Unbestreitbare Wahrheit. Mike Tyson
Camille war immer darauf bedacht, dass die Jungs im Haus ihre Aufgaben erfüllten. Ich hasste Hausarbeit und war ganz auf mein Boxtraining konzentriert. Eines Tages sagte Cus zu mir: „Du weißt, Camille will unbedingt, dass du bei der Hausarbeit hilfst. Wenn du sie machen würdest, müsste ich mir weniger Gedanken machen. Es könnte mir egal sein, aber das trägt auch dazu bei, dich zu einem besseren Boxer zu machen.“
„Wie soll ich ein besserer Boxer werden, wenn ich den Müll raustragen muss?“, spottete ich.
„Etwas zu tun, was man hasst, ist eine gute Vorbereitung für jemanden, der nach Größe strebt.“
Danach musste Camille mich nie wieder an meine Pflichten im Haushalt erinnern.
Eines Tages rief mich Cus in das Zimmer, in dem er sich gerade aufhielt.
„Hast du Angst vor Weißen?“, fragte er unvermittelt. „Gehörst zu der Sorte? Hast du Angst vor Schnauzern und Bärten? Ich kannte schwarze Boxer, die Angst davor hatten, weiße Kontrahenten zu schlagen. Du gehörst besser nicht dazu.“
Es war seltsam. Cus sagte mir freiweg, ich solle mich nicht einschüchtern lassen, aber die Art, wie er mir das vermittelte, schüchterte mich ein.
Cus war immer tiefernst und lächelte nie. Aber er behandelte mich nicht wie einen Teenager, sondern vermittelte mir immer das Gefühl, dass wir eine Aufgabe zu erfüllen hatten. Er setzte mir ein Ziel. Ich trainierte Tag für Tag und dachte über diese verdammte Aufgabe nach. Noch nie zuvor hatte ich in meinem Leben so empfunden. Eine Ausnahme bildeten lediglich meine Überlegungen zum Stehlen.
Manchmal geschahen auch Dinge, die unser Ziel greifbar erscheinen ließen. Einmal kam Wilfredo Benitez, um in Catskill zu trainieren. Ich war einfach überwältigt, denn ich war ein Fan von ihm. Ich hatte einen Kampf von ihm im Fernsehen gesehen; es lohnte sich, ihn anzuschauen. Er wirkte wie radargesteuert, verteilte seine Schläge mit geschlossenen Augen. Ein wahrer Meister! Und er hatte seinen Weltmeisterschaftsgürtel dabei. Tom Patti, einer von Cus’ anderen Boxern, war auch da. Benitez zog eine kleine Schachtel heraus, in der der Gürtel aufbewahrt wurde, und ich durfte ihn berühren. Ich hatte das Gefühl, den Heiligen Gral zu sehen.
„Mann o Mann, Tommy, schau dir das an, es ist der Mann mit dem Gürtel“, sagte ich. „Ich muss auch einen haben und werde hart dafür trainieren. Wenn ich ihn gewinne, werde ich den Gürtel nie wieder abnehmen.“
Ich war sehr gern mit Benitez zusammen. Er inspirierte mich und weckte in mir den Wunsch, noch engagierter und hingebungsvoller zu werden.
Dank Cus kam ich auch mit Ali ins Gespräch. Im Oktober 1980 fuhren wir alle nach Albany, um eine Übertragung von Ali, die nur auf einem Privatkanal lief, anzuschauen. Er versuchte, seinen Titel von Larry Holmes zurückzugewinnen. Ali wurde von ihm aufs Übelste vermöbelt. Cus war fuchsteufelswild, noch nie hatte ich ihn so wütend erlebt. Nach dem Kampf verzog er keine Miene, da er Interviews geben und Hände schütteln musste. Aber als wir im Auto saßen, konnte man seine negative Energie geradezu fühlen. Auf der 45 Minuten langen Heimfahrt wechselten wir kein Wort.
Am nächsten Morgen war Alis Berater Gene Kilroy am Telefon und verband Ali mit Cus.
„Wie hast du dich von diesem Penner besiegen lassen? Er ist ein Penner, Muhammad, wirklich. Warum hast du dich von diesem Dreckskerl so vermöbeln lassen?“
Ich lauschte Cus’ Gespräch, und jedes Mal, wenn er „Penner“ sagte, ging es mir durch Mark und Bein. Ich fing an zu weinen. Das war ein schlimmer Tag in meinem Leben.
Dann machte Cus ein mentales Experiment mit mir.
Ich hörte, wie er sagte: „Hier wohnt ein schwarzer Junge, und er wird Schwergewichtsweltmeister. Er heißt Mike Tyson. Bitte, Muhammad, rede mit ihm. Sag ihm, er soll auf mich hören.“
Cus reichte mir den Hörer.
„Tut mir leid, was mit Ihnen passiert ist“, sagte ich. Ich war ein kleines Arschloch.
„Ich war krank“, erklärte Ali mir. „Ich nahm Medikamente, die mich schwächten, und deshalb konnte Holmes mich schlagen. Ich erhole mich aber und trete erneut gegen ihn an, und dann besiege ich ihn.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Champ“, sagte ich. „Wenn ich groß bin, schlage ich ihn für Sie.“
Viele Leute meinen, Ali sei mein Lieblingsboxer gewesen. Aber in Wahrheit war es Roberto Durán. Ali bewunderte ich, weil er gut aussah und redegewandt war. Und ich war klein und hässlich und hatte eine Sprachstörung. Als ich Durán boxen sah, war er noch ein Straßenjunge. Seinen Gegnern gab er zu verstehen: „Du Dreckskerl, blas mir einen. Nächstes Mal landest du in der verdammten Leichenhalle.“ Nachdem er Leonard in ihrem ersten Kampf geschlagen hatte, begab er sich zu Benitez’ Platz und sagte: „Fuck. Du hast weder den Mumm noch die Eier, mich zu besiegen.“
„Mann, dieser Kerl ist wie ich“, dachte ich. Genau das wollte ich tun. Er schämt sich nicht, dass er so ist, wie er ist. Mit ihm war ich auf einer Wellenlänge. Als meine Karriere in Schwung kam und man anfing, über mich zu reden, wurde ich voller Bewunderung als Wilder gelobt. Ich wusste, wenn man als Tier bezeichnet wurde, war dies das höchste Lob, das man einheimsen konnte.
Als ich wieder in der Stadt war, ging ich in Victor’s Café, weil ich gehört hatte, dort würden Aufnahmen von Durán hängen. Ich setzte mich an einen Einzeltisch, betrachtete Duráns Fotos an der Wand und malte mir meinen Traum aus.
Ich war traurig, als Durán bei dem No-Más-Kampf gegen Leonard aufgab. Cus und ich schauten uns den Fight in Albany an, und ich war so außer mir, dass ich zu heulen anfing. Aber Cus hatte es gewusst.
„Er wird es kein zweites Mal schaffen“, hatte er vorausgesagt.
Als ich in Cus’ Haus zog, war ich bereits fester Bestandteil seiner Pläne. Jeden Tag hatte ich ein hartes Training vor mir. Ich besaß nie das Privileg, Boxen als Sport oder als Freizeitvergnügen zu genießen. Cus war ziemlich extrem, aber ich war es ja auch. Ich wollte damals unbedingt Achilles sein. Ich war der Typ, über den man spottete: „Gib ja dem Nigga kein Seil, sonst will er gleich Cowboy spielen.“ Ich war einer, der keine Hoffnung hatte. Aber wenn man mir auch nur einen Schimmer Hoffnung in Aussicht stellte, dann Gnade dir Gott, denn ich hebe ab.
Gewöhnlich musste Cus die Boxer morgens wecken. Doch zu der Zeit kam ich schon vom Joggen zurück. Cus wollte den Tisch fürs Frühstück decken, aber ich hatte es bereits erledigt. Er wurde wütend. „Wer hat meinen Tisch gedeckt?“, bellte er. Er war bestürzt, dass ich schneller gewesen war als er. Dann machte mir Cus das Frühstück. Er warf eine ganze Packung Speck, ungefähr 20 Scheiben, in die Bratpfanne und briet die Spiegeleier in diesem Fett. Ich trank keinen Kaffee, aber Tee. Jeden Morgen vollzog er dieses Ritual, auch wenn er wütend auf mich war.
Wir beide erkannten, dass wir den Wettlauf mit der Zeit aufgenommen hatten. Cus war in den Siebzigern und kein junger Spund mehr, also bemühte er sich, all sein Wissen in mich hineinzustopfen. Saug den ganzen Scheiß in dich auf. Wenn du es in dich einsaugst, verinnerlichst du es, sofern du kein völliger Idiot bist. Ich wurde immer erfahrener im Boxsport, aber meine Reife, mein Gehirn hielten nicht Schritt mit meinen boxerischen Fähigkeiten. Es war nicht so, als ginge ich zur Schule und würde meinen Charakter formen, um ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden. Nein, ich tat es, um Weltmeister im Schwergewichtsboxen zu werden; dessen war sich Cus voll und ganz bewusst.
„Wenn ich nur mehr Zeit mit dir hätte“, sagte er. Doch dann fuhr er fort: „Ich bin jetzt seit 60 Jahren im Kampfsport und habe noch nie jemanden erlebt, der so viel Interesse zeigt wie du. Du redest ununterbrochen übers Boxen.“
Ich war auch extrem. Wenn wir eingeschneit waren, trainierte Cus mich im Haus. Nachts blieb ich stundenlang auf und trainierte Schattenboxen. Mein Leben hing vom Erfolg ab. Würde ich keinen Erfolg haben, wäre ich lediglich ein nutzloses Stück Scheiße. Außerdem tat ich es auch für Cus. Er hatte ein hartes Leben hinter sich, mit vielen Enttäuschungen. Ich war also hier, um das Ego und den Stolz dieses alten Italieners zu verteidigen.