Deep Purple. Jürgen Roth

Deep Purple - Jürgen Roth


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Eltern (und mit einem einzigen „A-Level“, in Musik) die Schule abzubrechen und eine Stelle als Bürobote in einer Anwaltskanzlei anzutreten, wirft ein ziemlich helles Licht auf Lords Charakter und Persönlichkeit: Was auch immer an luftigen Ideen im Kopf anderer Siebzehnjähriger herumschwirren mag – und im Jahr 1958 schwirrte da zwischen „Great Balls Of Fire“ und „Jailhouse Rock“ eine Menge –, war für John nur interessant, wenn es sich mit einer gewissen Beständigkeit und Ernsthaftigkeit verbinden und in konkrete Ergebnisse umsetzen ließ.

      Freilich wäre unsere Geschichte hier zu Ende, wenn das alles wäre. Indes schwirrte auch im Kopf des Anwaltsgehilfen einiges herum. Er schrieb sich als Mitglied in die Leicester Little Theatre Group ein, nahm an Busfahrten zu Aufführungen außerhalb der Stadt teil und stand ab und zu, wenn es die Freizeit hergab, auch selbst in kleinen Rollen auf der Bühne.

      Die Musik ließ ihn sowieso nicht los. Jeden verfügbaren Penny trug er in Plattenläden, um Aufnahmen klassischer Komponisten zu erstehen. Dort drang eines Tages etwas ganz und gar Unklassisches an sein Ohr: eine Platte von Jerry Lee Lewis. Die ersten vier Takte von „Whole Lotta Shakin’ Going On“ verdrehten ihm, wie er später sagte, den Kopf. Allerdings focht den Musikforschenden offenbar keineswegs die rebellische Anmutung der halbstarken Hüftschüttelmusik an, sondern die Musik selbst, die sich einfach nicht reproduzieren ließ, wiewohl er doch Noten und Akkorde kannte: „Wie ein Wahnsinniger versuchte ich es hinzukriegen, daß das alte Klavier daheim genauso klang, aber es klappte nicht. Da ist mir klargeworden, daß im Rock ’n’ Roll mehr drinsteckt, als man hört.“

      Nun aber schwirrte Johns Kopf doch ziemlich. Die kleinen Rollen am Thea­ter wurden zudem mehr und größer, mit ein bißchen Textlernen war es da nicht mehr getan. Bald nach seinem neunzehnten Geburtstag platzte seinem Arbeitgeber der Kragen, als er mal wieder darum bat, früher gehen zu dürfen, weil er noch dies und das zu „erledigen“ habe. Längst wußte man dort, daß der Adoleszierende deshalb so oft unentschuldigt fehlte, weil er andere Sachen im Schilde führte; also bekam er frei. Mit der Maßgabe, gar nicht erst wiederzukommen.

      Inzwischen schrieb man 1960, und auch im traditionsversessenen Vereinig­ten Königreich schickte sich der Rock ’n’ Roll an, die Liga der Heuler und Schmachter von Johnny Ray bis Del Shannon langsam, aber energisch aus den Charts zu drängen. Was Chris Curtis derweil in Liverpool tat, wissen wir bereits – Jon Lord seinerseits war nun bereit, ein Stück von seiner Sicherheit hinzu­geben und sich auf Anraten eines Mitspielers der Theatergruppe von Leicester bei der Central School of Speech and Drama in London um Aufnahme zu bemühen, mit wenig Hoffnung zwar, doch erstaunlichem Ergebnis: Er wurde aufgenommen, sagte dem Elternhaus Lebewohl und zog zu Semesterbeginn im September in die Hauptstadt, um ernsthafter Theatermann zu werden. Nicht ganz aufs Geratewohl indes: Das hinzubewilligte Stipendium reichte für ein Ein-Zimmer-Apartment (zweiunddreißig Shilling die Woche) in Bayswater, und die Eltern trugen ihr gelegentliches Scherflein bei, den Sohn vor Hunger und Verwahr­losung zu bewahren. Die Bühnenbegeisterung weichte jedoch Johns Sicherheitsdenken noch ein bißchen weiter auf. Als sich 1962 einige seiner Dozenten dem verstaubten Altbetrieb entzogen, um eine eigene Schule zu gründen, das London Drama Center, war der gerade volljährig Gewordene dabei – und weil es dafür vom Staat kein Geld mehr gab, beschloß er, seine Tastenkünste unterhaltsichernd einzusetzen.

      Es war ein hartes Brot. Mutter Lord schickte dem Sohn ein wöchentliches Pfund, eine billigere Wohnung ohne Warmwasser in Archway nördlich der Londoner Innenstadt sorgte für weitere Kostensenkung, aber die Kneipenauftritte mit der Jazzcombo des Saxophonisten Bill Ashton brachten eine so kärgliche Gage ein, daß der hungernde Dramastudent seinen Nahrungs- und Getränkebedarf vornehmlich auf Partys decken mußte. Auf einer solchen traf er 1963 Derek Griffiths, den Gitarristen der nach ihrem Bassisten benannten Don Wilson Combo (Schlagzeuger Reg Dunnage vervollständigte das Trio), die Hochzeitsfeiern, Bar-Mizwas und Sommerfeste in Sportklubs beschallte und nebenbei unter dem Aliasnamen Red Bludd & His Bluesicians bei Wochenendsausen im Club The Flamingo und auf diversen US-Luftwaffenstützpunkten aufspielte. Zweiteres erschien John künstlerisch attraktiver, aber ersteres brachte dringend notwendiges Geld, und als sich Bandleader Wilson auch noch bereit erklärte, ihm eine für zeremonielle Gelegenheiten unerläßliche Orgel zu finanzieren, war John dabei.

      Mit dem neuen Mann waren die Bluesicians bald der heißeste Feger in Stadt und Umland, zumal sich die Hauptkonkurrenz, die Art Wood Combo, im Herbst 1963 auflöste und ihren Anführer begleitungslos zurückließ. Art bot den Bluesicians an, für ihn zu arbeiten; sein Terminplan und sein Adreßbuch versprachen einen erheblichen Schritt in Richtung Vollbeschäftigung. Als kurz darauf Don Wilson mit seinem Auto samt Bandanlage auf dem Londoner Nordring in einen Lastwagen krachte und zwar lebendig, aber auf längere Sicht spiel­unfähig aus dem Schrotthaufen hervorkroch, waren auch eventuelle Führungsstreitereien mit einem, ähem, Schlag vom Tisch. Malcolm Pool ersetzte ihn als Bassist. Die Bluesicians waren als neue Art Wood Combo nun konkurrenzlos und beschlossen, Berufsmusiker zu werden.

      Weil Schlagzeuger Reg ein solches Unternehmen zu riskant erschien, sollte die Gelegenheit am Schopf gepackt und auch er durch einen neuen Mann ersetzt werden, der vor allem eine Qualifikation mitbringen mußte: Aus der neuen musikalischen Welthauptstadt Liverpool hatte er zu stammen, denn dort, so schlossen die Neuprofis aus der aktuellen Hitparadenstatistik messerscharf, kam man mit einer genetischen Disposition zur Welt, die das große Absahnen unausweichlich machte. Der Mann, der schließlich gefunden wurde, hieß Keef Hartley und stammte bloß aus Preston (gut vierzig Luftlinienkilometer weiter nördlich) – aber immerhin hatte sein Schlagzeugvorgänger bei Rory Storm & The Hurricanes den klingenden Namen Ringo Starr getragen, und Hartleys Neigung zur freien Improvisation kam dem Jazzliebhaber Lord sehr entgegen.

      Am 1. Oktober 1964 war es mit der Bürgerlichkeit für Jon, der mit der Umbenennung der Band in The Artwoods auch gleich das h aus seinem Namen strich, zumindest beruflich endgültig vorbei – die Live-Tretmühle begann sich zu drehen. Mit höchstens drei freien Tagen pro Monat rumpelte der Liefer­wagen der Artwoods über die britischen Landstraßen und hielt einmal die Woche vor dem Londoner 100 Club. Dort lernte Jon Lord eines Abends eine rundliche, ziemlich wüste Gestalt namens Graham Bond kennen. Bond, um 1961 einer der meistgepriesenen jungen Bebop-Saxophonisten des Landes, hatte inzwischen auf Orgel umgesattelt, mit John McLaughlin (Gitarre, später durch den Saxophonisten Dick Heckstall-Smith ersetzt), Jack Bruce (Baß) und Ginger Baker (Schlagzeug) die Band The Organisation gegründet und den Jazz an den Nagel gehängt, um auf den anrollenden Rhythm-’n’-Blues-Zug aufzuspringen und der Obskurität von Hochzeitsfeiern und Tanztees zu entkommen – mit ziemlichem Erfolg. Er riet Lord, der mittlerweile vom Piano an die ursprünglich nur für festliche Anlässe gedachte Hammondorgel gewechselt war (woraufhin sich die Band für einige Zeit The Great Organ-ised nannte), es ihm nachzutun. Nötig dafür seien lediglich die Anschaffung einer wuchtigen Leslie-Box mit rotierenden Lautsprecherhörnern und eine gehörige Portion Verve, um sich in die schwarze Musik, die Säle, Zuhörer und Unterleibe zum Kochen bringt, wenn schon nicht einzufühlen, dann doch wenigstens reinzuschmeißen.

      Lord war von dem schrulligen Kerl hingerissen: „Graham Bond hat mich, Hand aufs Herz, das meiste gelehrt, was ich über die Hammondorgel weiß.“ Er tat, wie ihm empfohlen, und noch mehr: „Ich packte Bach und Tschaikowsky in meine Soli; ich glaube, das hat den anderen ziemlich Angst gemacht.“ Die Artwoods verfeinerten ihren Rhythm & Blues nach und nach immer mehr, und in ihrer Karriere ging es mit Riesenschritten voran. Die erste Single „Sweet Mary“ (eine Leadbelly-Coverversion), am 30. Oktober 1964 auf Decca erschienen, durften sie im Fernsehen präsentieren, und zwar bei einer echten Premiere, wie Derek Griffiths später erzählte: „Wir waren schon ein paarmal bei Ready, Steady, Go aufgetreten, das damals in einem Studio produziert wurde – man hampelte einfach zum fertigen Playback herum. Eines Tages hieß es, die Sendung werde künftig an verschiedenen Orten live produziert und heiße nun Ready Steady Goes Live. Als wir wieder mal in einer Londoner Telephonzelle standen und unseren Manager anriefen, um zu erfahren, wo wir in der nächsten Zeit spielen sollten, sagte er, wir dürften in der ersten dieser Live-Sendungen auftreten. Wir dachten, das ist der Durchbruch, und hüpften wie in einem Kriegstanz um die Zelle herum. Immerhin hatten wir ja inzwischen sogar eine Platte in den Läden. Es kam der Tag der Sendung. Tom Jones mit seiner Hasenpfote an der bewußten Stelle brachte ‚It’s Not Unusual‘, allerdings sang er nicht live,


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