Deep Purple. Jürgen Roth

Deep Purple - Jürgen Roth


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Gesamteindruck unter/wirkt phasenweise regelrecht mitreißend; musikalische Mängel: Ist das schwächste Glied in der Vanilla-Fudge-Kette/setzt den Verzerrer zu oft und zu aufdringlich ein/spielt zuweilen grobschlächtig“), Carmine Appice (Schlagzeug; „musikalische Mängel: keine“), Mark Stein (Akkordeon, Gitarre, Piano, Cembalo, Orgel; „effektreicher, kraftvoller und zugleich subtiler Organist/Sänger mit Soul im rechten Sinne; zeigt zuwenig Virtuosität auf der Orgel“) und Tim Bogert (Klarinette, Flöte, Saxophon, Piano, Schlagzeug, Baß; „aufregender, exakter Bassist und genialer Arrangeur“). Sie schleppen sich durch monströs laute, produktionstechnisch von Shadow Morton bombastisch aufgedonnerte Versionen simpler Standards, aus denen Wagenladungen von „Bedeutung“ quellen. Oder, um noch mal pop zu zitieren: „Was dabei herauskam, stellte eine zähflüssige musikalische Sauce dar.“ Ihr drittes Album, The Beat Goes On, das größtenteils aus unerheblichen Fetzenversionen des gleichnamigen Sonny-Bono-Schlagers besteht, würzen sie mit historischen Tondokumenten, wodurch eine „historische Bewußtheit“ hineinzieht ins Gedröhn und Geplänkel. Der Erfolg ist enorm: „In den Geräuschen der Vanilla Fudge hat die auf dem Underground basierende Popmusik einen nie erahnten Gipfelpunkt erreicht. In puncto Instrumenten­beherrschung und Präzision schweben die Fudge in musikalischen Höhen, welche sonst nur ganz auserwählte Vertreter der klassischen und jazzigen Musik kennen.“ So zu lesen Anfang 1969 in einer „Underground-Fibel“, die offensichtlich unter erheblichen Überdosierungen von Afri-Cola oder wenigstens der dazu­gehörigen Reklametexte entstand.

      Wahrgenommen wird der Erfolg der „zähflüssigen“ Heavy-Sauce auch in der britischen Szene respektive ihrer Außenstation Hamburg, wohin viele vom psychedelischen Gebims in der Heimat überforderte, beruflich eher traditionell und „bodenständig“ orientierte Musiker geflohen sind, weil dort die Nachfrage nach dem überholten Beat immer noch floriert und auf überkandideltes Getue aber kein Wert gelegt wird. Es wäre eine grob falsche Einschätzung, wollte man behaupten, Ritchie Blackmore und Jon Lord wären vom musikalischen Niveau her nicht in der Lage, die elfenbeinernen Kompositions- und Improvisationstürme zu „begreifen“, die da erbaut werden. Wahrscheinlich ist es eher genau umgekehrt, in jedem Fall jedoch spielt, was ihr Verständnis für pseudofuturistischen Schwurbelklang anbelangt, das Wollen eine größere Rolle als das Können.

      Und die Wahrnehmung. „Vanilla Fudge spielten im Speakeasy“, erinnerte sich Ritchie Blackmore 1991, „und da hingen immer die ganzen Hippies rum – Clapton, die Beatles, jedermann ging da hin zum Posieren. Der Legende nach war zu jener Zeit Hendrix das große Thema in der Stadt, aber das ist nicht wahr. Es waren Vanilla Fudge. Sie spielten Achtminutensongs, mit viel Dynamik. Die Leute fragten: ‚Was zum Teufel passiert hier? Wieso dauert das nicht drei Minuten?‘ Timmy Bogert, ihr Bassist, war der Wahnsinn. Die ganze Band war ihrer Zeit weit voraus.“

      „Heavy“ übrigens sind Blackmore zufolge schon Bach und Beethoven gewesen, und zwar „so unglaublich heavy, daß es auf der Welt nichts Vergleichbares gibt“, und darum, das wird er in den nächsten Jahren nimmermüde betonen, liegen seine musikalischen Wurzeln auch weder im Mississippidelta noch in der Tin Pan Alley, sondern: „in Deutschland“.

      Doch müssen wir, ebenso wie die Herren Curtis, Lord und Blackmore, die Musik noch für eine Weile aus den Augen lassen und uns mit personellen Wirren herumschlagen.

      Chris Curtis’ Vorstellungen sind im Dezember 1967 dabei, weiter zu entgleisen: Einen Bassisten, meint er, braucht es überhaupt nicht, schließlich verfüge man über eine Orgel (vorläufig mal wieder nur im Kopf), und diese habe Pedale für tiefe Töne. Statt der üblichen Hoch-tief-Gitarrenklammer erträumt er eine Bühnenkonstruktion, die ähnlich funktioniert wie ein Karussell: In der Mitte stehen oder sitzen Lord, Blackmore und er selbst, außenrum kreisen wechselnde Trommler und Sänger, die sich mit ihm, der nun doch auch ein bißchen trommeln und auf jeden Fall singen möchte, „Duelle“ liefern.

      Jon Lord wird der Zirkus schnell wieder zuviel. Glücklicherweise ist er immer noch Flowerpot-Men-Begleitmusiker und als solcher über Weihnachten zu einem Gastspiel in München geladen. „Als ich gerade zum Taxi rennen wollte, klingelte das Telephon. Das kam selten vor, und wenn, ging es normalerweise um Arbeit. Diesmal war Tony Edwards dran: ‚Ich weiß nicht, was mit Chris Curtis los ist‘, sagte er, ‚aber wenn du zurück bist, müssen wir uns unterhalten.‘ Das war ein Schlüsselmoment in meinem Leben.“ Es war, wie er später zu betonen nicht müde wird, „der eigentliche Beginn von Deep Purple“.

      Als Lord wieder in London ist, besteht die rudimentäre Roundabout-Besetzung nur noch aus Ritchie Blackmore. Curtis ist verschwunden, angeblich nach Liverpool; niemand weiß es. Im Grunde weiß niemand mehr so recht, ob Curtis überhaupt wirklich existiert. Jon Lord wird sich später erinnern, er sei schon bei der allerersten Session nicht mehr dabeigewesen, Ritchie Blackmore will laut einem 1972er Interview noch im April 1968 in Dänemark mit ihm zusammengespielt haben; danach sei er rausgeflogen, weil er so schlecht gewesen sei. Da täuscht er sich – oder den Interviewer. „Chris wurde immer seltsamer“, sagt Black­more, „bis ich irgendwann dachte: Was ist hier eigentlich los?“ Seinen Plan, mit einer richtigen Band in der Londoner Szene Fuß zu fassen, möchte er so leicht nicht aufgeben, aber vorläufig steht mal wieder ein Job in Hamburg an.

      Tony Edwards, der inzwischen ebenfalls ganz froh ist, daß Chris Curtis von der Bildfläche verschwunden ist, setzt nun ganz auf Jon Lord. Er schickt dem alleinstehenden Restmusiker ein Telegramm und bietet ihm an, die Zusammenarbeit fortzusetzen, das heißt: überhaupt erst richtig zu beginnen, wenn Lord eine neue Roundabout-Besetzung auf die Beine stellt. Den Termin für ein diesbezügliches Gespräch allerdings nimmt Jon Lord nicht wahr, und zum erstenmal sind auch Edwards und John Coletta bereit einzusehen, daß die ganze Sache ein Hirngespinst war.

      Ein paar Wochen später steht dann plötzlich Jon Lord in ihrem Büro und erklärt, er habe es sich überlegt und wolle doch mitmachen. Die vakante Bassistenstelle ist schnell besetzt. Jon Lord fragt seinen Garden-Kollegen Nick Simper, ob er bereit sei, „auf das ganze Geld zu verzichten, das wir von den Flowerpot Men regelmäßig bekamen, hundertfünfzig Pfund oder so, um für ein minimales Gehalt zu tun, was wir wollten – ich war sofort dabei!“ Bis Februar 1968 stehen noch Flowerpot-Men-Auftritte an; inzwischen geht aber schon mal ein neues Telegramm an Blackmore in Hamburg, und zwei Tage später trifft man sich bei Nick Simpers Eltern (wo Nick und Jon Lord inzwischen untergekommen sind) und bespricht das weitere Vorgehen.

      Nick Simper versucht, seinen ebenfalls für die Flowerpot Men tätigen Freund Carlo Little als Drummer in das Projekt hineinzumanövrieren, erfährt aber von Jon Lord, als Schlagzeuger sei schon Bobby Woodman vorgesehen. Der ist so etwas wie Littles Idol und die Sache für diesen damit erledigt, ebenso wie für Simper: Auch der hält Woodman für den Größten seines Fachs. Blackmore hat Woodman, der zuletzt in Frankreich mit Tony Halliday unterwegs war, Anfang Januar im Londoner Musikerstammlokal Speakeasy getroffen und gefragt, ob er mitmachen will. Vorspielen muß er nicht – sein Ruf ist gut genug, und überdies spielt er als erster englischer Schlagzeuger mit zwei Baßtrommeln, was für ­Ritchie Blackmores Heavy-Rock-Vorstellungen nicht ganz unwesentlich ist.

      Ende Februar 1968, nachdem Lord und Blackmore als Gäste auf Boz Burrells Single „I Shall Be Released“ ihre erste gemeinsame Platte eingespielt haben, machen sich Simper, Lord, Blackmore und Woodman, der sich seit seiner Zeit in der Band von Vince Taylor mit Künstlernachnamen Clarke nennt, ernsthaft an die Arbeit. „Wir waren nicht ganz sicher, was wir machen wollten“, sagt Simper, „aber wir wußten, daß es neu und anders wird. Wir waren vier Leute, es fehlte ein Sänger. Wir wollten jemanden, der jung ist, jugendlich aussieht, als Aushängeschild.“

      Tony Edwards mietet für Proben einen heruntergekommenen Hof bei dem Dorf South Mimms in Hertfordshire, ein paar Kilometer nördlich von London. Die Band zieht in Deeves Hall, das Hauptgebäude, Blackmore und Woodman sofort, da sie keine Wohnung in London haben, die anderen beiden eine Woche später. Die Gerätschaften werden in der Scheune untergebracht, und ­Blackmore nützt einen alten Bunker, um einen gewaltigen Vorrat an gebackenen Bohnen in Dosen und deutschen Kirschkuchen zu, ähem, bunkern. „Wir waren so glück­lich, endlich zusammen Musik machen zu können und auch noch ein festes Gehalt zu kriegen“, sagt er später. „Allerdings dachten wir auch, das geht vielleicht sechs Monate, dann kommen die Typen, die


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