevor wir gegeneinander antraten, nahm Cus mich zur Seite: „Hör zu, du nimmst das nicht auf die leichte Schulter, du gehst da raus und gibst dein Bestes“, sagte er. „Du machst alles so, wie du es gelernt hast, und das in voller Geschwindigkeit. Ich will, dass du dem Kerl alle Rippen brichst.“

      Die Rippen brechen? Beim Sparring? Er wollte, dass ich auf die Kerle, gegen die ich antreten würde, vorbereitet war und wollte sicherlich, dass ich ihnen bei einem echten Kampf die Rippen brach. Wenn Cus einen guten Sparringspartner für mich fand, behandelte er ihn besonders zuvorkommend, da er wusste, dass die Arbeit mit ihnen mir guttun würde. Er bezahlte die Sparringspartner immer sehr großzügig.

      Aber das war keine Garantie, dass sie bleiben würden. Häufig kam ein Sparringspartner in Cus’ Haus, mit der Absicht, drei Wochen zu bleiben. Aber dann konnte es passieren, dass wir nach der ersten Trainingseinheit nach Hause gingen und sie sich aus dem Staub gemacht hatten. Manche verdufteten so schnell, weil ich die Scheiße aus ihnen rausgeprügelt hatte, dass sie sich nicht mal die Mühe machten, ihr Gepäck mitzunehmen. Wenn dies geschah, gingen Tom und ich schnurstracks in ihr Zimmer und durchwühlten ihre Kleider, Schuhe und ihren Schmuck. Wenn wir Glück hatten, fanden wir Gras oder zumindest Schuhe, die uns passten.

      Manchmal schleppte Cus etablierte Boxer an, die mit mir trainieren sollten. Ich war 16, als er Frank Bruno nach Catskill brachte. Bruno war damals 22. Wir trainierten zwei Runden.

      Bevor ich mit einem etablierten Boxer trainierte, nahm Cus diesen zur Seite.

      „Hör zu, er ist noch ein Junge, aber mach es ihm nicht zu leicht. Gib dein Bestes“, sagte er ihm.

      „Okay, Cus“, erwiderte dieser. „Ich arbeite mit dem Jungen.“

      „He, hör mir gut zu. Arbeite nicht mit ihm, sondern gib dein Bestes.“

      Wir kämpften, um Menschen zu verletzen, nicht nur, um zu gewinnen. Wir unterhielten uns stundenlang über das Verletzen von Menschen. Das bläute Cus mir ein. „Mike, der Champ wird von dir hören“, sagte Cus zu mir. „Er wird dich beobachten.“ Aber auch die anderen hörten von uns, die Trainer, die Manager, die Promoter und der gesamte Boxbetrieb. Cus war wieder an Bord.

      Ich sah mir nicht nur die alten Filme an, sondern verschlang auch alles, was ich über diese großen Boxer in die Finger bekam. Kurz nachdem ich bei Cus eingezogen war, las ich in besagter Box-Enzyklopädie, die er mir gegeben hatte, und fing an zu lachen, als ich las, dass ein Champ seinen Titel nur ein Jahr lang behalten hatte. Cus blickte mich mit seinen alten durchdringenden Augen an und sagte: „Den Meistertitel ein Jahr zu halten, ist mehr wert, als ein Leben lang unbedeutend zu sein.“

      Als ich anfing, das Leben der großen alten Boxer zu studieren, erkannte ich viel Ähnlichkeit zu dem, was Cus predigte. Sie waren alle üble Drecksäcke. Dempsey, Mickey, Walker, sogar Joe Louis waren miese Kerle, auch wenn der taffe Louis ein introvertierter


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