Der schöne Sommer. Cesare Pavese
sah Amelia sie von der Seite an: »Was glaubst du eigentlich? Dass er mich angesteckt hätte?«
»Ich weiß nicht«, sagte Ginia.
»Der hat doch mehr Angst als ein kleines Kind«, presste Amelia zwischen den Zähnen heraus. »Der nicht. Aber der Herrgott straft. Die, die mir das Geschenk gemacht hat, ist schlechter dran als ich. Sie weiß es nur noch nicht, und ich lasse sie blind werden.«
»Eine Frau ist es?«, fragte Ginia leise.
»Es ist über zwei Monate her. Dieses Zeichen ist ein Geschenk von ihr«, und sie berührte ihre Bluse.
Den ganzen Abend lang versuchte Ginia, sie zu trösten, gab aber acht, sich nicht berühren zu lassen, und machte sich Mut mit dem Gedanken, dass sie nur Arm in Arm gegangen waren, mehr nicht, und übrigens erklärte Amelia ihr auch, man müsse eine Verletzung haben, um sich anzustecken, denn die Infektion sei im Blut. Außerdem war Ginia sicher, wagte aber nicht, es zu sagen, dass so etwas eben passierte, wenn man solche Sünden beging wie Amelia. Doch hier hörte sie zu denken auf, denn dann müssten ja alle krank sein.
Als sie die Treppe hinunterstiegen, sagte sie vielmehr zu ihr, sie dürfe sich nicht an jener Frau rächen, denn wenn sie nichts davon wisse, habe sie auch keine Schuld. Doch Amelia blieb auf der Treppenstufe stehen und unterbrach sie: »Soll ich ihr etwa einen Blumenstrauß schicken?« Sie verabredeten, sich am nächsten Tag im Café zu treffen, und Ginia schaute ihr mit klopfendem Herzen nach, während sie sich entfernte.
Doch am nächsten Tag hielt Ginia es nicht mehr aus. Sie verließ das Haus eine Stunde früher, als die Straßenlaternen noch brannten, und lief zum Atelier. Sie traute sich nicht, gleich hinaufzugehen, weil Rodrigues noch schlief, sondern spazierte in der Kälte unten auf und ab, sodass es ihr vorkam, als wälze sie sich noch im Bett. Doch dann stieg sie zitternd hinauf und klopfte an die Tür.
Rodrigues öffnete ihr im Schlafanzug, sah sie mit trüben Augen an, hüpfte durchs Zimmer und setzte sich wieder auf den Bettrand. Alles war schmutzig und hell wie immer, und Ginia begann zu stottern, und Rodrigues kratzte sich an den Fußgelenken, bis sie ihn schließlich fragte, ob er zum Arzt gegangen sei. Danach zogen sie gemeinsam über Amelia her, und Ginia regte sich so auf, dass ihre Stimme zitterte, während sie zur Seite blickte, um seine hässlichen Füße nicht sehen zu müssen.
Dann sagte Rodrigues: »Ich gehe wieder ins Bett, mir ist kalt«, drehte sich um und zog die Decken über sich.
Als Ginia ihm bebend gestand, dass Amelia sie geküsst hatte, fing er, im dämmrigen Licht auf den Ellbogen gestützt, zu lachen an und sagte: »Also sind wir Kollegen. Nur ein Kuss?«
»Ja«, sagte Ginia, »ist das gefährlich?«
»Was für ein Kuss?«
Ginia verstand nicht. Da erklärte er es ihr, und Ginia schwor, es sei ein Kuss unter Mädchen gewesen.
»Dummheiten«, sagte Rodrigues, »sei ganz ruhig.«
Ginia stand vor dem Vorhang und bemerkte auf dem Tisch ein schmutziges Glas und Orangenschalen. »Wann kommt Guido zurück?«, fragte sie.
»Am Montag«, antwortete Rodrigues. »Siehst du? Das ist ein Stillleben«, und er deutete auf das Glas.
Ginia lächelte und wandte sich um.
»Setz dich, Ginia. Setz dich hier aufs Bett.«
»Ich muss mich beeilen«, sagte Ginia, »ich arbeite doch.«
Doch Rodrigues beklagte sich, dass sie ihn geweckt hatte und ihm jetzt nicht einmal Guten Morgen sagen wollte. »Um zu feiern, dass wir der Gefahr entronnen sind«, sagte er.
Da setzte sich Ginia auf die Bettkante, unter den weit geöffneten Vorhang. »Ich habe Angst um Amelia«, sagte sie. »Die Ärmste. Sie ist verzweifelt. Wird man wirklich blind?«
»Aber nein«, sagte Rodrigues, »man wird wieder gesund. Sie werden sie von allen Seiten zerstechen, werden ihr ein paar Stückchen Haut herausschneiden, und du wirst sehen, zuletzt geht dieser Arzt noch mit ihr ins Bett. Glaub mir.«
Ginia unterdrückte ein Lächeln, und Rodrigues fuhr fort: »Hat er euch auf den Hügel mitgenommen?«, und streichelte beim Sprechen ihre Hand, als wäre es der Rücken einer Katze.
»Was für kalte Hände«, sagte er dann, »warum kommst du nicht und wärmst sie dir?«
Ginia ließ sich auf den Hals küssen und sagte: »Nehmen Sie sich zusammen«, dann stand sie auf, über und über rot, und lief davon.
XIV.
Am Abend kam auch Rodrigues ins Café und setzte sich an den Nebentisch, auf Ginias Seite.
»Wie geht es mit der Stimme?«, fragte er, weder ernst noch lachend.
Ginia versuchte gerade, Amelia zu trösten und ihr zu erklären, dass man wieder gesund werden könne, war aber froh, nicht weiterreden zu müssen. Rodrigues und sie sahen einander kaum an.
Auch Amelia schwieg, und Ginia wollte schon nach der Uhrzeit fragen, als Rodrigues ironisch sagte: »Tüchtig, tüchtig, du verführst also auch minderjährige Mädchen.«
Amelia verstand nicht sofort, und Ginia schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, hörte sie Amelias drohende Stimme: »Was hat diese dumme Gans dir erzählt?«
Doch Rodrigues hatte Mitleid, denn er sagte: »Sie ist heute früh gekommen und hat mich geweckt, um mich zu fragen, wie es dir geht.«
»Sie hat wohl zu viel Zeit«, sagte Amelia.
Ginia bemühte sich in jenen Tagen, besonders gut zu sein, damit Guido wirklich zurückkäme, und besuchte auch Rodrigues wieder. Nicht mehr im Atelier, weil die Erinnerung sie abschreckte und Rodrigues außerdem ein Langschläfer war, sondern mittags in der Trattoria, in der er aß und in der auch Guido essen würde. Sie lag auf dem Weg, den die Straßenbahn nahm, und Ginia sah für einen Augenblick bei ihm vorbei, scherzte mit ihm und erkundigte sich, ob es Neuigkeiten gebe. Sie machte es wie Amelia und zog ihn auf. Aber Rodrigues hatte verstanden und rührte sie nicht mehr an. Sie verabredeten, dass sie am Sonntag ins Atelier kommen würde, um für Guido ein bisschen sauber zu machen. »Uns Syphilitikern«, sagte Rodrigues, »graut vor gar nichts.«
Amelia dagegen ging nicht mehr hin. Ginia verbrachte den Samstagnachmittag mit ihr und begleitete sie zu dem Arzt, der ihr die Spritzen gab. Sie blieben unentschlossen an der Tür stehen, und schließlich sagte Amelia: »Komm nicht mit hinauf, sonst findet er bei dir auch noch irgendeine Krankheit.« Dann sprang sie rasch die Stufen hoch und rief ihr noch »Ciao Ginia« zu, sodass Ginia, die vorher so fröhlich gewesen war, verzweifelt nach Hause zurückkehrte. Nicht einmal der Gedanke, dass Guido in einem Tag wieder da sein würde, konnte sie ausreichend trösten.
Auch der Sonntag verging wie im Traum. Ginia blieb den ganzen Nachmittag im Atelier und fegte, putzte, räumte auf. Rodrigues versuchte erst gar nicht, sie zu belästigen. Er half ihr, Berge von Papiertüten und Obstschalen wegzutragen. Dann klopften sie den Staub von den Büchern im Kamin ab und stellten sie in einer Reihe auf eine Kiste. Als sie die Pinsel auswuschen, hielt Ginia einen Augenblick entzückt inne: Der Terpentingeruch erinnerte sie an Guido, als stünde er neben ihr. Sie lächelte, weil Rodrigues nicht verstand.
»Er hat Glück, der Schweinehund«, sagte Rodrigues, als Ginia fertig war und mit dem Handtuch hinter dem Vorhang hervortrat. »Das hätte er nie erwartet.«
Dann tranken sie am Ofen Tee und blätterten einige Mappen von Guido durch, die sie unter den Büchern gefunden hatten, aber Ginia war enttäuscht, denn es waren nur Landschaften und der Kopf eines Alten. »Warte nur«, sagte Rodrigues, »ich weiß, was du suchst.«
Nach einer Weile begannen die Zeichnungen von Frauen. Sie sahen wie Modeskizzen aus. Ginia betrachtete sie belustigt, denn es war die Mode von vor zwei Jahren. Dann kamen weibliche Akte zum Vorschein. Dann kamen nackte Männer, und Ginia blätterte rasch um, weil Rodrigues, der an der Wand lehnte, sich vorbeugte. Zuletzt kam wieder eine angezogene Frau, ein Mädchen mit quadratischem, bäuerlichem Gesicht, Kopf und