Jimi Hendrix. Charles R Cross
als ein Streicheln mit seinen zerfurchten Handballen. Es war eine merkwürdige Art, Zuneigung zu zeigen, aber sowohl Jimi als auch Leon wussten diese Augenblicke der Zärtlichkeit zu schätzen. Nachdem der Sozialarbeiter gegangen war, verbrachte Al den Großteil des Abends damit, ihnen mit den Fingerknöcheln über die Schädel zu streichen, als ob dies den Schmerz, den seine Söhne durchgemacht hatten und der noch vor ihnen lag, hätte lindern können.
Sowohl Leon wie auch Jimi waren niedergeschlagen, als Al Leon am nächsten Tag wegbrachte, doch die Veränderung entpuppte sich als unerwartet undramatisch.
Leon wurde nur sechs Straßenecken entfernt bei Pflegeeltern untergebracht, und er und Jimi blieben tagsüber unzertrennlich. „Entweder bin ich nach Hause zu Dad und hab da mit Jimi gespielt“, erinnert sich Leon, „oder Jimi ist zu mir gekommen. Eigentlich waren wir nie getrennt.“ Arthur Wheeler, Leons Pflegevater, bestätigt diese Geschichte. „Jimi war ständig bei uns“, sagt Wheeler. „Er hat mehr oder weniger regelmäßig bei uns gegessen.“
Obwohl Arthur und Urville Wheeler sechs eigene hatten, nahmen sie bereitwillig bedürftige Kinder auf und versorgten manchmal bis zu zehn Kinder gleichzeitig. Sie waren strenggläubige Kirchgänger und lebten nach der Lehre der Bibel, indem sie alle ihre Kinder, auch die Pflegekinder, gleich behandelten. Auch Jimi wurde inoffiziell zu einem ihrer Pflegekinder. „Jimi war öfter bei uns als bei seinem Dad“, erinnert sich Doug Wheeler, einer der Söhne der Wheelers. „Jimi blieb oft über Nacht, damit er am nächsten Tag vor der Schule bei uns frühstücken konnte. Er hätte sonst vielleicht nichts zu essen gekriegt.“ Jimi und Leon konnten es kaum fassen, dass es in der Küche der Wheelers immer etwas zu essen gab und dass eine Obstschale auf der Küchenanrichte stand. Jimi jammerte ständig: „Ich wünschte, ich dürfte dort wohnen.“ Im Prinzip tat er es bereits.
Trotz seines turbulenten Lebens fehlte Jimi überraschend selten in der Schule. Er war kein glänzender Schüler, aber seine Noten waren passabel, und in Kunst erwies er sich als viel versprechend begabt. Er fertigte in seinem Heft unzählige Zeichnungen von Dingen an, die alle Jungs in der Regel zeichnen: fliegende Untertassen und Rennwagen. Autos interessierten ihn so sehr, dass er verschiedene Entwürfe zeichnete und an die Ford Motor Company sendete. Im Herbst versuchte es Jimi auf Als Drängen hin mit dem Football. Sein Trainer war Booth Gardner, der Jahrzehnte später Gouverneur von Washington wurde. „Er war kein Athlet“, erinnert sich Gardner. „Er war nicht gut genug für eine Sportlerkarriere. Ehrlich gesagt war er nicht mal gut genug, um einfach so zu spielen.“ Jimi war außerdem kurzzeitig Mitglied der Pfadfinder, der Boy Scout Troop Sixteen.
1955, als Jimi zwölf Jahre alt war, wuchs sein Interesse für Musik noch einmal schlagartig, als er bei einem Talentwettbewerb an der Leschi-Schule Jimmy Williams „Wanted“ von Perry Como singen hörte. „Ich hab sehr viel Applaus bekommen“, erinnert sich Williams. „Nach der Vorstellung kam Jimi zu mir und sagte: ‚Wow, du wirst mal berühmt. Bist du dann immer noch mein Freund, wenn du berühmt bist?‘“ Jimi hatte – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – beobachtet, wie sich Menschen auf der Bühne verändern und wie die Bühne einen so schüchternen Jungen wie Jimmy Williams in einen Entertainer verwandelt hatte. Es war eine Lektion, die sich Jimi Hendrix zu Herzen nahm.
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Im Central District in Seattle beteuern viele Familien, Jimi habe regelmäßig bei ihnen zu Mittag und zu Abend gegessen. Zu Hause bei seinem Vater war Jimi damals kaum anzutreffen, vielmehr lebte er schon aus praktischen Gründen von der Güte der anderen Mitglieder der afroamerikanischen Gemeinschaft. Der Beitrag der Wheelers und vieler anderer zu Jimis Wohlergehen darf nicht unterschätzt werden. Sie ermöglichten ihm buchstäblich das Überleben.
Keine Familie hat jedoch über die Jahre mehr für Jimi Hendrix getan als die der Hardings. Auntie Doortie, wie er Dorothy Harding nannte, hatte Lucille während der Wehen beigestanden, hatte Jimis Windeln gewechselt und sich ständig versichert, dass es ihm gut ging. Jimi bezeichnete Dorothy Harding als seine Tante, aber im Vergleich zu den anderen Frauen in seiner Umgebung, einschließlich seiner leiblichen Mutter, war sie vielleicht am ehesten so etwas wie eine Mutter für ihn. Wenn Auntie Doortie Jimi eine Weile lang nicht sah, spürte sie Al in einer seiner Stammkneipen auf und beschimpfte ihn, was regelmäßig vorkam. Sie war die einzige Frau, von der sich Al diese Art von Kritik gefallen ließ.
Harding zog als allein erziehende Mutter neun eigene Kinder groß und ging außerdem gleichzeitig zwei verschiedenen Jobs nach. Ab 1955 arbeitete sie tagsüber bei Boeing an der Nietmaschine, eilte dann nach Hause, wo sie für ihre Kinder kochte, bevor sie zu ihrem zweiten Job als Hausmädchen bei einer wohlhabenden weißen Familie ging. Die Familie Harding bewohnte eine Dreizimmerwohnung im Rainier Vista, und während der fünfundzwanzig Jahre, die sie dort lebte, schlief Dorothy auf dem Sofa im Wohnzimmer und überließ ihren Kindern die beiden Schlafzimmer. Obwohl sie hart zu kämpfen hatte, achtete Dorothy stets darauf, dass ihre Kinder genug zu essen bekamen und sauber aussahen. Sonntags besuchten sie alle gemeinsam die Saint Edward’s Catholic Church. Oft wurden sie von Jimi begleitet, dem dieses Ritual sehr zu gefallen schien, wenn auch vielleicht nur, weil ihm der Kirchgang mit den anderen das Gefühl gab, zu einer echten Familie zu gehören.
Die älteren Harding-Söhne übernahmen bei zahlreichen Gelegenheiten die Rolle als Jimis Beschützer. „Es gab eine stille Übereinkunft, dass ihn die anderen in Ruhe ließen, wegen uns“, erinnert sich Melvin Harding. „Er war kein Kämpfer. Er war still und hatte ein Lächeln, das jeden weich machte.“ Jimi war introvertiert, wirkte sogar niedergeschlagen. „Er war extrem sensibel“, meint Ebony Harding. „Er hat nie gesagt, dass er seine Mom oder seinen Dad vermisst, aber man hat’s ihm angemerkt. Er hat viel geweint.“
An einem Abend bei den Hardings machte Jimi eine Bemerkung, die allen Anwesenden – welche die Geschichte übereinstimmend erzählen – derart prophetisch erschien, dass sie übersinnliche Kräfte am Werk vermuteten. „Er sagte zu mir: ‚Ich werde weit, weit weg gehen. Und ich werde reich und berühmt sein, und dann sind alle neidisch auf mich‘“, erinnert sich Dorothy Harding. „Er sagte, er würde das Land verlassen und nie wieder zurückkommen. Darauf meinte ich, er dürfe so was nicht machen und mich hier allein lassen. Er antwortete: ‚Nein, Auntie Doortie, dich nehm ich mit.‘“ An dem Abend lachten die Harding-Kinder Jimi wegen der Theatralik, mit der er das verkündete, aus.
In den Gutenachtgeschichten, die sich die Harding-Kinder untereinander erzählten, gab es einen weiteren prophetischen Hinweis. Obwohl Jimi die Harding-Söhne immer am meisten bewundert hatte, sollte Shirley den größten Einfluss auf seine Zukunft haben. Als eines der älteren Mädchen war sie dafür verantwortlich, ihre jüngeren Geschwister zu Bett zu bringen. Sie deckte alle zu, dämpfte das Licht und saß dann im Flur zwischen den beiden Schlafzimmern. Von dieser Position aus gab sie allabendlich eine Vorstellung, die Jimi außerordentlich faszinierte. Sie erzählte Geschichten, „erfundene Geschichten“, wie Jimi meinte, und er war verrückt nach ihnen.
In den Gutenachtgeschichten kamen stets drei Figuren vor: Bonita, Audrey und Roy. Ihre Namen änderten sich nie, obwohl sich ihre Charaktere Nacht für Nacht weiterentwickelten. „Manchmal gemahnten sie an die Fabeln von Äsop“, erinnert sich Ebony Harding, „manchmal gab es eine moralische Lehre.“ Wenn jemand an einem Tag besonders freundlich gewesen war, erzählte Shirley die Geschichte so, dass alle wussten, dass sie von dieser Person handelte. Wenn jemand etwas falsch gemacht hatte, wurde er oder sie als Bonita, Audrey oder Roy in die Geschichte eingebaut, die Missetat erzählt und erklärt. Jimi gab regelmäßig das Rohmaterial für die Figur Roy ab. Die Wohnung der Hardings sauber zu halten war eine niemals endende Plackerei, und Jimi übernahm so oft die Aufgabe, die Küche zu fegen, dass es auffiel und er in den Geschichten zu „Roy, dem Besenboy“, wurde. Shirley ließ Roy, Bonita und Audrey viele Erfolge und Niederlagen erleben, aber keine machte der Familie – und vor allem Jimi – mehr Spaß als die Geschichte von Roy, der einmal als Gitarrist groß herauskommen würde. „Roy wurde reich und berühmt mit seiner Besengitarre“, erzählte Shirley die Geschichte. „Von überall her kamen Leute, um ihn spielen zu hören. Er wurde so reich, dass er in einem langen schwarzen Cadillac herumfuhr. Er war immer glücklich. Er hatte haufenweise Geld, aber er hat immer noch die Küche geputzt und den Boden gefegt und das Geschirr abgewaschen.“ Und das war die Moral von der Geschichte: Auch