Deep Purple. Jürgen Roth

Deep Purple - Jürgen Roth


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Kleinstadt einhundertsechzig Kilometer westlich von London – dort, wo der Severn in den Bristolkanal fließt und wo auch der von Ritchie später sehr bewunderte John Cleese von Monty Python herstammt. Am anderen Ufer beginnt Wales, da liegt die Hauptstadt Cardiff, außer Bristol die einzige größere Stadt im Umkreis von fünfzig Kilometern. Als Richard zwei war, pack­ten seine Eltern die Koffer und zogen in die Vorstadt Heston, westlich vom Londoner Zentrum (und keine fünf Minuten von Jimmy Pages Elternhaus entfernt, was vorläufig noch keine Rolle spielte). Papa Lewis ging arbeiten, Mama Violet hütete das Haus; ­Ritchie verlebte eine etwas ärmliche, aber zumindest materiell sorglose Kindheit. Er besuchte die Heston Senior High School und war ein, wie man so sagt, „mittelmäßiger“ Schüler – was heißt: Wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, besuchte er schon mal den Unterricht, aber Hausaufgaben und Lernziele interessierten ihn so sehr wie die Schuhgrößen mongolischer Polit­büromitglieder. In Leibeserziehung immerhin hatte Richard seine Stärken: „Ich war der Schulchampion im Speerwerfen und bald auch der Beste in London und Middlesex. Mit dreizehn wollte ich englischer Meister werden und zu den ­Olympischen Spielen, aber ich war zu jung.“ Und auch wenn es um Fußball ging, war er dabei.

      Aber sein soziales Verhalten nährte erzieherische Sorgen: Er war verschlossen bis verstockt, schüchtern wie ein Reh am Tag, undurchschaubar selbst für die Eltern, eigenbrötlerisch, sarkastisch, stur, frühreif und erfüllt von einem diffusen Zorn, der sein Alter weit überragte. „Ich fühlte mich von allen verarscht“, meint er rückblickend. „Ich habe mich nicht angestrengt, und ich fühlte mich nicht akzeptiert. Das war irgendwie auch gut, weil ich mich dann immer wieder hinter irgendwas geklemmt habe, um denen zu zeigen, daß ich auch zu etwas fähig bin. Das war die Motivation: den Leuten zu beweisen, daß ich was wert bin und nicht irgendein Idiot.“ Freude machte ihm wenig, am meisten ein gelungener Streich; die boshafte Energie hinter seinen „practical jokes“ war Eltern wie Lehrern ein Rätsel. Was in ihm brannte, war der regelrecht unbedingte Wille, mehr zu sein, als er ist und sein soll, und verdienen sollte es ihm die Kunst.

      Im britischen Fernsehen liefen Mitte der fünfziger Jahre die ersten Popshows, in denen der kleine Ritchie Leute sah, die in der Tat mehr waren, als sie waren. Einer davon war Tommy Steele, der erste „eingeborene“ britische Rock’n’Roller. Was der in der Samstagabendshow Six Five Special anstellte, raubte Ritchie den Atem: „Ich wollte so rumhüpfen wie Tommy Steele. Ich dachte: Der geht einfach auf die Bühne und amüsiert sich – das will ich auch!“ Zufällig besaß sein Schulfreund Victor Hare eine Gitarre, und Ritchie lieh sich das Ding aus. „Ich stand da und schlug in die Saiten“, berichtete er später, „und konnte überhaupt nichts spielen, aber es sah einfach gut aus. Dieses Instrument, dachte ich, muß ich lernen.“

      Und schon hatte die Hestoner Schule ihre eigene Band: The 2 i’s Coffee Bar Junior Skiffle Group, derart ungelenk benamst nach einem bevorzugten Abendtreffpunkt für Londons echte Rock’n’Roller in der Old Compton Street (wobei es zur Juniorabteilung auch noch eine Oberstufenband gab). Mit Hare an der Gitarre, Ritchie am „Baß“ (einer Teekiste mit einem Besenstiel und einer Schnur als Saite), ein paar Trällermädels und der skiffleüblichen Perkussionsabteilung aus Snare Drum und Waschbrett (auf dem man mit Fingerhüten herumschrappt) imitierte die Schülercombo aktuelle Hits von Lonnie Donegan, so gut es ging: „Wir waren zwanzig Leute, und nur zwei konnten überhaupt spielen.“

      Nicht gut genug für Ritchie. Der forderte eine schwarze Framus-Akustik­gitarre, für die sein Vater acht Pfund hinblätterte. „Er sagte: ‚Wenn du nicht lernst, das Ding anständig zu spielen, werde ich es auf deinem Kopf zertrümmern!‘ Acht Guineen waren damals viel Geld, zumal er annehmen mußte, ich würde es wie immer machen: mir keine Mühe geben.“ Papa Blackmore meldete ihn bei einem Lehrer an, und der Sohn unterzog sich ein Jahr lang klassischen Lektionen – ein Schritt, der, wie er später selbst feststellte, sein ganzes weiteres Leben prägen sollte: „Ich lernte, wie man für jeden Bund einen eigenen Finger benützt, nicht nur drei, und wie man das Plektrum richtig hält. Es ist sehr wichtig, wenn man ein Instrument spielen lernt, die Sache von Anfang an richtig zu machen, denn wenn sich erst mal ein paar schlechte Angewohnheiten eingeschlichen haben, wird man sie nie wieder los. Die meisten Blues-Gitarristen benutzen zum Greifen nur drei Finger, ich alle fünf.“

      Im Werkunterricht („Das einzige, was mich in der Schule interessierte, war Technik, Elektrokram und so“) bastelte Ritchie an seiner Framus herum, nagelte drei selbstgedrehte Tonabnehmer drauf und zimmerte sich aus dem alten Zwei-Watt-Röhrenradio seines Vaters einen kleinen Verstärker, der beim ersten „Auftritt“ in der Schule (wobei laut seiner Erinnerung der Beifall die Band von Anfang an übertönte) prompt versagte: Als Ritchie sein Gitarrenkabel direkt in die Steckdose schob, flog die Hauptsicherung raus, und der Gig war zu Ende.

      Stunden über Stunden saß der, wie er selbst meint, „unbegabte“ Junggitarrist, der seine Lernprozesse nicht gern öffentlich abhielt, zu Hause und übte mit allem, was er an Sturheit aufzubringen vermochte. Viele Jahre später wird er Ian Gillan beim Bier gestehen, es habe ihn sehr belastet, daß er als Kind nie gelobt worden sei. Der Beste wollte, mußte er werden, es allen zeigen: „Das war meine Art, auf die Lehrer und das System zu reagieren. Man war entweder drin oder draußen, ein As in Mathe oder sonstwas oder weg vom Fenster. Also sagte ich: Gebt mir eine Gitarre, und ich beweise euch, wie gut ich bin!“

      Ende der Fünfziger war Heston keine uniforme englische Vorstadt mehr, sondern, wie der ganze Londoner Vor-Westen, Brutstätte einer überdurchschnittlichen Masse von Rockmusikern und Bands, die ab 1960 landesweit abräumten (oder es später tun würden) und einander zwar nur in seltenen Fällen persönlich kannten, in der Phantasie des Teenagers aber Konkurrenten waren, die es aus dem Weg zu räumen galt. Ritchie heißt nicht Lee, Page, Miller, Beck, Hill, Scott wie gleichaltrige Gitarrenkollegen und im allgemeinen der gesichtslose Mann auf Englands Straßen; nein, er trägt den Namen des angloromantischen Schwartenromanciers Richard Doddridge Blackmore (1825 bis 1900), der zufällig nur vier Kilometer von Heston entfernt in Teddington gelebt hat, und sein diffuser Hang zum altehrwürdigen Kulturgut, der vierzig Jahre später merkwürdigste Blüten treiben sollte, trieb ihn vorderhand zur Eile. Nicht aufhalten mochte sich der Immer-noch-Anfänger mit lahmen Etüden. Die Klassiker wollte er spielen, und zwar gleich („Da hab’ ich mir was vorgemacht“, sah er retrospektiv ein). Allerdings nur als Mittel zum Zweck: „Ich liebe diese Musik nicht wirklich, nur die Disziplin, die nötig ist, um sie zu spielen.“

      Sein Lehrer war anderer Meinung, was das Curriculum betraf. Wenn ­Ritchie das häusliche Üben grundständiger Basisgitarristik und anspruchsvoller Segovia-Zupfetüden verweigerte (und geständig war), schickte er ihn ununterrichtet wieder fort: „Ich bringe dir nichts mehr bei, wenn du nicht übst. Geh heim und übe!“ Das steigerte Ritchies Eile indes nur – er kurbelte das Zeug herunter, so schnell es irgend ging. Dem Lehrer, der seines Schülers Fingern mit den Augen bald kaum mehr zu folgen vermochte, standen die Haare zu Berge: Solch Tempo­meierei sei seelenlos, bemängelte er beharrlich. Aber es war halt seelisch nichts zu wollen für den Unterforderten, und endlich sah’s der Pädagoge ein, lobte die flinke Benützung des kleinen Fingers, die, das wußte auch er, andere Gitarristen wegen dessen Druckempfindlichkeit und unvermeidlich stechender Juckschmerzen gern unterlassen. Wer das freiwillig hinnimmt, dachte er, dem kann man nicht helfen.

      Und Ritchie wurde nun erst einmal für einige Zeit sein eigener Lehrer. Das besessene Üben half ihm auch, den Dampf abzulassen, den seine eingebaute Zornturbine nach wie vor produzierte. „Wenn ich was spielen konnte, konnte ich es auch richtig schnell spielen“, sagte er später. „Erst mit zwanzig hab’ ich versucht, ein bißchen langsamer zu werden. Ich wußte, daß ich zu schnell spiele, aber ich war einfach nervös. Langsam spielen fiel mir ungeheuer schwer, einen Ton halten, ein paar Takte lang – ich dachte: Mein Gott, ich kann das nicht, ich bin so nervös.“

      Mit fünfzehn erlebte er die erste „echte“ Band auf der Bühne, Nero & The Gladiators im Southall Community Center: „Meine Lieblingsband, die Stars schlechthin, sie waren unglaublich.“ Frühe Eindrücke prägen, wie man weiß, am stärksten – noch über vierzig Jahre danach behauptet Blackmore, dieses Konzert sei ihm von allen Auftritten anderer Künstler, die er je gesehen habe, am stärksten im Gedächtnis geblieben. Daß The Gladiators als „alte Römer“ vermummt vor ihr Publikum traten, sollte ihn später


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