Jimi Hendrix. Charles R Cross
ihm tatsächlich geantwortet habe, seien schäbige Hotels als Absenderadressen angegeben gewesen.
Auch Lucilles eigene Familie machte sich Sorgen um das Wohlergehen des Babys und John Page. Einzelne Familienangehörige waren sogar derart beunruhigt, dass sie einen Anwalt zurate zogen, der ihnen erklärte, sollte Page Lucille dazu bringen, den Staat Washington zu verlassen, könnten sie ihn wegen Verschleppung einer Minderjährigen anzeigen. Als sie hörten, Page habe Lucille und das Baby mit nach Portland, Oregon, genommen, reisten Lucilles Verwandte mit dem Zug hinterher und fanden Lucille im Krankenhaus wieder, wo sie behandelt wurde, nachdem Page sie verprügelt hatte. „Sie hatte Jimi bei sich“, erinnert sich Delores. „Wir haben sie und Jimi wieder nach Hause gebracht.“ Da Lucille damals erst siebzehn war, wurde Page verhaftet und wegen Verschleppung einer Minderjährigen zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
Im Frühjahr bekam Lucille endlich Als Gehaltsschecks, was ihre finanzielle Not etwas linderte, sie jedoch nicht ruhiger machte. Die Fürsorge für Buster blieb immer mehr an Delores, Dorothy und Großmutter Clarice hängen. Als der Junge fast drei war, nahmen ihn Lucille und Clarice zu einer Kirchentagung nach Berkeley, Kalifornien, mit. Lucille fuhr wieder nach Hause, um zu arbeiten, doch Clarice wollte Verwandte in Missouri besuchen. Um dem Baby die lange Reise in den Mittleren Westen zu ersparen, bot eine Kirchenbekannte, Mistress Champ, an, ihn vorübergehend zu sich zu nehmen. Mistress Champ hatte selbst eine Tochter, ein junges Mädchen namens Celestine. Jahre später sprach Jimi Hendrix noch von der Freundlichkeit, mit der ihm Celestine als Kleinkind begegnet war.
Ursprünglich hatte Mistress Champ die Fürsorge für das Kind nur für einen begrenzten Zeitraum übernommen, doch dieser dehnte sich immer weiter aus, und tatsächlich schien es sich eher um eine informelle Adoption zu handeln. Delores schrieb Mistress Champ regelmäßig und bat sie, Al zu schreiben und mitzuteilen, dass das Baby in Kalifornien sei. Folglich erhielt Al Hendrix nur wenige Wochen vor seiner Entlassung aus der Armee tausende von Kilometern entfernt irgendwo im Pazifik einen Brief, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass sich sein Kind in der Obhut einer Fremden befand.
Kapitel drei
Überdurchschnittlich schlau
Seattle, Washington
September 1945 bis Juni 1952
„Er ist für sein Alter überdurchschnittlich schlau, und die Leute hier sind ganz vernarrt in ihn.“
— Al Hendrix in einem Brief an seine Mutter
Al Hendrix kehrte im September 1945 mit einem Truppentransporter nach Seattle zurück. Als er in Elliott Bay einlief, deutete er auf die Stadt und bemerkte gegenüber einem seiner Kameraden: „Da drüben wohn ich.“ In Wirklichkeit wusste Al nicht, wo er wohnen würde, und ob er noch eine Ehefrau hatte, war ebenso unklar. Noch von Übersee aus hatte er die Scheidung eingereicht.
Unmittelbar nach seiner Entlassung zog Al bei seiner Schwägerin Delores ein. Buster war noch immer in Kalifornien bei Mistress Champ. Als Nächstes reiste Al nach Vancouver, wo er seine Familie besuchte, und nachdem er dort mehrere Wochen verbracht hatte, kehrte er nach Seattle zurück und besorgte sich im Rathaus der Stadt eine Kopie der Geburtsurkunde seines Sohnes, in der Annahme, sie könne hilfreich sein, wenn er ihn abholen fuhr. Zwei Monate nach seiner Entlassung aus der Armee machte er sich auf nach Kalifornien, um seinen Jungen zu holen.
Die erste Begegnung zwischen Al und seinem Erstgeborenen in der Wohnung der Champs war beklommen. In My Son Jimi schrieb er, beim Anblick seines Kindes sei er von Gefühlen überwältigt gewesen: „Bei einem frisch geborenen Säugling wäre das anders gewesen. Da stand er, drei Jahre alt, schaute mich an und bildete sich sein eigenes Urteil.“ Zumindest teilweise rührte das Unbehagen daher, dass der Junge seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Al fiel die verblüffende Ähnlichkeit sofort auf, besonders die der Augen. Selbst das breite Lächeln erinnerte an Lucille.
Die Champs versuchten Al zu überreden, Buster bei ihnen zu lassen. Eine Adoption hätte sich ohne Weiteres arrangieren lassen, und in Anbetracht der bevorstehenden Ungewissheit hätte man es Al kaum verdenken können, wenn er eingewilligt hätte. In einem Brief, den er aus Berkeley an seine Mutter Nora Hendrix schrieb, zeigte sich Al voller Zweifel in Bezug auf seine Situation, gleichzeitig aber auch erfüllt von väterlicher Liebe. Er schrieb, Buster sei „ein guter Junge, und er ist süß. Er ist für sein Alter überdurchschnittlich schlau, und die Leute hier sind ganz vernarrt in ihn – alle sind das.“ Al schrieb, Mistress Champ sei todunglücklich über die Aussicht, den Jungen zu verlieren: „Sie hängen so sehr an ihm und lieben ihn so sehr, und er hat sich jetzt an sie gewöhnt; es ist eine Schande, ihn da herauszureißen, aber ich liebe ihn auch. Schließlich ist er mein Sohn, und ich will, dass er weiß, wer sein Daddy ist, er hat jetzt schon angefangen, mich Daddy zu nennen.“ Gegen Ende des Briefs überlegte Al, wie es wäre, Kalifornien ohne den Jungen zu verlassen, und er schloss mit den Worten: „Ich könnte es mir nie verzeihen. Wenn ich hier abreise, nehme ich ihn mit.“ Er versprach seiner Mutter, sie noch vor Weihnachten zu besuchen.
Sofern er sich überhaupt daran erinnern konnte, hat Jimi Hendrix nie darüber gesprochen, wie es war, seinem Vater zum ersten Mal zu begegnen. Jimi war bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich von Frauen erzogen worden und hatte keine Vaterfigur gekannt. Er hatte sich an Mistress Champ gewöhnt und Celestine vergöttert. Als Al ihm im Zug nach Hause Schläge androhte, rief Jimi unter Tränen nach Celestine, doch seine Beschützerin konnte nichts mehr für ihn tun. Al verpasste seinem Sohn auf dieser Bahnfahrt die erste väterliche Tracht Prügel. „Ich glaube, er hatte Heimweh und hat sich deshalb schlecht benommen“, schrieb Al später.
In Seattle zogen Al und Jimi bei Delores in das Yesler Terrace Housing Project ein. Es handelte sich um das erste ethnisch gemischte Wohnungsbauprojekt der Vereinigten Staaten, und trotz der Armut der Bewohner entstand dort eine eingeschworene Gemeinschaft, in der sich die verschiedensten Kulturen auf gleicher Ebene begegneten. „Das war damals ein guter Ort“, erinnert sich Delores, „Schwarze gab es nicht so viele, aber alle kamen miteinander aus.“ Außer Buster gab es noch viele andere Kinder, und es war der Beginn einer multikulturell geprägten Kindheit.
Die Ereignisse nahmen für alle eine überraschende Wendung, als Lucille nur kurze Zeit nach Al und Buster ebenfalls dort wieder auftauchte. Ihre ersten Worte gegenüber Al lauteten: „Da bin ich.“ Zum ersten Mal befanden sich die drei Hendrix’ im selben Raum. Die Wiedervereinigung war für alle drei von gemischten Gefühlen begleitet: Lucille war sich nicht sicher, wie sie empfangen werden würde, von ihrem Sohn, den sie monatelang nicht gesehen hatte – und von ihrem Mann, von dem sie sich vor drei Jahren verabschiedet hatte. Buster wusste nicht, was er davon halten sollte, zum ersten Mal seine beiden Eltern zusammen zu erleben. Al konnte sich nicht entscheiden, ob er seiner Wut gegenüber Lucille Luft machen oder sie in die Arme nehmen sollte. Er war beeindruckt von der Attraktivität seiner Frau: In den drei Jahren, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie von einem Mädchen zu einer schönen, erwachsenen Frau gereift. Es endete damit, dass Al entschied, den Scheidungsprozess zu stoppen. Lucille fragte ihn: „Willst du’s probieren, ob wir’s doch noch mal hinkriegen?“ Und Al antwortete: „Vielleicht ist es das Beste, wenn wir’s verdammt noch mal versuchen.“ Die körperliche Anziehung bildete das stärkste Band zwischen beiden und führte dazu, dass sie immer wieder in die Arme des anderen zurückfanden – auch in Zeiten erbitterter ehelicher Auseinandersetzungen.
Allen Berichten zufolge waren die nun folgenden Monate die sorgenfreisten, welche die Familie erleben sollte. Da sie bei Delores wohnten, waren ihre Ausgaben minimal, und Al erhielt noch immer Zahlungen von der Armee. Er und Lucille waren daher in der Lage, beinahe jeden Abend auszugehen. Und Delores, die konservativer war als ihre Schwester, diente praktischerweise als Babysitterin. Lucille und Al passten im Gegenzug auf die Kinder von Delores auf, wenn sie tagsüber bei Boeing arbeitete. Danach kümmerte sich Delores um Buster, wenn Lucille und Al ausgingen und ihre alte Liebe auffrischten. „Das waren damals ihre Flitterwochen“, meint Delores. „Die sind die Jackson Street rauf und runter.“
Die junge Familie unternahm sogar eine Reise nach Vancouver. Weder Lucille noch Buster hatten je Als Mutter Nora kennen gelernt, und Al gefiel es, mit seiner Nachkommenschaft anzugeben. Buster mochte