Der schöne Sommer. Cesare Pavese

Der schöne Sommer - Cesare Pavese


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Bei dem, was du verdienst.«

      Ginia sprang vom Sofa auf: »Dieses Jahr sind wir nicht auf den Friedhof gegangen.«

      »Ich war allein dort«, sagte Severino. »Tu nicht so, du weißt es ganz genau.«

      Doch Ginia hatte es nur so dahingesagt. Ohne das bisschen, das sie verdiente, hätte sie sich nichts mehr zum Anziehen leisten und keine Gummihandschuhe kaufen können, um beim Spülen die Hände zu schonen. Und für das Parfüm, den Hut, die Cremes, die Geschenke für Guido hätte sie kein Geld mehr gehabt, sondern wäre eine Arbeiterin gewesen wie Rosa. Was ihr fehlte, war Zeit. Sie brauchte eine Arbeit, die nur den Vormittag in Anspruch nahm.

      Andererseits hatte eine Beschäftigung auch ihr Gutes. Was hätte sie an den Tagen ohne Guido getan, wenn sie mit ihren Gedanken hätte zu Hause sitzen oder den ganzen Tag draußen herumstreunen müssen? Sie hätte sich nur den Kopf zerbrochen. So dagegen kehrte sie am nächsten Morgen in die Schneiderei zurück, und der Tag ging vorbei. Sie lief nach Hause, kochte Severino ein schönes Abendessen und beschloss, ihn all die Tage gut zu behandeln, denn danach würden die Mahlzeiten tatsächlich ausfallen.

      Amelia ließ sich nicht blicken. Mehrmals war Ginia am Abend versucht auszugehen, erinnerte sich aber, dass sie sich selbst versprochen hatte, es nicht zu tun, und hoffte, Amelia werde sie besuchen. Einmal kam Rosa vorbei, die sich ein Kleid nähen wollte, um ihr den Schnitt zu zeigen, und Ginia wusste kaum noch, worüber sie mit ihr reden sollte. Sie sprachen über Pino, aber Rosa sagte nicht, dass sie nun einen anderen hatte. Sie beklagte sich vielmehr, dass sie sich tödlich langweile, und erklärte: »Was willst du? Wenn eine heiratet, hat sie das Nachsehen.«

      Ginia merkte, dass sie nicht mehr schlafen konnte, weil sie immerzu an Guido dachte, und wurde manchmal wütend, weil er nicht begriff, dass er wiederkommen musste. »Wer weiß, ob er Montag zurückkommt«, überlegte sie, »womöglich kommt er gar nicht.« Insbesondere hasste sie Luisa, die nur seine Schwester war und das Vergnügen hatte, ihn den ganzen Tag zu sehen. Eine solche Ungeduld erfasste sie, dass sie erwog, ins Atelier zu gehen, um von Rodrigues zu erfahren, ob Guido sein Wort hielt.

      Stattdessen ging sie ins Café und traf Amelia. »Wie war es am Sonntag?«, fragte sie sie. Amelia, die rauchte, lächelte nicht einmal und erwiderte langsam: »Gut.« – »Hat er dich nach Hause gefahren?« – »Natürlich«, sagte Amelia.

      Dann fragte sie: »Warum bist du weggelaufen?«

      »War er beleidigt?«

      »Ach was«, sagte Amelia und blickte sie starr an. »Er hat nur gesagt: Sehr witzig, die Kleine. Warum bist du weggelaufen?«

      Ginia fühlte, wie sie errötete: »Hör zu, er war lächerlich mit diesem Monokel.«

      »Dumme Gans«, sagte Amelia.

      »Und Rodrigues?«

      »Er ist gerade fort.«

      Sie schlenderten zusammen nach Hause, und Amelia sagte: »Heute Abend besuche ich dich.«

      An jenem Abend sprach keine davon, auszugehen. Als Ginia mit dem Abspülen fertig war, setzte sie sich auf den Rand des Sofas, auf dem Amelia sich ausgestreckt hatte.

      Eine Weile schwiegen sie, dann flüsterte Amelia mit ihrer rauen Stimme: »Sehr witzig, die Kleine.« Ginia schüttelte den Kopf und blickte zur anderen Seite. Amelia streckte den Arm aus und berührte ihre Haare. »Lass mich«, sagte Ginia.

      Mit einem tiefen Seufzer stützte sich Amelia auf den Ellbogen.

      »Ich bin in dich verliebt«, sagte sie heiser. Da drehte Ginia sich ruckartig zu ihr um. »Aber ich kann dir keinen Kuss geben. Ich habe Syphilis.«

      XIII.

      »Weißt du, was das ist?«

      Wortlos bejahte Ginia die Frage mit den Augen.

      »Ich wusste es nämlich nicht.«

      »Wer hat es dir gesagt?«

      »Hörst du nicht, wie ich spreche?«, fragte Amelia mit erstickter Stimme.

      »Kommt das nicht vom Rauchen?«

      »Das dachte ich auch«, sagte Amelia. »Aber der gute Mann vom Sonntag war Arzt. Schau.« Sie riss sich die Bluse auf und holte eine Brust heraus. Ginia sagte: »Das glaube ich nicht.«

      Die Brust zwischen den Fingern, hob Amelia den Blick und sah sie an: »Dann küss mich hier«, sagte sie langsam, »hier, wo die Entzündung ist.« Einen Moment lang starrten sie sich an, dann schloss Ginia die Augen und beugte sich über die Brust.

      »O nein«, sagte Amelia, »ich hab’ dich ja schon einmal geküsst.«

      Ginia merkte, dass sie schweißgebadet war, lächelte töricht und wurde feuerrot. Amelia schaute sie wortlos an.

      »Siehst du, wie dumm du bist«, sagte sie schließlich, »ausgerechnet jetzt hast du mich gern, wo du in Guido verliebt bist und ich dir egal bin.« Mit ihrer mageren Hand knöpfte sie sich die Bluse zu. »Sei ehrlich, dir liegt doch nichts mehr an mir.«

      Ginia wusste nicht, was sie sagen sollte, weil sie selbst nicht verstand, was sie da gerade hatte tun wollen. Doch dass Amelia sie ausschimpfte, freute sie, weil sie jetzt verstand, was die Aktzeichnungen, die Posen und ihr ganzes Gerede zu bedeuten hatten. Sie ließ Amelia ihr Herz ausschütten und fühlte sich die ganze Zeit elend, wie früher als Kind, wenn sie sich zum Baden auf dem Stuhl neben dem Ofen auszog.

      Doch als Amelia sagte, man erkenne die Krankheit am Blut, erschrak Ginia. »Wie wird das gemacht?«, fragte sie.

      Beim Erzählen war Amelia weniger verzweifelt, als wenn sie schwieg. Sie erklärte ihr, dass einem am Arm ein schwarzes Blut abgezapft werde, mit der Nadel. Sie sagte ihr, man müsse sich ausziehen und mehr als eine halbe Stunde in der Kälte sitzen. Der Arzt sei immerzu wütend gewesen und habe gedroht, sie ins Krankenhaus zu sperren.

      »Das kann er doch nicht«, sagte Ginia.

      »Du bist noch jung«, erwiderte Amelia. »Er kann mich sogar ins Gefängnis stecken, wenn er will. Du weißt nicht, was Syphilis ist.«

      »Aber woher hast du die bloß?«

      Amelia sah sie schief an. »Die holt man sich beim Liebemachen.«

      »Einer von beiden muss sie schon haben.«

      »Tja«, sagte Amelia.

      Da erinnerte Ginia sich an Guido und wurde so blass, dass sie kein Wort mehr herausbrachte.

      Amelia hatte sich aufgesetzt und hielt unter der Bluse die Brust mit der Hand umfasst. Sie starrte ins Leere, und so, ohne Schleier und verzweifelt, sah man deutlich, wie außer sich sie war. Ab und zu knirschte sie mit den Zähnen und zeigte das Zahnfleisch. Nicht einmal ihr Parfüm wirkte beruhigend.

      »Du hättest Rodrigues sehen sollen«, sagte sie plötzlich mit ihrer Stimme. »Ausgerechnet er, der gesagt hat, dass man blind wird und an Geschwüren stirbt. Er ist kreidebleich geworden bis zum Hals.« Amelia schnitt eine Grimasse, als wollte sie ausspucken. »Es ist immer das Gleiche. Er hat nichts.«

      Ginia fragte sie so hastig, ob das wirklich sicher sei, dass Amelia stutzte. »Nein, sei ganz ruhig, sie haben ihm Blut abgenommen. Nichtsnutze haben ein dickes Fell. Hast du Angst wegen Guido?«

      Ginia versuchte zu lächeln und schlug die Augen nieder. Amelia schwieg, schwieg eine Ewigkeit, dann sagte sie schroff: »Guido hat mich nie angerührt, sei ganz ruhig.«

      Da fühlte Ginia sich glücklich. So glücklich, dass sie Amelia die Hand auf die Schulter legte. Amelia verzog das Gesicht. »Hast du keine Angst, mich anzufassen?«, fragte sie. »Wir schlafen ja nicht miteinander«, stotterte Ginia.

      Ihr Herzklopfen legte sich allmählich, während Amelia von Guido sprach. Sie erzählte, dass sie und Guido sich nicht einmal geküsst hätten, denn man könne ja nicht mit jedem schlafen, Guido gefalle ihr schon, aber warum er auch Ginia gefalle, verstehe sie nicht, da sie doch beide blond seien. Ginia spürte, wie ihr wieder ganz warm wurde, und genoss


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