Jimi Hendrix. Charles R Cross

Jimi Hendrix - Charles R Cross


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in der Lucille aufgewachsen war. Schon bald war sie hingerissen von der exotischen Anziehungskraft der zahlreichen Clubs auf der Jackson Street.

      Die Main Stem war außerdem das Zentrum des Rhythm & Blues in der Stadt. In Clubs wie dem Black & Tan, dem Rocking Chair und dem Little Harlem Nightclub existierte eine bunte und vielfältige alternative Welt, die der Großteil des weißen Seattle niemals zu Gesicht bekam. Jimmy Ogilvy, der spätere Frontmann der Dynamics, besuchte die Jackson Street als Teenager und ­musste feststellen, dass man dort als Weißer weniger unangenehm auffiel als in den falschen Klamotten. „Alle trugen Zoot-Suits, große Hüte und Lacklederschuhe“, erinnert er sich. „Man kam nicht rein, wenn man nicht korrekt gekleidet war. Den Clubs war’s egal, ob man weiß war. Die wollten einfach nur, dass man tanzte und was losmachte. Elegant und gewandt musste man sein.“

      Die Arbeit auf der Jackson Street veränderte das Leben der hübschen sechzehnjährigen Lucille Jeter Hendrix. Zu Beginn war sie nicht sonderlich gewieft, doch sie lernte schnell. Delores bemerkte, dass die Gegend ihre Schwester „härter machte“, gleichzeitig aber erweiterte sie auch Lucilles zuvor eher beschränkten Horizont. Sie fühlte sich in dem Milieu wohl – sie kannte die Leute, diese kannten sie. Der spießigen Welt des Central District, der Welt ihrer Eltern, schien sie ebenso entwachsen wie der eher konservativen Welt, die Al Hendrix vertrat und die ihr inzwischen schon wie eine entfernte Erinnerung vorkam.

      * * *

      Im Spätsommer 1942 wurde Lucilles Schwangerschaft sichtbar, und sie ­musste zu arbeiten aufhören. Ab Herbst wohnte sie bei Dorothy Harding, einer Freundin der Familie. Harding war nur sieben Jahre älter als Lucille, aber bereits allein erziehende Mutter von drei Kindern (und sie sollte noch sechs weitere bekommen). Außerdem war sie eine der ersten afroamerikanischen Frauen, die in Seattle in einer Werft arbeiteten, einem Arbeitsplatz, der vor dem Krieg sowohl für Schwarze als auch für Frauen tabu gewesen war. Noch wichtiger aber war vielleicht, dass Harding sowohl in der Welt der Main Stem wie auch der des Central District zu Hause war. Obwohl sie jeden Sonntag zur Kirche ging, liebte Dorothy Musik und Männer – eines ihrer Kinder ging aus einer kurzen Beziehung mit dem Sänger Jackie Wilson hervor. Lucille zog hochschwanger bei Harding ein. „Sie nannte mich Tantchen“, erinnert sich Harding. „Ich hab mich um sie gekümmert.“

      Lucille war zu Hause bei Dorothy, als in einer stürmischen Novembernacht die Wehen einsetzten. Sie wurde eilig ins Krankenhaus gebracht, und es war eine schnelle Entbindung. Das Baby wurde am 27. November 1942 um 10.15 Uhr geboren. Alle waren fest davon überzeugt, der kleine Junge sei das süßeste Baby überhaupt. In jener Nacht gab ihm Delores den Spitznamen „Buster“ nach Buster Brown aus einem Comicstrip von Richard Outcault, der außerdem auch der Name einer Kinderschuhmarke war. Später wurde behauptet, Jimi sei nach Larry „Buster“ Crabbe genannt worden, dem Schauspieler, der Flash Gordon in der von Jimi heiß geliebten Filmreihe spielte. Jimi selbst erzählte diese Version der Geschichte, wobei er aber nicht bedachte, dass er den Namen bereits verpasst bekommen hatte, lange bevor er in der Lage war, sich heimlich in Kinomatineen zu schleichen. Während seines gesamten Lebens nannten ihn die meisten Verwandten und Nachbarn in Seattle nach dem kleinen frechen Jungen von den Witzseiten.

      Teilweise diente der Spitzname auch dazu, den von Lucille gewählten Taufnamen zu vermeiden: Johnny Allen Hendrix. Der Name Johnny war weder in ihrer noch in Als Familie gebräuchlich, was Al unaufhörlich an seiner Vaterschaft zweifeln ließ. Al war fest davon überzeugt, das Kind sei nach John Page benannt, einem Hafenarbeiter, der bei Dorothy Harding zur Untermiete wohnte. Harding bestreitet, dass Page vor Lucilles Niederkunft jemals etwas mit ihr zu tun gehabt hat, obwohl sich ab einem bestimmten Zeitpunkt durchaus so etwas wie eine Beziehung ergeben haben muss. Lucille mag das Baby tatsächlich nach Page benannt haben, was aber auch ein Zufall gewesen sein könnte, denn John war seit 1942 der beliebteste Jungenname. Auf jeden Fall wollte niemand das Baby Johnny nennen, nicht einmal Lucille, und so war der Name lediglich der erste von drei gesetzlich eingetragenen Namen, die Jimi Hendrix im Lauf seines Lebens tragen sollte.

      Al wurde durch ein Telegramm von Delores von der Geburt informiert. Als Lucille ihm schließlich ein Bild von sich mit dem Kind auf dem Schoß sandte, schrieb sie darunter: „Das ist das Baby – und ich“, wobei sie seinen Vornamen wegließ. Auf einem Schnappschuss, den Delores machte und an Al schickte, lautete die Bildunterschrift: „In Liebe für meinen Daddy, Baby Hendrix.“ Auf die Rückseite hatte Delores geschrieben: „Lieber Allen, hier kommt endlich ein Bild von deinem kleinen Jungen ‚Allen Hendrix‘. Er ist genau zwei Monate und drei Wochen alt. Er sieht doppelt so alt aus, findest du nicht? Ich hoffe, das Bild kommt heil bei dir an. Delores Hall.“

      Diese Bilder von Lucille und dem Baby gehören zu den einzigen noch erhaltenen Bildern von Lucille. In ihrer Kostümjacke und dem schlichten Rock ohne Strümpfe posierte sie mit züchtig verschränkten Beinen, doch in ihrem Lächeln liegt versteckte Anzüglichkeit. Ihr glattes Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, eine Frisur, die damals eher Schulmädchen als Hausfrauen trugen. Sie und ihr pausbäckiges Baby sind beide sehr fotogen, in beiden Gesichtern strahlen dieselben Mandelaugen. Kein Soldat der Streitkräfte hätte das Foto ohne Gefühle von Stolz, Lust und Verlangen betrachtet.

      Nicht lange nach der Geburt des Babys wurde Al in den Südpazifik versetzt, und als er das erste Foto seines Kindes erhielt, befand er sich auf den Fidschiinseln. Den Großteil seiner Dienstzeit bei der Armee verbrachte Al fern von Kampfhandlungen, wodurch er viel Zeit hatte, darüber nachzudenken, was in Seattle so alles geschehen oder nicht geschehen könnte. In seiner Autobiografie My Son Jimi räumt Al ein, kurz nach ihrer Hochzeit habe Lucille oft geschrieben, aber „nach Jimis Geburt, hat sie eine schwere Zeit durchgemacht“. Größtenteils waren ihre Probleme finanzieller Natur, da Jimi bereits ein Jahr alt war, als Lucille Als Sold geschickt wurde. Mitte 1943 jedoch sorgten andere Umstände in Lucilles Leben dafür, dass sich die Dinge verkomplizierten. Im Juni starb ihr Vater Preston, woraufhin ihre ohnehin labile Mutter Clarice einen weiteren psychischen Zusammenbruch erlitt. Clarice zog vorübergehend aus dem Haus der Familie aus, und es brannte in ihrer Abwesenheit bis auf die Grundmauern nieder. Es gab keine Versicherung, weshalb die Familie alles verlor, was sie jemals besessen hatte, darunter auch alle Fotografien.

      * * *

      Im darauf folgenden Jahr führten Lucille und ihr Baby ein bewegtes Leben, zogen von Dorothy Harding zu Lucilles Schwester Delores und wieder zurück. Tatsächlich hatte niemand Platz für Lucille und ihr Kind. Sie arbeitete weiterhin in Restaurants und Kneipen und ließ Dorothy, Delores oder ihre Mutter Clarice auf Buster aufpassen. „Am Anfang wusste Lucille nicht mal, wie man eine Windel wechselt“, erinnert sich Harding.

      Freddie Mae Gautier, eine Freundin der Familie, machte sogar Andeutungen, sie habe das Kind vernachlässigt. Vor Gericht gab Gautier in aller Ausführlichkeit eine Geschichte zu Protokoll, die davon handelte, wie Clarice eines schönes Wintertags mit einem Bündel in den Armen bei den Gautiers aufgetaucht sei. „Das ist Lucilles Baby“, habe sie verkündet. Gautier, die damals erst zwölf war, erinnert sich, das Baby sei „eiskalt“ gewesen, habe „ganz blaue Beinchen gehabt“, und seine nassen Windeln seien steif gefroren gewesen. Gautiers Mutter habe das Kind sauber gemacht, es gebadet und seine Haut mit Olivenöl eingerieben. Als es für Clarice Zeit zu gehen wurde, erklärte Mistress Gautier, das Kind solle bei ihr bleiben, bis Lucille es abholen käme. Als Lucille schließlich eintraf, habe sie einen Vortrag über Säuglingspflege zu hören bekommen.

      Schließlich fand die bitterarme Lucille andere Männer, die sie unterstützten, darunter auch, zumindest zeitweise, John Page. Ob es sich dabei um Gefühlskälte ihrerseits gegenüber Al oder die verzweifelte Tat einer sehr jungen Mutter kurz vorm Verhungern oder aber eine Mischung aus beidem handelte, lässt sich nicht mehr klären. In den dunklen Tagen von 1943 stand längst noch nicht fest, wie der Krieg ausgehen würde und ob die jungen Männer, die raus in die Welt geschickt worden waren, jemals wiederkommen würden. Wenn Lucille Hendrix ihrem Mann, der sich auf der anderen Seite des ­Ozeans befand, untreu wurde, so war sie längst nicht die einzige Braut auf Abwegen. „Ich glaube, sie hat sich wirklich Mühe gegeben, auf ihn zu warten“, behauptet ­Delores. „Er war ziemlich lange weg.“ Al hatte darüber natürlich seine eigenen Ansichten. „Ich nehme an, Lucille hat eine ganze Weile durchgehalten“, schrieb er in My Son Jimi, „bis sie anfing, sich


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