Jimi Hendrix. Charles R Cross
Jimi schien in mancherlei Hinsicht den anderen hinterherzuhinken, und sogar in seiner Beziehung zu Betty Jean war er nicht über das Küssen hinausgekommen. Silvester 1959 verbrachte er mit Jimmy Williams, indem die beiden Dean Martins „Memories Are Made Of This“ spielten. Um Mitternacht rief er Betty Jean an, doch angesichts der Tatsache, dass sie nur ein paar Straßenecken weiter wohnte, kann sie dies kaum als besonders romantisch empfunden haben.
Wenn Jimi gleichzeitig mit anderen Mädchen geschlafen haben sollte, so prahlte er nie damit. Jimmy Williams und Pernell Alexander erinnern sich an eine Party, zu der alle gehen wollten, auf der ältere, sexuell erfahrene Frauen erwartet wurden. Auf den ersten Blick schien dieser Abend die Chance zu bieten, dass Jimi seine Jungfräulichkeit verlieren könnte. Pernell, der immer schon ausgekochter als die anderen beiden war, knöpfte sich, bevor sie eintraten, noch einmal Jimi und Jimmy vor. Wie ein älterer Bruder versuchte, er die beiden aufzuklären. „Die Eltern dieser Mädchen sind nicht da, vielleicht feiern sie die ganze Nacht. Ich hoffe, ihr wisst, was ihr tut. Hat einer von euch beiden schon mal gebumst?“
Weder Jimi noch Jimmy antworteten. Ihr Schweigen und ihre aufgerissenen Augen ließen darauf schließen, dass sie völlig unerfahren waren. „Also, ihr müsst einfach nur cool bleiben“, sagte Pernell, als er das Haus betrat.
Jimi und Jimmy folgten ihm nicht. Sie blieben auf der Veranda, sahen sich gegenseitig ratlos an und sammelten innere Stärke. Für sie schien Sexualität untrennbar mit den Ermahnungen verbunden, die sich beide unentwegt hatten anhören müssen, bloß kein Mädchen zu schwängern. Ihre Beklommenheit wurde dadurch noch gesteigert, dass sie Freunde hatten, die bereits Väter geworden waren. Einige Augenblicke lang besprachen sie sich und überlegten, welche Schwierigkeiten eine Schwangerschaft in ihr ohnehin schon kompliziertes junges Leben bringen würde. Sie waren damals siebzehn Jahre alt, aber noch wie Kinder. „Ich kann es mir nicht leisten, ein Mädchen zu schwängern“, meinte Jimi voller Sorge. Jimmy Williams pflichtete ihm bei. Schließlich stand Jimmy auf und ging weg. Auch Jimi erhob sich und folgte seinem besten Freund nach Hause. Sie hatten keinen Fuß in das Haus gesetzt.
* * *
Irgendwann beichtete Jimi Al den Verlust seiner Gitarre und bekam die Lektion seines Lebens. Wochenlang lief er wie ein geprügelter Hund in der Schule herum.
Bevor ihm die Gitarre gestohlen worden war, hatte Jimi in einer Band namens The Rocking Kings zu spielen begonnen. Wie die Velvetones bestand diese Gruppe aus Highschoolkids, aber sie hatten ein paar gut bezahlte, professionelle Auftritte ergattert. Obwohl die Band mit Junior Heath bereits über einen ausgezeichneten Gitarristen verfügte, hatte Jimi bei einer „Battle of the Bands“-Veranstaltung früher in jenem Herbst einen solchen Eindruck hinterlassen, dass man ihm einen Platz in der Band anbot. „Er war sehr eisern drauf“, erinnert sich der Schlagzeuger Lester Exkano. „Er rauchte nicht, und er trank nicht. Er war ein bisschen wilder als andere Jungs.“ Jimi mag abseits der Bühne spießig gewirkt haben, aber sobald er einen Verstärker und einen Scheinwerfer hatte und auf der Bühne stand, war er wie ausgewechselt. Die Rocking Kings hatten einen Manager, James Thomas, der ihnen Engagements zu verschaffen versuchte und sie professioneller wirken ließ. In seiner Eigenschaft als Manager verfügte Thomas, dass alle in der Band Anzugjacken zu tragen hatten. Für einen bestimmten Auftritt musste sich Jimi ein rotes Jackett borgen, wobei die Leihgebühr höher war als sein Anteil an der Gage. Al sorgte dafür, dass er die Lehre so schnell nicht vergaß.
Nachdem Jimis Gitarre gestohlen worden war, war er für die Rocking Kings wertlos geworden, und mehrere Bandmitglieder legten zusammen, um ihm ein neues Instrument zu kaufen. Für neunundvierzig Dollar fünfundneunzig erstanden sie eine weiße Danelectro Silvertone bei Sears Roebuck, zu der auch ein passender Verstärker gehörte. Wie er es auch schon mit seiner alten Gitarre gehalten hatte, ließ er die neue gewöhnlich bei Freunden zu Hause stehen, um sie dem Zorn seines Vaters zu entziehen. Jimi malte die Gitarre rot an und schrieb den Namen „Betty Jean“ in fünf Zentimeter großen Buchstaben vorn drauf. Seine Tante Delores bemerkte, dass er die Gitarre auch nach seiner Mutter „Lucille“ hätte taufen können, hätte nicht B. B. King den Namen bereits verwendet.
B. B. King blieb ein starker Einfluss, und Songs wie „Every Day I Have The Blues“ und „Driving Wheel“ waren beliebte Coverversionen, welche die Band spielte. Ein Set der Rocking Kings enthielt zum Beispiel „C. C. Rider“ in der ursprünglichen R&B-Version, wie sie Chuck Willis gespielt hatte, Hank Ballards Version von „The Twist“, die langsamer war als der Hit von Chubby Checker, außerdem beliebte Nummern wie „Rockin’ Robin“ oder „Do You Want To Dance?“, Coverversionen von Hits der Coasters, „Blueberry Hill“ und beinahe immer Songs von Duane Eddy und Chuck Berry. Die Band spielte auch eigene Versionen von „David’s Mood“ und „Louie, Louie“. „Wir haben Blues, Jazz und Rock durcheinander gespielt“, erinnert sich Exkano. „Wir spielten alles, damit die Leute weitertanzten.“ Die Songs wurden von Exkanos ungewöhnlichem Schlagzeugsound vorangetrieben, den er als „Kitschbeat“ bezeichnete. „Das war eher so ein schlurfender Shuffle“, erklärte Exkano, „was es leichter machte, dazu zu tanzen. Der Sound war definitiv schwarz, aber das Publikum bei unseren Shows war gemischt, und alle kamen.“
Im Juni 1960 zogen Al und Jimi wieder einmal um, diesmal in ein kleineres Haus im East Yesler Way 26026, nur ein paar Straßenecken von der Garfield High entfernt. Jimi schloss sein zweites Jahr an der Highschool mit einer zwei in Kunst und einer Vier im Maschinenschreiben ab. Sechsen kassierte er in Theater, Geschichte und Sport, die Fächer Literatur, Werken und Spanisch hatte er vorsorglich bereits abgegeben. „Er wollte einfach nicht lernen“, erinnert sich Terry Johnson. „Das führte natürlich dazu, dass er durchfiel, was seine Selbstachtung wiederum erneut ankratzte.“
Als im darauf folgenden September die Schule wieder losging, besuchte Jimi zunächst einen Monat lang den Unterricht, doch schon wenig später zeichnete sich ab, dass er den Abschluss niemals schaffen würde. Trotz mehrerer Warnungen von Schulbeamten, er würde der Schule verwiesen, sollte er weiterhin den Unterricht schwänzen, erschien Jimi nicht und wurde gegen Ende Oktober 1960 offiziell entlassen. In seiner Schulakte wird als Grund für seinen Abgang eine „Arbeitsverpflichtung“ angegeben, jedoch hatte er außer als Gitarrist bei den Rocking Kings keinen anderen Job. „Er war so weit davon entfernt, den Abschluss zu schaffen, dass es keine Frage von ein paar schlechten Noten oder versäumten Unterrichtsstunden mehr war“, erinnert sich der Direktor Frank Hanawalt. „Er hatte so viel versäumt, dass er das unmöglich noch aufholen konnte. Damals gab es die Vorschrift, dass wir Schüler, die den Unterricht nicht regelmäßig besuchten, nicht weiter an unserer Schule dulden durften.“ In jenem Jahr gingen zirka zehn Prozent der Schüler von der Garfield ab.
Als Jimi Jahre später berühmt war und gegenüber gutgläubigen Reportern seine Vergangenheit mystisch verklärte, erzählte er das Märchen, er sei von der Schule geflogen, weil ihn rassistische Lehrer beim Händchenhalten mit seiner weißen Freundin in der Bibliothek erwischt hätten. Die Geschichte war frei erfunden: Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen waren an der Schule nicht beispiellos, obwohl Jimi zu dem Zeitpunkt keine weiße Freundin hatte, mit der er hätte Händchen halten können. Niemand, der in jener Zeit die Garfield besuchte, erinnert sich an eine andere Highschoolfreundin außer Betty Jean. Jimi hatte sich mit Mary Willix angefreundet, einer weißen Klassenkameradin, die eine enge Freundin wurde – mit ihr unterhielt er sich über Ufos, das Unbewusste und Wiedergeburt. Jimis Freundschaft zu Willix war allerdings rein platonisch, doch war sie eines der wenigen weißen Mädchen, mit denen er in seiner Jugend näher zu tun hatte. „Kaum eine der anderen weißen Schülerinnen kannte Jimi überhaupt“, bemerkt Willix. Die Freundschaft zu Willix hinterließ jedoch einen bleibenden Eindruck bei ihm, ebenso wie die vielen Freundschaften, die Jimi zu Musikern aller möglicher Hautfarben an der Garfield und im Central District in jenem Herbst unterhielt. „Der Multikulturalismus, den Jimi an der Garfield erlebte, sollte ihn den Rest seines Lebens begleiten“, erinnert sich Willix. „Das war wirklich ein ganz besonderer Ort, und alle, die dort waren, wurden nachhaltig davon geprägt.“ Diese Freundschaften, von denen sich viele um die gemeinsame Liebe zur Musik entwickelten, wirkten sich dauerhafter auf Jimi aus als alles, was er im Unterricht gelernt hatte.
Das fantastische Märchen, er sei wegen einer imaginären weißen Freundin aus der Bibliothek