Jimi Hendrix. Charles R Cross

Jimi Hendrix - Charles R Cross


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raus, schloss die Packung wieder und stellte sie zurück. Dann schlich er sich zu den Fleisch- und Wurstwaren und klaute Schinken, damit er sich ein Sandwich machen konnte.“

      Im Frühjahr besserte sich die finanzielle Situation der Familie, als Al einen Job bei den Stadtwerken bekam. Da er nun über ein regelmäßiges Einkommen verfügte, kaufte er eine kleine Zweizimmerwohnung in der Washington Street Süd 2603, die er in Raten von jeweils zehn Dollar abbezahlte. Durch den Umzug lebten sie nun wieder im Central District, nur wenige Straßenecken von der Jackson Street entfernt. Am wichtigsten aber war für Jimi und Leon, dass sie nun einen Hof und ein eigenes Zuhause hatten.

      Das ganze Haus hatte nur dreihundert Quadratmeter und war bereits fünfzig Jahre alt, aber den Jungs kam es wie ein Palast vor. Jimi und Leon teilten sich ein Zimmer, doch nicht lange nach ihrem Einzug stießen Als Nichte Grace und ihr Mann Frank Hatcher zu ihnen. „Al bat uns, bei ihm zu wohnen und auf die Kinder aufzupassen“, erinnert sich Frank. „Allein hat er es nicht geschafft. Er hat viel getrunken, hat gespielt und ist oft gar nicht nach Hause gekommen.“ Eine Zeit lang übernahmen die Hatchers praktisch die Elternfunktion für die beiden Jungen, wobei besonders Grace zu einer weiteren Mutterfigur wurde. Ihre leibliche Mutter Lucille kam eher selten zu Besuch. Sie wohnte mal in diesem, mal in jenem Hotel und kam alle paar Wochen vorbei, im Alltag war sie jedoch kaum noch präsent.

      Ende April wechselte Jimi die Schule. Er besuchte nun die Leschi-Schule, die in Bezug auf Rassentrennung fortschrittlichste Schule der Stadt. Hier lernte er seine engsten Kindheitsfreunde kennen: Terry Johnson, Pernell Alexander und Jimmy Williams. „Wir waren wie eine eigene Familie“, erinnert sich Pernell. Pernell wuchs bei seiner Großmutter Mae Jones auf, die auch im Leben der anderen Jungen eine wichtige Rolle spielte. „Vor der Schule haben wir bei ihr gefrühstückt“, erinnert sich Jimmy Williams. „Mistress Jones hat Jimi und mich über alles geliebt.“

      Terry Johnson kam aus einer vergleichsweise intakten Familie und war praktisch in der Kirche aufgewachsen. Jimi begleitete ihn gelegentlich in die Grace Methodist Church, und dort hörte er auch zum ersten Mal Gospel­musik. „Jimi kam ein paar Mal mit“, erinnert sich Johnson, „und ich glaube, es war mehr oder weniger auch das erste Mal, dass er eine Kirche besucht hat.“ Jimi fand die Musik berauschend, und der energievolle Chor vermittelte ihm eine Vorstellung der Macht, die Livemusik haben kann.

      Jimis engster Freund war Jimmy Williams, der zwölf Geschwister hatte. Jimmy und Jimi wurden unzertrennlich, vielleicht auch, weil beide sehr introvertiert waren. Um Verwechslungen wegen ihrer identisch klingenden Namen zu vermeiden, legten sie sich innerhalb ihrer Cliquen Spitznamen zu: Jimi wurde zu Henry (eine Abkürzung für Hendrix) oder Buster, Terry Johnson war Terrikins, und Jimmy Williams wurde nach seinem Lieblings­essen Potato Chips genannt. Pernells Vorname klang ohnehin ganz anders als die der anderen, sodass er keinen Spitznamen brauchte.

      Im Sommer gingen sie häufig nach Schulschluss im Lake Washington schwimmen oder besuchten eine billige Matinee im Atlas Theater, wo Jimi die Serie Flash Gordon für sich entdeckte und ganz besonders auch den Film Prinz Eisenherz. Der Bösewicht in Prinz Eisenherz war der Schwarze Ritter, und Jimi und Leon fochten mit Besenstielen gegeneinander und stritten endlos darüber, wer die Rolle des heimtückischen Schwarzen Ritters spielen durfte. Als die Familie einen Hund bei sich aufnahm, wurde er nach Prinz Eisenherz Prince genannt.

      Derselbe Besen, der als Requisit bei den Fechtduellen diente, verwandelte sich später in eine imaginäre Gitarre. Obwohl Jimi zuvor kaum Interesse an Musik gezeigt hatte, fing er 1953 an, die Pop-Charts zu verfolgen und die Musik aus dem Radio auf dem Besenstiel zu begleiten. „Wir haben uns immer die Hit Parade Top 10 angehört“, erinnert sich Jimmy Williams. Damals standen sie eher auf Schnulzensänger wie Frank Sinatra, Nat King Cole und Perry Como. Jimis Lieblingssänger war Dean Martin.

      Beinahe jeden Tag hörte Jimi nach der Schule Radio und tat so, als würde er auf dem Besen mitspielen. Al, welcher der Meinung war, ein Besen sei ausschließlich zum Fegen da, erhob Einwände. „Jimi tobte herum und spielte Besen“, erinnert sich Leon. „Wenn Dad reinkam, fegte Jimi schnell wieder. Dann entdeckte Dad aber Stroh vom Besen auf dem Bett und flippte aus.“

      Die Jungs arbeiteten den Sommer über auf den Feldern südlich von Seattle, pflückten Bohnen oder Erdbeeren. Für diese Jobs mussten sie sehr früh aufstehen, um den Bus zum Bauernhof zu erwischen. Al weckte sie morgens um vier Uhr und ging mit ihnen zur Wonder-Bread-Bäckerei, wo Jimi einen Arbeiter kannte, der ihnen Donuts vom Vortag aufhob. Sie liefen ins Industriegebiet von Seattle und fuhren mit dem Bus zu einer Farm dreißig Kilometer außerhalb der Stadt. Die Pflücker wurden je nach Menge bezahlt, weshalb sie entweder so viel pflückten, bis sie genug für ein Mittagessen hatten, oder so viele Erdbeeren aßen, wie sie konnten. Manchmal schwammen sie im Green River, und einmal rettete Jimi Leon vor dem Ertrinken. „Ich bin in den Kanal gefallen, und Jimi ist losgeschwommen und hat mich gerettet“, erzählt Leon. Auf dem Heimweg von den Feldern gaben die Jungs oft ihr eben erst verdientes Geld wieder für Pferdefleisch-Burger aus, zehn Cent pro Stück. „Wir haben zwei gekauft, und das war der Höhepunkt des Tages“, sagt Leon. „Dann sind wir nach Hause und haben auf Dad gewartet, weil, na ja, manchmal ist er nicht nach Hause gekommen.“

      Nach einem Jahr hatten Grace und Frank Hatcher Als Marotten satt. Bei ihrem Einzug hatte sich Al bereit erklärt, in jeder zweiten Woche zu kochen, und die Hatchers hatten den Eindruck, er würde seinen Teil der Verabredung nicht erfüllen. „Er hat immer nur Reis, Bohnen und Wiener gekocht“, sagt Frank ­Hatcher. „Er hat immer nur das billigste Fleisch gekauft: Hälse und Pferdefleisch.“ Die Hatchers waren es leid und zogen aus, womit die Jungen mal wieder allein ihrem Vater überlassen blieben. Al wollte keinem seiner beiden Söhne einen Wohnungsschlüssel geben, weshalb Jimi oder einer seiner Freunde immer herausfinden mussten, in welcher Kneipe Al gerade saß, damit sie den Schlüssel dort holen konnten. „Es gab ungefähr fünf Kneipen, in die er regelmäßig ging“, erinnerte sich Pernell Alexander. „Man musste nur rauskriegen, in welcher er gerade steckte.“ Am liebsten ging Al in die Shady Spot Tavern auf der Dreiundzwanzigsten oder die Mister Baker Tavern an der Ecke Fünfundzwanzigste und Jackson. Bei Mister Baker konnte Jimi durchs Fenster sehen, ob sein Vater dort war, ohne reingehen zu müssen. Oft gaben Jimi und Leon die Suche aber auf und übernachteten bei Freunden.

      * * *

      In der Zwischenzeit setzte sich das Katz-und-Maus-Spiel mit dem Sozialamt fort. Wegen fortgesetzter Beschwerden durch Nachbarn stattete ihnen ab 1954 ein Sozialarbeiter jede Woche einen Besuch ab. Ein Eingreifen des Jugendamts konnte vorübergehend abgewendet werden, weil Delores Hall und Dorothy Harding regelmäßig vorbeischauten, putzten und die Wäsche der Kinder wuschen. Delores erinnert sich, wie sie eines Abends dort eintraf und feststellte, dass Al verschwunden war und die beiden Jungen gerade versuchten, sich ein Abendessen zu kochen. „Jimi briet Eier, und als er mich sah, setzte er ein breites Grinsen auf und sagte: ‚Ich mach was zu essen!‘“ Viele der Haushaltspflichten blieben an Jimi hängen, der noch keine zwölf Jahre alt war, sich aber bereits um seinen Bruder kümmern musste. „Jimi war Leons Beschützer“, erinnert sich Pernell Alexander. „Er tat, was er konnte, damit es Leon an nichts fehlte.“

      Schließlich stellte aber ein Sozialarbeiter Al Hendrix zur Rede, und keine noch so schnelle Aufräumaktion der Tanten konnte die Verwahrlosung, in der Leon und Jimi lebten, länger kaschieren. Al wurde vor die Entscheidung gestellt: Entweder seine Söhne würden in Pflegeheime gesteckt oder zur Adoption freigegeben. Obwohl sie in entsetzlichen Zuständen lebten, kannten sie es nun mal nicht besser und flehten Al an, sie nicht zu trennen. Al traf jedoch eine Entscheidung, die ihr Leben rasch ändern sollte: Er argumentierte, Jimi solle, da er fast schon ein Teenager war und weniger Fürsorge bräuchte, bei Al bleiben. Leon, Als Liebling, sollte unter staatliche Obhut gestellt werden. Der Sozialarbeiter stimmte dem Vorschlag zu, erklärte Al aber, Leon müsse sofort mitkommen. „Nehmen Sie ihn nicht jetzt schon mit“, bettelte Al. „Ich bring ihn morgen ins Heim.“ Es war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen die Jungen ihren Vater weinen sahen. Der Sozialarbeiter gab nach, und Leon erhielt eine Nacht als Gnadenfrist.

      In jener Nacht, von der alle glaubten, es sollte ihre letzte zu dritt werden, zeigte sich Al ungewöhnlich zärtlich. Den einzigen körperlichen Kontakt, den die Jungen von ihm kannten, war ein Schulterklopfen oder ein Händeschütteln.


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